Die Olympischen Spiele haben ihr Gesicht verloren. Liu, der wohl bekannteste Chinese der Welt, steht – oder muss man sagen: stand? – mehr noch als der Basketballspieler Yao Ming für die Umgestaltung Chinas.
Olympia-Kommentar – Tränen für Liu, aber kein Mitgefühl – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Die Schmerzen des Helden: Liu Xiang
China weint. Nur so lässt sich beschreiben, was das Ausscheiden von Liu Xiang am Montag ausgelöst hat. Sein Trainer, Sun Haiping, stellte sich tränenüberströmt der Presse und musste sich von Cheftrainer Feng Shuyong zum Trost vor aller Welt tätscheln lassen. Zuschauer, Helfer und Journalisten waren erschüttert, gerührt und enttäuscht.
Der Einzige, der nicht zu Wort kam, war Liu Xiang. Dafür sprachen die Fernsehbilder für sich. Sie zeigten, wie Liu Xiang, offensichtlich nicht er selbst, Schmerz mit noch mehr Schmerz zu bekämpfen versucht, in dem er seinen Fuß gegen eine Wand schmettert, wie er zitternd eher seiner Erlösung als seinem Start entgegenfiebert.
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Liu stand für die Umgestaltung Chinas
Die Art der Verletzung, an der der Olympiasieger und Weltmeister und damit auch seine Trainer, seine Ärzte und sein Verband scheiterten, ist trotz wortreicher Erklärungen der Trainer nicht deutlich geworden. Entweder war es ein seit Jahren entzündeter Fuß, der zu sehr schmerzte, oder die Zerrung eines seit Jahren überbeanspruchten Oberschenkels oder beides. Ihm keine Pause zu gewähren ist verantwortungslos.
Er verkörpert den Aufbruch des Landes in die Marktwirtschaft, die Jagd nach dem persönlichen Wohlstand, auf die jeder Einzelne gehen kann; er muss sich nicht mehr ins Kollektiv fügen. Nun kann er den Spielen von Peking nicht mehr ihren großen chinesischen Moment liefern.
China hat ein Symbol gebraucht
Denn dafür wurde Liu Xiang gebraucht. Besser: Er wurde missbraucht. Deshalb sind die Tränen, die sein Ausscheiden auslöste, nicht mit Mitgefühl zu verwechseln. China hat ein Symbol gebraucht, und seine Olympischen Spiele sollten einen großen Moment haben. Dem weint Sun Haiping nach.
Späte Tränen, aber Mitgefühl?
Späte Tränen, aber Mitgefühl?
Die Olympischen Spiele mögen größer sein als jeder Einzelne, der an ihnen teilnimmt. Ob durch Doping, Kinderarbeit oder den Versuch, einen schwer verletzten Athleten zum Start zu zwingen: Sie sind allerdings nicht jedes Opfer wert.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 18. August 2008