
Denkt, das DDR-System sei überwunden: Arne Gabius ©Horst Milde
Neues Spitzensportkonzept Goldesel – streck dich! Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Das Konzept zur Organisation des Spitzensports in Deutschland erinnert an Großmachtträume von damals. Nichts anderes zählt als Medaillen.
Unter Verzicht auf eine gründliche Analyse ihrer Stärken und ihrer Schwächen haben die Sportverbände und der Staat vor anderthalb Jahren angefangen, den olympischen Sport neu abzustecken. „Ich höre nur Gold, Silber und Bronze“, sagt Arne Gabius, der beste deutsche Marathonläufer. „Aber die DDR gibt es doch gar nicht mehr!“
Er hat, mit 35 Jahren in einer Disziplin, die von Läufern aus Ostafrika dominiert wird, nach den kommenden Maßstäben nicht die geringste Siegesperspektive und deshalb auch keinerlei Aussicht auf Förderung. Planwirtschaft erkennt der Berliner Gerd Janetzky, früher Veranstalter des Leichtathletik-Sportfestes Istaf und heute unter anderem Vorsitzender der Olympischen Gesellschaft Berlin, im neuen Konzept.
„Illusion der mathematischen Gleichung“
Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, nennt die jüngste Formel „die Illusion, dass Leistungssportförderung mit einer mathematischen Gleichung zu betreiben ist“. Er warne davor, Athleten dafür zu bestrafen, dass sie gegen Sportler verlieren, die nicht ordentlichen Doping-Kontrollen unterworfen sind.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière bietet dazu nur eine Antwort: Der Staat könne sich, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“, aus Sportarten, die strukturell dopingverseucht seien, zurückziehen. Er habe Zweifel, dass sie mit Steuergeld gefördert werden sollten.
Eine straffere Führung, mehr Medaillen, weniger Stützpunkte: Max Hartung, Säbelfechter, Olympiateilnehmer und Athletensprecher, vermisst das Wichtigste in den Dokumenten von Innenministerium und vom Deutschem Olympischen Sportbund (DOSB. „In dem Konzept ist allein von Effizienzsteigerung die Rede“, sagt er. „Von den Werten des Sports und der Begeisterung für den Sport habe ich nichts gefunden.“
Man braucht keine besonders feine Nase, um zu erkennen, dass die neue deutsche Sportordnung viel aus dem Land der Zweitakt-Autos und der Braunkohle-Heizungen hat. So stark war der DDR-Sport, auch durch systematisches Doping, dass sein Team bei den Sommerspielen von Seoul 1988 das der Vereinigten Staaten mit 37 Olympiasiegen und 102 Medaillen übertraf.
So groß war das Potential des DDR-Sports über die DDR hinaus, dass im Jahr drei der Einheit, bei den Sommerspielen von Barcelona 1992, die deutsche Olympiamannschaft auf nur vier Olympiasiege weniger kam (33/82). Aus dem Stolz von damals ist in 24 Jahren Grund zu der Klage geworden, dass es so nicht weitergeht. Das Signal, vom Lamento überzugehen zur Tat, gab de Maizière vor anderthalb Jahren im Interview mit der F.A.Z. „Wir gehören in die Spitzengruppe der Nationenwertung“, forderte er.
„Wir müssten eigentlich nach der Tradition in beiden deutschen Staaten und nach unserer Wirtschaftskraft, mit der wir den Spitzensport fördern, mindestens ein Drittel mehr Medaillen bekommen, vielleicht mehr.“
Doch Barcelona entpuppt sich als statistischer Ausreißer. Das Abschneiden in Atlanta 1996 (20 Olympiasiege/ 65 Medaillen), Sydney 2000 (13/56), Athen 2004 (13/49), Peking 2008 (16/41) und London 2012 (11/44) zeichnet die Rückkehr zur Normalität der Bundesrepublik nach. Dabei hat das vereinte Deutschland noch bei allen Spielen die alte Bundesrepublik übertroffen, die 1988 mit elf Olympiasiegen und 40 Olympiamedaillen Nummer fünf wurde hinter Südkorea.
In Rio vor wenigen Wochen konnte man sogar einen leichten Aufschwung konstatieren: 17 Olympiasiege, 42 Olympiamedaillen, Platz fünf. Doch die Fachleute verweisen aufs Kleingedruckte. Bei den vierten bis achten Plätze herrsche Flaute, Frankreich und Italien kämen gefährlich auf.
In anderthalb Jahren und in zehn Arbeitsgruppen haben mehr als hundert Fachleute den Plan entworfen, mit dem der Spitzensport in Deutschland neu aufgestellt werden soll. Kerngedanke ist, das Potential von Disziplinen und Athleten zu bewerten, nicht die Erfolge von Verbänden; Zukunft gilt mehr als Verdienst. Zudem sollen nicht Mitglieder des großen Sportklüngels die Perspektive beurteilen, sondern externer Sachverstand. Die Regeln sind eindeutig: Wer Medaillen versprechen kann, wird unterstützt. Wer nicht, muss sehen, wo er bleibt.
Als de Maizière und Alfons Hörmann, der Präsident des DOSB, Mitte der Woche die Reform im Sportausschuss des Deutschen Bundestages vorstellten, wurde deutlich: Vorbild für die Neuausrichtung ist UK Sport. Die britische Regierung gründete dieses unabhängige Gremium im Jahr nach dem Tiefpunkt der britischen Olympiamannschaft 1996 in Atlanta, wo sie einen einzigen Olympiasieg holte.
Seitdem führt UK Sport ein strenges Regime; in Bahnradsport und Leichtathletik wird sehr viel Lottogeld investiert, Basketball etwa ist rausgeflogen aus der Förderung. Der britische Spitzensport erlebt einen Aufschwung. In London 2012 wurden die Gastgeber mit 29 Goldmedaillen Nummer drei, in Rio mit 27 sogar Nummer zwei des Medaillenspiegels.
Wie Australien vor Sydney 2000 bediente sich auch Großbritannien auf dem Weg nach London 2012 sportfachlicher Kompetenz aus der DDR. Trainer, die im vereinten Deutschland keine Beschäftigung mehr fanden, trainierten zum Beispiel Ruderer und Radrennfahrer der Insel. Aus haushälterischen Gründen kann der Innenminister nicht eine Agentur wie UK Sport gründen und unterhalten.
Deshalb deklariert er die Ausrichtung an der Medaillenperspektive als Exzellenzinitiative; Bund und Ländern werden auf Basis der Analysen einer Potential-Kommission gemeinsam mit dem Sport entscheiden, wie die Aussichten von Athleten und Disziplinen zu bewerten und zu bezuschussen sind. Das letzte Wort hat der Minister.
„Ich glaube nicht, dass eine Zukunftsorientierung und die Beurteilung nach einer Vielzahl von Attributen erfolgreich sein werden“, sagt Wolfgang Maennig, Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied des siegreichen Deutschland-Achters 1988. „Ich sehe schon die Experten Konzepte schreiben, um Punkte zu ergattern. Durch die Exzellenzinitiative an den Hochschulen schreiben ganze Abteilungen nur noch Konzepte statt zu publizieren.“
„Exzellenz heißt Auszeichung“
Wer keine Aussicht auf Gold, Silber oder Bronze hat, fährt künftig nicht zu Olympischen Spielen. „Exzellenz heißt Auszeichnung“, führte de Maizière am Mittwoch aus. „Diejenigen, die exzellent sind, bekommen mehr Geld als die, die nicht exzellent sind. Wer diesen Weg nicht gehen will, soll die Finger lassen von der Spitzensportförderung.“
Im Gegensatz zu einigen Abgeordneten, die sich überrumpelt fühlten, gab sich Dagmar Freitag, die Vorsitzende des Sportausschusses, erleichtert, dass die öffentliche Diskussion darüber beginnen könne, was für einen Spitzensport Deutschland wolle.
Für den 19. Oktober hat sie eine öffentliche Anhörung anberaumt. Niemand weiß, wie viel noch geändert werden kann. De Maizière will das Konzept, sobald es von der Vollversammlung des DOSB im Dezember verabschiedet ist, dem Kabinett und dem Parlament zur Zustimmung vorlegen – eine Überraschung für alle Beteiligten. Womöglich will er die neue Linie ein Jahr vor der Wahl wetterfest machen. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er sein Programm durchpeitsche. Die Anschubfinanzierung, die er neuerdings schon für 2017 in Aussicht stellt, obwohl die Reform frühestens 2019 greifen kann, ist vielmehr Zuckerbrot für die Verbände. Sie brauchen bei einem Neubeginn Geld für die Abfindung von Personal.
Darf Sport staatlich unterstützt werden und, wenn ja, mit welcher Legitimation?“, fragt der Fechter Hartung.
Er tut das nicht als Athletensprecher, sondern als Verfasser einer Bachelorarbeit, die er Ende November abgeben will. Wer mit ihm darüber spricht, ob und mit welchem Ziel der Staat Sport zu einem öffentlichen Gut macht, realisiert schnell, dass die seit den sechziger Jahren bemühte gesamtstaatliche Repräsentation mittels Flaggen und Hymnen bei Olympia eine Argumentation von gestern ist.
„Olympia hat sein Alleinstellungsmerkmal verloren“, sagt Hartung, bald 27 Jahre alt. Er meint nicht nur neue Sportarten, Wettbewerbe und Verbreitungswege, er meint auch den Ansehensverlust, den Olympia dadurch erlitten hat, dass IOC-Präsident Thomas Bach die russische Mannschaft trotz Staatsdopings zugelassen, die Whistleblowerin Julija Stepanowa desavouiert hat und den Paralympics in Rio ferngeblieben ist. „Spitzensportförderung, gekoppelt mit Medaillen, ist kein ausreichendes Staatsziel“, sagt Hartung. „Außerdem ist der olympische Gedanke der, dabei zu sein.“
Staat und Sport, so scheint es, haben das Pferd von hinten aufgezäumt. Ihrer Reform fehlt die gesellschaftspolitische Dimension, die übergreifende Idee.
Der Judoka Dimitri Peters, Bronzemedaillengewinner von London, bereitete sich vier Jahre lang darauf vor, in Rio besser abzuschneiden. Dann ging der eine Startplatz, über den sein Verband verfügt, an seinen Trainingspartner Karl Richard Frey. Er kennt das Erlebnis, und er kennt die Enttäuschung. Vielleicht auch deshalb plädiert er dafür, diejenigen mitzunehmen zu den Spielen, die keine Medaillenchance haben.
„Man vertritt sein Land auf dem Höhepunkt. Da kommt es vor allem darauf an, wie man auftritt“, sagt er. „Wenn man kämpft, wenn man zeigt, dass man dazugehört, dass man ein würdiger Verlierer ist, dann muss man dort starten dürfen.“
Das meinte auch der Bundespräsident, als er die Olympiamannschaft bei ihrer Rückkehr in Frankfurt mit einem „Danke“ begrüßte. „Wir lernen von euch allen, nicht nur von den Medaillengewinnern“, sagt Joachim Gauck. „Sportler zeigen uns, was Menschen vermögen, wenn sie an ihre eigenen Potentiale glauben.“
Er sprach von seiner Sorge um die olympische Idee und warnte davor, Medaillen um jeden Preis gewinnen zu wollen. Da blitzte sie schon wieder auf, die DDR.
Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 5.10.2016