2012 London Olympic Games London, England Aug03-12 2012 Photo: Giancarlo Colombo@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Mit der „Rudisha-Taktik“ nicht (ganz) erfolgreich – Anmerkungen zum Marathon der Männer bei den Olympischen Spielen in London am 12. August 2012 – Helmut Winter berichtet
Zu Anfang eine kurze Frage: Wer gewann die Silbermedaille beim Olympischen Marathon der Männer 2000 in Sydney? Und falls Sie diesen Aktiven nicht mehr in Erinnerung haben, wie hieß dort der Olympiasieger?Man wird selbst bei den am Laufsport interessierten Menschen nur wenige finden, die einem diese Frage ohne weitere Hilfen beantworten können.
Und genauso werden die Medaillengewinner im Marathon bei den Spielen in London am letzten Sonntag schnell wieder in Vergessenheit geraten. Dies ist auch kaum außergewöhnlich, widerspricht allerdings dem Hype, der um die Olympia-Qualifikation der Ostafrikaner hinsichtlich des Marathonlaufs im Vorfeld entfacht wurde.
Was am Ende in London ablief, war sicherlich eine bemerkenswerte Sportveranstaltung, der aber viele der aktuellen Stadtmarathons kaum nachstehen. Von der reinen leistungssportlichen Komponente ist Olympia sogar nach wie vor bestenfalls zweitklassig. Und das war diesmal nicht anders. In London liefen drei Läufer unter 2:10, eine Zeit die damit in der langen Geschichte des Marathons bei Olympia gerade einmal 9 Läufer unterboten haben.
Viele der etablierten Stadtmarathons überbieten diese Zahlen deutlich, in einem Lauf! Am Ende fanden sich die Zeiten der Ersten auf den Plätzen 57, 69 und 109 der weltweiten Bestenliste wieder, des Jahres 2012 wohlgemerkt.
Das besondere am Marathon bei Olympia ist allerdings, dass er Teil einer mittlerweile gigantischen Show des Leistungssports ist und somit eine einmalige Präsenz in der Öffentlichkeit und den Medien erfährt. Warum allerdings bei solchen Anlässen in den Sommermonaten unbedingt in den Mittagsstunden gelaufen werden muss, bleibt ein Rätsel und ist eigentlich unverantwortlich. Das war leider in London nicht anders.
Während die Frauen eine Woche zuvor nach anfänglichem Regen recht gute Bedingungen vorfanden (und dies zu einem neuen Olympischen Rekord nutzten), traf es die Männer hart. Schon zur Startzeit lag die Temperatur jenseits der 20°C und stieg während des Laufs auf 25°C, im Schatten wohlgemerkt.
Es ist gut möglich, dass diese Bedingungen den hoch favorisierten Kenianern den Sieg samt Goldmedaille gekostet haben. Damit gab es auch in der Paradedisziplin der kenianischen Läufer einen Dämpfer, der sich allerdings gut in das überaus enttäuschende Abschneiden Kenias bei diesen Spielen einfügte. Aus den vom Verband erhofften 12 Goldmedaillen wurden am Ende gerade einmal zwei. Die waren aber so gut wie „todsicher“: Hindernisläufer Kemboi und Weltrekordler Rudisha.
Und David Rudisha hat bei seinem Rennen zur neuen Fabelzeit von 1:40:92 demonstriert, wie man Läufe auch bei den Unwägbarkeiten von großen Meisterschaften durch Aktion am Limit gewinnen kann. Kurz nach dem Start übernahm er die Initiative, wer ihn besiegen wollte, hätte (ebenfalls) Weltrekord laufen müssen; eine in der Tat sehr effektive Strategie, die aber nur Ausnahmekönnern wie Rudisha vorbehalten bleiben dürfte.
Es mögen auch die Abläufe auf den Bahnlangstrecken gewesen sein, die Wilson Kipsang motiviert haben könnten, auf eine ähnliche Taktik zu setzen. Denn die glanzvollen Siege des Mo Farah wurden durch die sehr verhaltene Renngestaltung bis zur Schlussphase maßgeblich gefördert. Und es ist fast eine Duplizität zum Finale über 800 m, wo Rudisha die 100 m nach 500 m in 12,3 Sekunden lief (das war 1 Sekunde schneller als bei seinen Weltrekorden von Berlin und Rieti), dass Wilson Kipsang nach gut 10 km in 30:47 seine Attacke einleitete.
Zu diesem Zeitpunkt hattet sich zwar der Brasilianer Almeida (10 km 30:38) leicht vom Feld absetzen können, aber dieser Vorstoß war nicht zu vergleichen mit dem, was Kipsang auf den folgenden km (Meilen) zeigte. Nachdem die Meilenabschnitte bis 10 km sehr moderat um die 5 Minuten absolviert wurden (3:00 / km entsprichen 4:50 / Meile), lief Kipsang die Abschnitte zwischen 6 und 10 Meilen in 4:33, 4:28, 4:47 und 4:49, d.h. km-Abschnitte bis zu 2:47. Dabei sah sein Tempo gar nicht so spektakulär aus, so locker lief der Kenianer, der nach seinen Siegen mit Fast-Weltrekord beim Frankfurt-Marathon 2011 und beim London-Marathon 2012 als großer Favorit für die Goldmedaille gehandelt wurde.
Seine Zwischenzeit an der 15 km-Marke in 44:58 machte endgültig allen deutlich, mit welchem Tempo Kipsang lief. 14:11 brauchte er für diesen 5 km-Abschnitt. So schnell war für einen 5 km-Abschnitt in der Geschichte des Olympischen Marathons noch niemand. Der legendäre Sammy Wanjiru lief in Beijing 2008 (2:06:32 OR) den schnellsten Abschnitt in 14:33, und die 14:13 von Waldemar Cierpinski nach 20 km in Moskau 1980 relativieren sich durch vorangegangene 16:57. Selbst beim großen 5000 m-Finale auf der Bahn am Abend zuvor hätte Kipsang fast 4 km mit der Spitze mitgehalten.
Die aberwitzige Tempoverschärfung zeigte die beabsichtigte Wirkung. Die erweiterte Spitzen-gruppe von fast 40 Läufern fiel sofort auseinander, und nur noch 8 Kontrahenten konnten im Abstand von etwa 15 Sekunden folgen, darunter Doppelweltmeister Abel Kirui und sein Landsmann Emmanuel Mutai, die beiden Äthiopier Feleke und der jahresschnellste Abshero, ferner Stephen Kiprotich aus Uganda. Damit die Verfolger Kipsang noch in Reichweite behielten mussten auch diese ihr Tempo deutlich steigern und liefen die 5 km in gleichfalls beeindruckenden 14:26.
Selbst der Pole Henryk Szost, der im Frühjahr 2:07 am Lake Biwa in Japan lief, ließ sich anstecken und brauchte hier an Position 16 14:50. Über welche Erfahrung und Einschätzung seiner Leistungsfähigkeit der Schweizer Victor Röthlin verfügt, zeigen seine 15:21. Damit war er zwar bei 15 km nur 33ter, hielt aber ein konstantes Tempo und schonte so in der Hitze seine Ressourcen; am Ende war Platz 11 in 2:12:48 der Lohn, allerdings waren die besten Europäer Szost (2:12:28) und Pertile (2:12:45) direkt vor ihm.
Nach 16 Meilen wurde Kipsang wieder deutlich langsamer lief nun im Bereich von 3 Minuten pro km und passierte die Halbdistanz in 1:03:15, damit lag er auf Kurs von Wanjirus Zeit vor vier Jahren in Beijing (2:06:32). Seine sechs Verfolger lagen dort 0.16 zurück. Durch einen kurzen Zwischenspurt vergrößerte Kipsang seinen Vorsprung auf eine halbe Minute. Bei 25 km in 1:14:58 schmolz jedoch sein Vorsprung auf nur noch 7 Sekunden zusammen, und nach 17 Meilen (27.3 km) hatten ihn sein Landsmann Abel Kirui und der für Uganda startende Stephen Kiprotich eingeholt, 0:13 dahinter der letzte im Rennen verbliebene Äthiopier Abshero und mit 0:30 Rückstand der Brasilianer Dos Santos.
Es wurde schnell klar, dass die drei Spitzenreiter die Medaillen unter sich ausmachen würden, die nun mit Meilenabschnitten um 5 Minuten deutlich langsamer agierten. Als alles darauf hindeutete, dass die Kenianer mit einer Attacke Kiprotich abschütteln konnten, startete dieser am 23 Meilen-Marker selbst einen Angriff.
Eine Meile in 4:46 reichte aus, um Kirui und vor allem Kipsang auf Distanz zu halten. Während Kiprotich den Abschnitt zwischen 35 km und 40 km in 15:09 zurücklegte, schaffte Kirui dahinter nur noch 15:28 und Kipsang brach mit 16:00 regelrecht ein. Nach dem Lauf sagte Kipsang, dass er nicht erwartet hatte, dass es während des Rennens so heiß wurde und die Hitze seinen Kampfgeist lähmte.
Das Resultat dieser Hitzeschlacht konnte man dann auf der Mall „bewundern“. Der mit großen Erwartungen im Vorfeld angekündigte Lauf endete mit einer kleinen Sensation, denn mit dem Mann aus Uganda, der erst im letzten Frühjahr in Enschede als „Hase“ gleich den ersten Marathon in 2:07:20 gewann und im Sommer bei der WM in Daegu in 2:12:57 9ter wurde, hatte keiner auf den Medaillenplätzen gerechnet.
Dass Kiprotich mit Joes Hermens übrigens den gleichen Manager hat wie die Olympiasiegerin Gelana bei den Frauen, ist hoffentlich nur ein belangloser Zufall. Durch die eine Minute langsamere zweite Hälfte war der Rekord von Wanjiru außer Reichweite, Kiprotich siegte in für die äußeren Bedingungen sehr guten 2:08:01, nur Wanjiru und Gharib waren 2008 bei Olympia jemals schneller.
Dann kamen erst die geschlagenen Kenianer mit Weltmeister Kirui in 2:08:27 und Kipsang in 2:09:37. Die beiden waren letztlich mit ihrem Ergebnis zufrieden und freuten sich über die Medaillen. Ihr Landsmann Mutai schaffte es nicht ins Ziel, wie im übrigen ALLE Äthiopier. Haile Gebrselassie, der in London vor Ort war und den Qualifikationsmodus seines Verbands heftig kritisierte, sollte Recht behalten. Eine singulär erzielte Zeit ist nicht unbedingt ein Garant für ein gutes Abschneiden bei Meisterschaftsläufen. Das zeigte auch der alte Haudegen Meb Keflezighi aus den USA, der nach Silber beim Olympia 2004 in Athen nach einer tollen Aufholjagd in 2:11:06 noch auf Platz 4 vorlief.
Dicht hinter ihm der Brasilianer dos Santos in 2:11:10 und der wacker kämpfende Japaner Nakamoto in 2:11:16. Damit schafften nur 6 Läufer den A-Qualifikationsstandard von 2:12, ein massiver Grund beim DLV einmal darüber nachzusinnen, ob es richtig war, die deutschen Marathonläufer im Vorfeld durch eine Qualifikationsmühle mit einem derartigen Standard zu drehen. Selbst mit einer Zeit um 2:18 hätte man am letzten Sonntag noch sein Gesicht gewahrt.
Jan Fitschen war immerhin als gut informierter Ko-Kommentator bei der ARD-Übertragung vor Ort. Warum man dort nach gut einer Stunde 15 Minuten ein Interview mit den Funktionären Coe und Bach zeigte, lässt sich noch verstehen. Weshalb man aber nach 1 Stunde und 40 Minuten in der entscheidenden Phase des Laufs bis zu einer Laufzeit von 2 Stunden zu einer anderen Sportzeit schaltete (wo sich der erwartete Erfolg einer deutschen Favoritin nicht einstellte), gehörte zu einigen medientechnischen Eigenheiten der deutschen öffentlich rechtlichen Anstalten während der Spiele, die kaum nachzuvollziehen waren.
Da konnte sich jeder glücklich schätzen, der einen der 15 Satellitenkanäle der BBC empfangen konnte, wo der Sport absolut im Mittelpunkt des Geschehens stand und hochkompetent in faszinierenden Bildern präsentiert wurde. In dieser „Disziplin“ geht die Goldmedaille ohne Frage an die BBC.
Was bleibt, sind vor allem die Erinnerung an eine Veranstaltung mit einer einmaligen Zuschau-erresonanz – das Beispiel bei der WM 2009 in Berlin, den Marathon völlig in die Stadt zu bringen, hat sich großartig bewährt -, die sicher alle Rekorde sprengte, und die Tatsache, dass gerade im Marathon stets mit Überraschungen gerechnet werden muss.
Ob die Ostafrikaner mit ihrer sehr öffentlichkeitswirksamen Selektion ihrer Teams eine glückliche Hand hatten, kann an Hand der Resultate bezweifelt werden. Zwei Stars der Szene, auf deren Mitwirken der kenianische Verband meinte, verzichten zu können, werden vermutlich – mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch – in den kommenden Monaten eine Antwort mit ihren Füßen geben.
Geoffrey Mutai startet Ende September in Berlin und Weltrekordler Patrick Makau geht in Frankfurt einen Monat später an die Startlinie. Beide dürften in Regionen agieren, von denen die Kämpfer bei Olympia aktuell nur träumen können. Die Olympiade, in der ursprünglichen Bedeutung die Zeit zwischen den Olympischen Spielen, hat dann erst richtig begonnen.
Die ewigen TOP 8 bei Olympischen Marathons
1 |
2:06:32 |
Samuel Wanjiru |
KEN |
Beijing |
2008 |
2 |
2:07:16 |
Jaouad Gharib |
MAR |
Beijing |
2008 |
3 |
2:08:01 |
Stephen Kiprotich |
KEN |
London |
2012 |
4 |
2:08:27 |
Abel Kirui |
KEN |
London |
2012 |
5 |
2:09:21 |
Carlos Lopez |
POR |
Los Angeles |
1984 |
6 |
2:09:37 |
Wilson Kipsang |
KEN |
London |
2012 |
7 |
2:09:55 |
Waldemar Cierpinski |
GER |
Montreal |
1976 |
8 |
2:09:56 |
John Treacy |
IRL |
Los Angeles |
1984 |
(Inoffizielle) Meilenzeiten der Spitze beim Olympia-Marathon der Männer am 12.8.2012.
Helmut Winter
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