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Molly Seidel - 2020 Tokyo Olympic Games Tokyo, Japan July 29-August 8, 2021 - Photo: Jiro Mochizui@PhotoRun Victah1111@aol.com www.photorun.NET

Olympia Tokio 2020 – Laufen ist nur ein Prozess von vielen. Erkenntnisse nach den Marathons von Sapporo – Von KLAUS BLUME

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Eigentlich wollten wir an dieser Stelle gemeinsam mit dem zweimaligen Olympiasieger Waldemar Cierpinski die olympischen Marathonläufe in Sapporo erläutern, und Cierpinski sollte uns per Telefon dazu seine Eindrücke und Erkenntnisse aus Japan schildern, doch daraus wurde nichts.

Wegen Corona blieb der 71jährige daheim in Halle an der Saale. Also springen wir in die Bresche und versuchen es an seiner Stelle.

Was hat uns an den olympischen Marathonläufen von Sapporo am meisten überrascht und beeindruckt?

Bei den Frauen zweifelsohne der dritte Rang der so gut wie kaum bekannten Amerikanerin Molly Seidel; bei den Männern  – hinter dem nun zweimaligen Olympiasieger Eliud Kipchoge aus Kenia – zwei Medaillengewinner aus den BeNeLux-Staaten Niederlande und Belgien: Abdi Nageeye und Bastier Abdi. Als wir uns über Molly Seidel erkundigen wollten, erhielten wir übrigens als Antwort stets eine Frage: „Molly, who?“

Sprachen wir früher mit amerikanischen Kollegen über den Langstreckenlauf der Frauen in ihrem Lande, nannten sie stets stolz die beiden Lauflegenden Joan Benoit Samuelson (Olympiasiegerin 1984) und Deena Kastor (Silbermedaille 2004). Nun werden sie wohl auch Molly Seidel in diesen erlauchten Kreis aufnehmen.

Ein „Underdog“, der schon im dritten Marathon seines Lebens ins internationale Scheinwerferlicht lief. Verrückt, was?

Eigentlich hätte man ja schon im letzten Herbst auf Molly S.  aufmerksam werden müssen, als sie bei kaltem und nassem Wetter den London Marathon nicht nur als Sechste beendete, sondern auch noch in der beachtlichen persönlichen Bestzeit von 2:25:13 Stunden! Spätestens damals musste es eigentlich jedem klar gewesen sein, dass dieses 26jährige Mädel aus Wisconsin noch viel, viel schneller laufen könnte – wenn es denn der Kurs ermöglichen würde . . .

Sie liebe das Gefühl des Marathons, sagte sie jetzt in Sapporo. Wörtlich: „Ich liebe dieses langsame Mahlen und das Zusammenrücken am Ende. Es unterscheidet sich sehr von einigen der kürzeren Rennen. Aber ich liebe es noch immer, kürzere Sachen zu machen, und ich hoffe, auch künftig wieder kürzere Rennen laufen zu können; schon, um mir eine gewisse Schärfe fürs Laufen zu erhalten.“

Bekannt geworden war Molly Seidel zuvor vor in der amerikanischen Szene als eine durchaus talentierte aber leider allzu oft auch von Essstörungen geplagte Athletin. Deshalb war das Erstaunen vor 18 Monaten groß, als sie es ins amerikanische Team für Tokio 2020 geschafft hatte. Als ihr nun mit dem Gewinn der Bronzemedaille der große Coup in Sapporo geglückt war, sagte sie: „Ich versuchte, nicht mit allzu vielen Erwartungen in das olympische Rennen zu gehen. Es war also einfach, meine Nase dorthin zu stecken, wo sie eigentlich gar nicht hingehört hatte und damit einigen Leute wütend zu machen. Mein Ziel war es, dass die Leute denken: Wer zum Teufel ist dieses Mädel?“

Ja, wer ist dieses 26jährige Mädel überhaupt? Unbekannt war sie jedenfalls gar nicht, als sie jetzt in Sapporo an der Startlinie stand. Denn schließlich hatte sie die USA zuvor schon einige Male bei internationalen Einsätzen bravourös vertreten: Bei den Cross-Wettbewerben 2012, 2013 und 2017 im schottischen Edinburg. Also: Mit Molly Seidel ist immer zu rechnen. Im Gelände, auf der Bahn, in der Halle und auch auf der Straße.

Zwei Freunde aus Mogadishu

Der Belgier Bashir Abdi hatte sich ursprünglich für den olympischen 10 000-Meter-Lauf qualifiziert, sich dann aber auf den Marathon konzentriert. Der 1989 in Somalia geborene Athlet hatte jedoch einen komplizierten Start ins Leben. Nach vielen Monaten in einem Flüchtlingslager kam er mit 13 Jahren  ins belgische Gent und lebte dort in einer flämischen Familie. Eigentlich wollt er dort Fußball spielen. Das klappte jedoch nicht. Also probierte es Bashir mit Siebzehn in der Leichtathletik, wo er sich recht schnell für den Langstreckenlauf entschied. Mit Erfolg. Immerhin gewann er bei den Europameisterschaften 2018 in Berlin über 10 000 Meter die Silbermedaille. Danach begann er, sich auf den Marathonlauf zu konzentrieren.

Auch mit Erfolg: Im März 2020 wurde “Bash“ – bei seinem vierten Marathon – gleich zum zweitschnellsten Europäer der Leichtathletik-Geschichte. Denn jetzt trainierte er auch gemeinsam mit dem viermaligen Olympiasieger Mo Farah, der ebenfalls aus Somalia nach Europa gekommen war – doch die Qualifikation für Tokio 2020 verpasste.

Und Abdi Mageegye? Er und sein Bruder flohen vor dem Krieg in Somalia, als Abdi gerademal sechs Jahre alt war. Sie ließen sich vier Jahre lang in den Niederlanden nieder, zogen dann jedoch zurück auf die väterliche Farm in Afrika. Aber dann zog es ihn erneut in die Niederlande. Heute bescheibt er die Ereignisse seiner frühen Jahre als „die Lektionen, die mir geholfen haben, zu den jetzigen Ergebnissen zu kommen. Doch Laufen ist für mich nur ein Prozess von vielen.“

Heute lebt er gern im legendären kenianischen Trainingslager Kaptagat. Dort lerne er mehr übers Laufen als sonst irgendwo auf der Welt.

Klaus Blume
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