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23
08
2016

Olympiasieger Röhler - Unabhängig vom Primat des Goldes - Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©Victah Sailer

Olympiasieger Röhler – Unabhängig vom Primat des Goldes – Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Als er zu seiner Reise nach Rio aufbrach, war Thomas Röhler so aufgeregt wie noch nie vor einem Wettkampf. Er wusste, er war der beste Speerwerfer des Jahres, er hatte eine Muskelverletzung im Rücken überwunden, und er wollte sich beweisen.

 
Als der 24-Jährige im Olympischen Dorf auf seinen Wettkampf wartete, verwandelte sich die Vorfreude in Druck. Auf vielen Kanälen erreichte ihn die Dringlichkeit, mit der Erfolge, nein: Medaillen und Siege von den deutschen Leichtathleten erwartet wurden. 

Am Samstag hatten überraschend Christoph Harting die Goldmedaille im Diskuswerfen gewonnen und David Jasinski die Bronzemedaille – und dann war es eine Woche lang wie abgeschnitten. Am Samstag drauf sollte Röhler Olympiasieger werden. Eine Woche: viel Zeit für Ungeduld, viel Zeit, um aus dem eigenen Anspruch die Erwartung anderer werden zu lassen.

Röhler trat nicht an, um die deutsche Leichtathletik zu retten. Obwohl: Schon vor seinem Sieg hatte Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, geurteilt, die Leichtathletik sei in einem besorgniserregenden Zustand. „Klar werfe ich für Deutschland“, sagte Röhler und griff nach der Goldmedaille, die vor seiner Brust baumelte. „Aber ich werfe auch für Thomas Röhler den Speer weit.“

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Der erste Olympiasieg eines deutschen Speerwerfers seit dem von Klaus Wolfermann bei den Spielen von München 1972 ist für das Land, für den Verband und für den Sportler ehrenvoll. Er hätte nicht früher kommen können, doch er kommt zu spät. Längst sind die Konsequenzen gezogen, schon ist die Umstrukturierung der Leistungssport-Abteilung im Leichtathletik-Verband beschlossen, und die Ausrichtung der staatlichen Sportförderung zielt auf ein Drittel mehr Medaillen.

Diese Goldmedaille sei „extrem wichtig für alle, die auf Statistiken stehen“, sagte Röhler leicht distanziert. Zwar hat er das Studium in seiner Heimatstadt Jena abgeschlossen, das Sport mit Betriebswirtschaft verbindet. Doch persönlich hat der 24-Jährige sich unabhängig gemacht vom Medaillenzählen, vom Primat des Goldes als einzigem Ausdruck von Erfolg. „Vor einem Jahr habe ich eine Super-Serie geworfen und war Vierter“, erinnerte er an die Weltmeisterschaft von Peking. In unverstellter Freude über seine Leistung von 87,41 Meter und über den hochklassigen Wettbewerb, in dem er Platz drei um nur 23 Zentimeter verpasst hatte, versprach Röhler, dass er seine Holzmedaille feiern werde.

„Diesmal habe ich eine Super-Serie geworfen, und dieser eine Wurf war dabei, der diese Medaille hier gebracht hat.“

90,30 Meter warf Röhler, sein dritter Wurf des Jahres über neunzig Meter, die überragende Leistung des Abends. Thomas Röhler ist Realist. Deshalb ist es für ihn keine Metapher, wenn er sagt, dass er sich hohe Ziele stecke. Seit 2012 gewinnt er die deutsche Meisterschaft, und über die Jahre hat er sich daran gewöhnt, Favorit zu sein. Diese Rolle sei er nun bereit, auch international einzunehmen.

Der Athlet mit einer solch breiten Brust ist es gewohnt, trotz 1,90 Meter Länge und 90 Kilo Athletik in seinem Metier als schmächtig zu gelten. Nicht allein mit seinem schnellen Anlauf und seiner Explosivität ist Röhler den Kraftprotzen voraus. Akribisch und unkonventionell bereitet er seine Erfolge vor. Die Schlagzeile „Röhler zittert sich ins Finale“ amüsierte ihn, denn der Wurf von 83,01 Meter war Teil seines Plans.

Treppe verhalf zum Olympiasieg

Absichtlich hatte er in der Qualifikation lediglich so weit geworfen, wie er musste. Er nutzte seine drei Versuche dazu, sich mit den Bedingungen vertraut zu machen: der stehenden Luft im Olympiastadion, dem „jumpy“ Belag des Anlaufs, der enormen Höhe der Arena. Wie eine Halle wirke das Stadion, folgerte er, „niemand kann hier nur seine alten Bewegungsmuster abrufen“.

Und Röhler visiert tatsächlich ein Ziel hoch im Station an. Vielleicht mache dies nur ein Olympiasieger, sagte er, als er verriet, dass er zum ersten Besuch eines Stadions seine Kamera mitbringe. Vom Abwurf aus macht er ein hochauflösendes Bild von der gegenüberliegenden Kurve. Eine halbe Stunde lang suchten er und sein Tainer Harro Schwuchow darauf einen Fixpunkt, dann hatten sie eine markante Treppe gefunden.

Sie musste Röhler im Wettkampf finden, auf sie musste er mit dem 800 Gramm schweren Speer zielen, und er würde die perfekte Flugkurve nehmen. Nach dem vierten Versuch, der nur 84 Meter weit ging, legte sich Röhler auf den Rücken und blickte in den Nachthimmel über Rio, den ein Vollmond erhellte. „Ich musste bei mir bleiben“, erklärte er. „Ich hatte das Ziel aus den Augen verloren.“ Beim nächsten Wurf war er wieder bei sich, fand das Hilfsziel – und traf.

„Wir hatten extrem geile vierte Plätze“

Das war der Moment, daran zu erinnern, dass eben nicht alles in Gold und Medaillen gemessen werden könne. „Wir hatten extrem geile vierte Plätze“, sagte er und hatte damit das Gegengift für die große Depression in der Mannschaft von fast 90 Leichtathleten, die sich schon an das Abschneiden von Peking 2008 erinnern lassen muss, als Christina Obergföll mit Platz drei für die einzige Medaille der Leichtathletik-Auswahl sorgte.

Zehnkämpfer Kai Kazmirek und Weitspringerin Malaika Mihambo kamen tatsächlich auf Platz vier, Sprinterin Gina Lückenkemper erreichte das Halbfinale, die Siebenkämpferin Carolin Schäfer wurde Fünfte, und Hindernisläuferin Gesa Krause verbesserte als Sechste im Endlauf den deutschen Rekord. Das Abschneiden bei der sogenannten kleinen Europameisterschaft in Amsterdam drei Wochen vor Olympia mit fünf Titeln und 16 Medaillen hat offenbar die Maßstäbe verschoben, in der Priorität der Athleten wie bei den Erwartungen der Öffentlichkeit.

Im Nachhinein mag sich der Muskelfaserriss, der den Favoriten Röhler dort schon in der Qualifikation bremste, als Glücksfall erweisen. Zwei Wochen lang war der Speerwerfer zu Hause mit aktiver Reha beschäftigt, von Physiotherapie und Wickeln bis zu Gymnastik. „Ich kenne meinen Körper besser als vorher“, sagte er trocken über die Leidenszeit. Womöglich war sie die beste Vorbereitung auf den Triumph von Rio.

Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 22. August 2016

 

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