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12
01
2012

Nawal El Moutawakel über eine Generation, die ihren Namen trägt, Frauen und Sport in der arabischen Welt sowie Gefahren für die Jugend - "54,61 Sekunden haben ein Erdbeben ausgelöst" - Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©privat

Nawal El Moutawakel über eine Generation, die ihren Namen trägt, Frauen und Sport in der arabischen Welt sowie Gefahren für die Jugend – „54,61 Sekunden haben ein Erdbeben ausgelöst“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

    Die Marokkanerin gilt als mächtigste Frau des olympischen Sports. Sie war 22 Jahre alt, als sie in Los Angeles 1984 über 400 Meter Hürden erste Olympiasiegerin aus Afrika und aus einem muslimischen Land wurde. Heute leitet sie die Evaluierungskommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) für die Vergabe Olympischer Spiele und ist Ratsmitglied des Welt-Leichtathletikverbandes. Sie gilt als Kandidatin für die Nachfolge von IOC-Präsident Jacques Rogge.

    Als Sie Olympiasiegerin wurden, ordnete König Hassan II. an, dass alle Mädchen, die an diesem Tag geboren werden, Ihren Namen tragen. Gibt es eine Generation Nawal in Marokko?

    Ja, die gibt es. Es ist sehr schön, das zu erleben. Genauso gibt es viele Jungen, die nach Saïd Aouita benannt sind. Ich bin stolz, dass ich 1984 den Mädchen die Tür öffnen durfte.

    Haben Sie die Tür zu mehr als dem Sport geöffnet?

    Zu allen Facetten des Lebens in unserem Land, Wirtschaft, Politik. Marokkanische Frauen steuern Passagierflugzeuge, sitzen im Parlament und in der Regierung, sind Botschafter.

    Welche Rolle spielt der Sport im demokratischen Frühling der arabischen Welt?

    Sport ist universell. Jeder hat das Recht, Sport auszuüben und Sport zu organisieren, wenn er dazu gewählt ist. Sport gehört jedem einzelnen und allen. Man kann ihn niemandem wegnehmen. Heute sehen wir, dass es ein kollektives Bewusstsein davon gibt. Die Menschen verstehen seine Werte: Freundschaft, Exzellenz, Chancengleichheit. Die Sportorganisationen erneuern sich als Erste.

    Nehmen Sie für sich in Anspruch, nicht nur die Mädchen befreit zu haben, sondern auch die arabische Welt zu verändern?

    Ich nenne es eine kleine Evolution und eine kleine Revolution. Was diese 54,61 Sekunden von Los Angeles für ein Erdbeben ausgelöst haben! Als ich gewonnen hatte, fragte alle Welt, wer diese Frau aus Marokko sei, die ohne Schleier lief. Ich wurde nach meiner Religion und nach meinem familiären Hintergrund gefragt. Ich war ja nicht vom Himmel gefallen. Mein Vater war Judoka, meine Mutter spielte Volleyball. Alle meine fünf Brüder und Schwestern liefen 400 Meter Hürden. Unsere Familie war verrückt nach Sport. Ich war zur richtigen Zeit im richtigen Alter am richtigen Ort. Der Ostblock nahm nicht teil. Die 400 Meter Hürden waren neu für Frauen. Das war meine Chance.

    Die gescheiterte Bewerbung von Doha um die Leichtathletik-WM versuchte, genauso wie es die Olympiabewerbung von Qatar für 2020 tut, mit dem Argument zu überzeugen, sie bilde für die olympische Bewegung das Tor zur arabischen Welt. Ist das mehr als Rhetorik?

    Ob Qatar die Tür zur arabischen Welt geöffnet hat? Ja! 1997 hat mich Primo Nebiolo, der damalige Präsident des Welt-Leichtathletikverbands, nach Qatar geschickt. Sie sagten: Wir haben das Geld, wir haben die Entschlossenheit, wir wollen einen Grand Prix veranstalten. Aber ihr habt keine Frauen! Stellen Sie sich vor: Ich mitten im Stadion, drum herum 40 000, 50 000 Männer, und ich versuchte, den Ablauf zu organisieren. Das war außerordentlich schwierig. Aber ich lernte, dass diese Leute sehr bald größeren Ehrgeiz entwickeln würden. Alles, was ich verlangte, wurde sofort erfüllt. Das Hotel war erstklassig, die Anlagen waren erstklassig. Und sie waren bereit, zuzuhören und zu lernen. 1998 war ich wieder dort. Ich spürte, dass alles in gegenseitigem Verständnis und völliger Harmonie vonstattenging.

    Ging es Qatar um mehr als um ein weiteres Großereignis im Portfolio?

    Allerdings. Zeitgleich mit den Wettkämpfen haben Ilse Bechthold aus Frankfurt und ich ein Seminar für Frauen organisiert, die Sport treiben und sich im Sport engagieren sollen. Das gehört nicht zur Tradition dort. Marokko hatte bis 1984 darauf warten müssen, dass Frauen auf dem höchsten Niveau starten. Wir müssen diesen Ländern Zeit geben. Nicht zu viel, aber ausreichend Zeit, um Frauen trainieren zu lassen.

    Die Golfstaaten machen den Eindruck, dass es ihnen weniger darum gehe, die Gesellschaft zu verändern, als vielmehr den Mächtigen und Reichen Spielzeug wie Formel-1-Rennen, Fußballklubs und Sportveranstaltungen zu kaufen. Ist das kein Widerspruch?

    Es gibt dieses Phänomen in Dubai, Abu Dhabi, Qatar und vielen Golfstaaten. Sport wird als Werkzeug benutzt, um die Jugend zu gewinnen. Ich kann nicht sagen, ob dahinter eine nationale Strategie steckt. Aber es ist besser, als Bars zu bauen und Diskotheken.

    Qatar, Brunei und Saudi-Arabien schicken keine Frauen nach Olympia.

    Als ich noch gelaufen bin, waren 23 Prozent der Teilnehmer Frauen. In Peking 2008 waren es 45 Prozent. Die Frauen sind da, und sie werden sogar boxen. Wir machen nicht nur beim IOC Konferenzen über Frauen, sondern wir sorgen dafür, dass dies bei allen Verbänden und bei allen Nationalen Olympischen Komitees stattfindet. Man kann die Beteiligung von Frauen nur von unten nach oben organisieren, nicht umgekehrt. Viele kritisieren das IOC, das Vorschriften macht, aber die eigene Vorgabe von zwanzig Prozent nicht einhält.

    Kein Wunder bei nur 15 Frauen von 135 IOC-Mitgliedern.

    Das kann man nur von den Wurzeln her verändern. Können Sie sich vorstellen, dass bei den Olympischen Jugendspielen von Singapur 2010 ein Mädchen aus Saudi-Arabien eine Bronzemedaille im Reiten gewonnen hat? Können Sie sich vorstellen, dass Qatar mit mehr als siebzig weiblichen Athleten dort war? Können Sie sich vorstellen, dass zwei Mädchen aus Qatar, eine Turnerin und eine Schützin, Medaillen gewonnen haben? Selbstverständlich steht jemand hinter all diesen Anstrengungen, das ist der Emir. Sein Ziel ist es, Doha zum Mekka des Sports im Mittleren Osten zu machen.

    Wie engagieren Sie sich?

    Einerlei, wie viel ich dem Sport zurückgebe, es wird nie genug sein. Meine "Association Marocaine Sport et Développement" versucht, Kinder dazu zu bringen, dass sie den Sport lieben. Wir haben das Frauen-Projekt "Run For Fun" in Casablanca. Von Kindern bis zur Großmutter dürfen alle mitlaufen oder -gehen oder einfach nur kommen und den Sonntag genießen. Es ist ein Traum.

    Was gab den Anstoß?

    1984 habe ich mich gefragt: Warum bist du die einzige Frau in einem Team von Männern? Warum existieren Frauen, obwohl sie mehr als fünfzig Prozent der marokkanischen Bevölkerung ausmachen, nicht in der Öffentlichkeit? Als ich die Idee mit dem Lauf hatte, haben mich alle ausgelacht. Im ersten Jahr kamen ein paar hundert Teilnehmerinnen. Zehn Jahre später waren es 30 000. All diese Frauen schicken ihre Töchter zum Taekwondo, zum Schwimmen, zum Laufen, zum Fußball, zum Boxen. Sie kommen und zeigen Nawal, dass sie auf den Aufruf reagiert haben. Jetzt wird das Rennen in ganz Afrika etabliert; wir wollen es "African Women on the Move" nennen.

    Sind Saudi-Arabien und Qatar auf dem Weg, Frauen zu Olympia zu schicken?

    Ich will das glauben.

    Würde es die Entwicklung beschleunigen, wenn man ihnen mit Ausschluss drohte, solange sie keine Frauen nominieren?

    Wir sollten auf unserem Weg bleiben. Das IOC bietet Kongresse und Trainingslager an, die Frauen in die Organisationen und zu den Wettkämpfen bringen. Manchmal sind Männer zu solchen Veranstaltungen gekommen. Wir sollten darauf bestehen, dass Flugtickets und Stipendien Frauen vorbehalten sind. Männer werden geboren, alles zu können, auch wenn sie nichts können. Frauen müssen wir ermächtigen.

    Wie begegnen Sie der Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn Sie mit Ihrer Evaluierungskommission überall wie Staatsgäste hofiert werden?

    Ich verliere nie aus den Augen, wo ich herkomme. Ich gehe aufs Land, in die Berge und in die Slums. Die besten Boxer, die besten Fußballspieler, die besten Läufer kommen von dort, nicht aus Fünfsternehotels. Dies ist die Wirklichkeit. Dort kann ich die Macht des Sports vermitteln.

    Sie hat nicht der Hunger angetrieben, Karriere zu machen im Sport. Was war es?

    Ich komme aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Als junges Mädchen habe ich Fußball mit meinen Brüdern gespielt. Ich war nur 1,59 Meter groß. Oft habe ich mich bei meinem Vater ausgeweint: Warum bin ich zu kurz geboren? Die Deutschen und die Russinnen, mit denen ich laufe, sind alle viel größer und viel stärker als ich. Und mein Vater sagte: Die besten Geschenke kommen in kleinen Päckchen: ein Rubin oder ein Diamant. Sag' dir, dass du die Nummer eins bist, dass du gewinnen wirst. Leider starb mein Vater, bevor ich Olympiasiegerin wurde.

    Seit 1998 sind Sie Mitglied des IOC.

    Die Olympischen Spiele haben mein Leben völlig verändert. Alles, was ich tue, einfach dabei sein zu dürfen, der Olympischen Bewegung und dem Sport dienen zu dürfen, macht mich glücklich. Ich habe nie darum gebeten, IOC-Mitglied zu werden. Als ich während der Winterspiele 1998 in Nagano einstimmig aufgenommen wurde, war ich nicht einmal dort. Ich genieße jeden Moment.

    Wenn Sie morgen als Präsidentin des IOC aufwachen würden, was stünde ganz oben auf ihrer Tagesordnung?

    Wir müssen die Jugend des Planeten erreichen. 2015 werden zwei Drittel der Länder der Welt das Problem der Fettleibigkeit haben. Nicht Hunger wird sie quälen, sondern der Umstand, dass sie sich falsch ernähren. Wir müssen der Jugend den Wert von Sport und körperlicher Bewegung nahebringen. Arbeit und Spiele am Computer entfernen sie von der wirklichen Welt. Sie leben in einer Blase. Deshalb hat Jacques Rogge die Olympischen Jugendspiele entwickelt: um die Vierzehn- bis Siebzehnjährigen zu erreichen.

    Sie sagen, dass die Staaten des Westens, was Gesundheit und Bewegung angeht, Entwicklungsländer sind?

    Für den Sport verpflichten sie Menschen aus Kenia und anderen armen Ländern Afrikas. Ihre Kinder wachsen in Umständen auf, die verhindern, dass sie sich je anstrengen wollen. Stattdessen surfen sie im Internet oder sehen fern. Für sie müssen wir etwas tun.

 

    Das Gespräch führte Michael Reinsch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, dem 14. Dezember 2011

author: GRR

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