Angesichts von mindestens 60 000 Erdbebentoten sind auch außerhalb Chinas die bisherigen olympischen Streitthemen wie Menschenrechte, Tibet-Politik oder Umweltprobleme in den Hintergrund getreten
Olympia-Fackellauf – Für das Vergessen – Benedikt Voigt im Tagesspiegel – Angesichts von mindestens 60.000 Erdbebentoten sind auch außerhalb Chinas die bisherigen olympischen Streitthemen wie Menschenrechte oder Tibet-Politik in den Hintergrund getreten. Dazu passend hat die Regierung die wichtigste Etappe des olympischen Fackellaufs in die Erdbeben-Region verlegt.
Niemand kennt den 100-Meter-Läufer auf Bahn acht, trotzdem erhält er vor seinem Viertelfinale tosenden Applaus. Der Stadionsprecher stellt ihn als „Xu Cheng“ vor, doch dieser Name lässt die Zuschauer im Nationalstadion von Peking kalt. Nicht aber die Provinz, aus der er stammt. Der Stadionsprecher hebt die Stimme und ruft: „Aus Sichuan.“ Großer Beifall brandet auf.
Das Leichtathletikfest „China Athletics Open“ an diesem Wochenende sollte als Generalprobe für die Olympischen Spiele an gleicher Stelle dienen. Jetzt wird es vollkommen vom Erdbeben in Sichuan überschattet. Ebenso wird es den Olympischen Spielen (8. bis 24. August) in Peking ergehen. „Die Spiele sind von vielen Menschen unterstützt worden, einschließlich der Opfer des Erdbebens“, sagte Wang Hui, Sprecherin des Pekinger Organisationskomitees (Bocog), „ihre Unterstützung werden wir nicht vergessen, und wir werden während der Spiele an sie erinnern.“
In welcher Form das geschehen wird, ist unklar. Einige Bocog-Offizielle verweigerten in der letzten Woche Interviews zu diesem Thema. „Wir können noch nichts sagen, schauen Sie auf unsere Webseite“, sagte Bocog-Mediendirektor Li Zhanjun. Gegenwärtig gibt es bereits Gespräche mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), um bei der Eröffnungsfeier den Opfern des Erdbebens zu gedenken. „Das Protokoll für eine IOC-Zeremonie ist sehr streng und formal, und das muss es auch sein“, sagte IOC-Vizepräsident Kevan Gosper der Nachrichtenagentur AP, „aber für einen solchen Fall, der das Gastgeberland betrifft, glaube ich, hat der IOC-Präsident ein offenes Ohr und wird die Vorschläge des Pekinger Organisationskomitees anhören.“
Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele 2002 in Salt Lake City war den Opfern des 11. Septembers gedacht worden. Soldaten hatten die löchrige US-Fahne ins Stadion getragen, die auf dem zerstörten World Trade Center geweht hatte. Neben einem ähnlichen Gedenken schlugen chinesische Blogger vor, dass ein Überlebender des Erdbebens als letzter Fackelläufer die Olympische Flamme im Stadion entzünden solle.
Angesichts von mindestens 60 000 Erdbebentoten sind auch außerhalb Chinas die bisherigen olympischen Streitthemen wie Menschenrechte, Tibet-Politik oder Umweltprobleme in den Hintergrund getreten. Wichtiger sind nun Nachrichten, wie jene, dass keine olympischen Athleten aus Sichuan getötet oder verletzt worden sind, ihre Trainingsstätten aber geschlossen werden mussten. „Das Erdbeben hat die Berichterstattung über die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele vorübergehend an den Rand gedrängt“, sagte Phelim Kine von der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ gegenüber AP, „aber die Berichterstattung und der Fokus wird in den nächsten Tagen und Wochen zurückkehren.“ Der chinesischen Regierung und dem Pekinger Organisationskomitee, dürften daran gelegen sein, dass dem nicht so sein wird.
Helfen dürfte ihnen dabei, dass der Fackellauf durch Sichuan in die besonders beachtete Eröffnungswoche der Olympischen Spiele verlegt worden ist. Die vorletzte Etappe des Laufes, der außerhalb Chinas von Protesten begleitet worden ist, führt nun vom 3. bis 5. August durch die vom Erdbeben erschütterte Provinz.
Nach dem Erdbeben hatte das Organisationskomitee den Fackellauf zunächst unverändert weiterlaufen lassen. Doch Jubelbilder Fahnen schwenkender, fröhlicher Menschen hatten viele Chinesen im Internet erzürnt kommentiert. Während der dreitägigen Staatstrauer in der vergangenen Woche ist der Lauf erstmals unterbrochen worden. Inzwischen wird er mit einer Schweigeminute, Spendensammlungen und symbolischen Gesten zum Gedenken an die Erdbebenopfer weitergeführt.
Doch es ist offenbar nicht einfach, die richtige Form des Gedenkens zu finden. Der chinesische Basketballstar Yao Ming löste in der vergangenen Woche im Internet ein „Protest-Erdbeben“ aus, wie die Internetseite „mop.com“ schrieb. Er hatte für die Erdbebenopfer 45 500 Euro gespendet. Zu wenig, fanden viele Chinesen, der Centerspieler der Houston Rockets ist vom „Forbes-Magazin“ zum reichsten Chinesen der letzten fünf Jahre erklärt worden, allein im letzten Jahr hat er 34,85 Millionen Euro verdient. „Er würde es gar nicht merken, wenn von seinem Konto 500 000 Dollar verschwänden“, beschwerte sich ein Fan. Dass der 2,29 Meter große Centerspieler in der Vergangenheit zahlreiche Hilfsorganisationen und die Special Olympics der Menschen mit Lernschwierigkeiten unterstützt hat, erwähnte er nicht. Inzwischen hat Yao Ming seine Spende auf 132 000 Euro erhöht.
Seinem Image hat die Spendenaffäre nicht gut getan. Applaus wird er dennoch bekommen. Gut möglich, dass die attraktiven eineiigen Zwillinge Jiang Tingting und Jiang Wenwen bei den Olympischen Spielen nun einen ähnlich großen Applaus bekommen werden wie der Basketballstar. Ihre Chancen auf eine Medaille im Synchronschwimmen stehen gut. Außerdem stammen sie aus Sichuan.
Benedikt Voigt im Tagesspiegel, Sonntag, dem 25 Mai 2008