Symbolbild: Kinder und Jugendliche im Sport - Foto: Horst Milde
Missbrauch im Sport: Am hellichten Tag – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Sport ist durch den Mut von Betroffenen bekannt geworden. Aber ein Tabu macht es schwer, das Ausmaß einzuschätzen. Ein Experte rechnet mit 200 000 Fällen.
Fünfhundert Betroffene allein im Erzbistum München und Freising, wie dem Gutachten zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche zu entnehmen ist, das seit Donnerstag Furore entfacht.
Dreitausend Opfer von Übergriffen und Gewalt, die sich in sechs Jahren bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gemeldet haben.
Da drängt sich eine Frage auf: In welchem Umfang geschehen solche Taten auch in den Sportvereinen, die Kinder und Jugendliche anziehen und denen Eltern ihre Sprösslinge gern anvertrauen?
Jede fünfte Geschichte, die Betroffene auf der am Mittwoch frei geschalteten Website geschichten-die-zaehlen.de erzählen, von ihren schrecklichen Erlebnissen und deren Folgen, stammt aus dem Sport, neunzehn von hundert. „Mit dem Missbrauch, das ist, als wenn mir einer mutwillig die Eisenstange aufs Knie gehauen hat, nur unsichtbar“, schreibt dort eine Frau, die von einem Fußballtrainer regelmäßig vergewaltigt wurde, bevor sie zwölf Jahre alt war.
Ein einstiger Schwimmer berichtet über die Folgen seines Missbrauchs: „Ich bin jetzt über 60 Jahre alt und man sollte denken, dass nach gut 50 Jahren alles verheilt und nicht mehr weiter schlimm ist, aber das ist es nicht.“ Das Erschrecken ist um so größer, als nicht wenige Betroffene schildern, wie der Missbrauch unter den Augen von Klassen- und Mannschaftskameraden, von Vereinsmitgliedern, Freunden und Eltern geschah. Im Alltag.
„Das Portal ,geschichten-die-zaehlen.de‘ ist ein Ort, an dem schreckliche Erfahrungen von Menschen gewürdigt werden und öffentliche Anerkennung für das erlittene Unrecht, aber auch für ihre Lebensleistung erhalten“, sagt Matthias Katsch, auch er ein Überlebender. Katsch ist in der Kommission als Mitglied zuständig für den Kontext Sport. Betroffene sollten eine Stimme erhalten, ihre Erlebnisse sichtbar gemacht werden. Die biografischen Berichte und Erfahrungen auf dem Portal stünden stellvertretend für die vielen nicht erzählten Geschichten.
Hat der Sport von diesen nicht erzählten Geschichten besonders viele zu bieten?
Lediglich 115 der dreitausend, die sich bei der Kommission gemeldeten, haben beim Sport Übergriffe hinnehmen müssen. Das entspricht nicht jedem fünften Fall wie auf der Website, sondern einem von 26. Aber der Sport, sagt Katsch, sei der Zahl nach unterrepräsentiert: „Das Schweigen zu brechen, ist für Betroffene offenbar auch heute noch schwer, denn das Thema sexueller Missbrauch ist im Sport noch einmal ein besonderes Tabu. Bis heute sehen Betroffene gerade hier viele Hindernisse für Sprechen, Aufklärung und Aufarbeitung.“ In überkommenen Vorstellungen des Sports gilt es auch als Qualität eines Trainers, Athletinnen und Athleten hart ran zu nehmen und zu schleifen, von Sportlerinnen und Sportlern, nicht zimperlich zu sein. Das Ganze gilt es zu schützen: Team, Verein, Verband, den Sport. Wer das nicht tut, muss den Ruf des Nestbeschmutzers fürchten.
Im November vergangenen Jahres unterzeichnete, wie der Deutschlandfunk in dieser Woche berichtete, der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) endlich einen Vertrag, der ihn zur Zahlung von 300 000 Euro in das Ergänzende Hilfesystem (EHS) mit dem Fonds Sexueller Missbrauch verpflichtet – still und heimlich, ohne die Öffentlichkeit zu unterrichten. 2016 hatte der Dachverband seine Zahlungen eingestellt und stets argumentiert, dass er aus steuerlichen Gründen nicht zahlen dürfe.
Nun kommt das Geld von der Stiftung Deutscher Sport, soll laut Familienministerium der Abarbeitung der vom 1. September 2016 bis zum 1. Oktober 2021 aufgelaufenen Anträge mit Sportbezug dienen. Es geht, bei einer maximalen Unterstützungssumme von 10 000 Euro, um nicht mehr als dreißig Fälle. Über die dauerhafte Einbindung des DOSB erwartet das Ministerium Gespräche mit dem neuen Präsidium und dem neuen Vorstandsvorsitzenden des DOSB bis spätestens März.
„Was mich bis heute sehr bewegt, ist, dass diese Tennisfamilie mit einem ausgewählten Kreis von Spielern und engagierten Eltern, denen man wöchentlich begegnete, etwas gewusst haben muss, genauso wie zahlreiche Funktionäre, die es allesamt vorzogen zu schweigen“, heißt es in einem Text eines Tennisspielers über den jahrelangen Missbrauch durch seinen Trainer: „Eine Trainerin, die ich zufällig nach 25 Jahren traf und mit der ich einige Gespräche über die Vergangenheit führte, bestätigte mir, dass alle aus diesem Kreis von 30-40 Leuten darüber Bescheid wussten.“ Vielleicht ein Einzelfall, aber nicht außergewöhnlicher. „Uns wird berichtet, wie Kinder und Jugendliche isoliert und unter Druck gesetzt wurden, oder dass ihnen mit einem Ausschluss vom Training gedroht wurde“, sagt Katsch zu der geringen Zahl bekanntgewordener Fälle in Vereinen und Verbänden: „Betroffene berichten auch, wie Vereine Täter zum Teil aktiv schützten und die Taten für sie folgenlos blieben.“
Dazu kommt, dass Betroffene im Sport kaum wissen, an wen sie sich in ihrer Not wenden können. „Der Umgang mit Meldungen und Missständen ist unangemessen“, konstatieren Maximilian Klein und Johannes Herber von Athleten Deutschland in einem Positionspapier: „Ombudssysteme und Ethikkommissionen sind überfordert – oder gar nicht zuständig.“
Herber, Geschäftsführer der Organisation, beklagt im Interview mit der F.A.Z. ein Riesendefizit im Umgang mit Missständen und Fehlverhalten: „Es gibt keine geeignete Ermittlungsinstanz, die sich diesen Fällen professionell und kompetent widmen kann, sodass am Ende alle Seiten ein Ergebnis akzeptieren. Meldungen versanden, Fälle blieben ungelöst, niemand lernt daraus.“
Die Zahlungsverpflichtung des DOSB vom November 2021, in den turbulenten letzten Tagen des Präsidiums von Alfons Hörmann eingegangen, ist der öffentlichen Anhörung der Aufarbeitungskommission zum Thema Sport entsprungen, besser: der Kraft der persönlichen Geschichten. Drei Frauen erzählten dort, im Oktober 2020, wie sie im Kindesalter missbraucht, emotional erpresst und brutal vergewaltigt wurden; eine Judokämpferin, eine Reiterin und eine Fußballspielerin.
Petra Tzschoppe, damals als Vizepräsidentin des DOSB für das Thema zuständig, wurde offenbar überwältigt von der Aufforderung einer der drei, die an Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein der Öffentlichkeit appellierte: „Ich stelle diese Geschichte zur Verfügung und sag: Macht was damit!“ Tzschoppe bat die Opfer von Missbrauch im Namen des DOSB um Entschuldigung und versprach, entgegen der Haltung ihres Verbandes, die Zahlungen wieder aufzunehmen. Dreizehn Monate lang musste sie im Präsidium darum kämpfen, ihr Versprechen einlösen zu dürfen.
„Eine so sensible Ankündigung bringt Verantwortung gegenüber Betroffenen mit sich“, sagt Maximilian Klein über das Versprechen: „Ihre Umsetzung scheint aber nicht sorgfältig vorbereitet worden zu sein. Damit wurden Hoffnungen geweckt, die der DOSB im Verlauf des letzten Jahres nicht erfüllen konnte. Es hat über ein Jahr gedauert, eine Selbstverständlichkeit zu regeln – nämlich die Bearbeitung bereits eingegangener Fälle. Eine zukunftsgerichtete Lösung scheint es immer noch nicht zu geben.“
Athleten Deutschland hat unterdessen Politik und Verwaltung von der Notwenigkeit einer unabhängigen Institution zum Schutz und für die Unversehrtheit von Sportlerinnen und Sportlern überzeugt. In ihrem Koalitionsvertrag versprechen SPD, Grüne und FDP: „Um den Kampf gegen physische, psychische und insbesondere sexualisierte Gewalt im Sport zu verbessern, unterstützen wir den Aufbau eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport.“ Im Innenministerium harrt eine Machbarkeitsstudie der Veröffentlichung. Die Länder haben in ihrer Sportministerkonferenz den Vorschlag des Bundes begrüßt, dieses Zentrum gemeinsam zu schaffen.
Mit der Konzeption und politischen Durchsetzung hat sich Athleten Deutschland als Kompetenzzentrum erwiesen. Die Folge ist, dass sich Schutz- und Hilfesuchende an die Athletenvertretung wenden – und sich finanzstarke Unterstützer einfinden. Nun soll eine Anlaufstelle für Betroffene von Gewalt und Missbrauch im Spitzensport mit zwei Halbtagskräften entstehen, die psychosoziale und rechtliche Erstberatung bietet sowie dem Aufbau eines Netzwerks für die Begleitung und Unterstützung danach dient. Damit solch ein Notfall-Service nicht nur den oberen Zehntausend des Sports zur Verfügung steht, also allein Kaderathleten, haben sich Innen- und Familienministerium darauf verständigt, dass es für Vereins- und Hobbysportlerinnen und -sportler eine weitere Anlaufstelle geben solle. Auch sie kann erst Realität werden, sobald die Länder mittun.
Wie groß der Handlungsbedarf ist, ergab die öffentlichen Anhörung des Sportausschusses des Deutschen Bundestages zum Thema „Physische, psychische oder sexualisierte Gewalt gegen Sportlerinnen und Sportler“ im Mai vergangenen Jahres. „Ganz tolle Ansätze“ gebe es bei den Konzepten der Sportorganisationen, urteilte Katrin Schwedes, Leiterin der Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend. Aber „gut gemeint ist nicht immer gut gemacht“. Dies gelte vor allem für die Intervention, aber auch bei der Prävention und bei der Schutzkonzeptentwicklung.
37 Prozent der Kaderathleten in Deutschland haben laut der Untersuchung Safe Sport der Universität Ulm und der Deutschen Sporthochschule Köln sexualisierte Gewalt erfahren. Das entspricht knapp 1500 von aktuell rund viertausend Athleten. Erste Resultate der Untersuchung „Sicher im Sport“ der Hochschulen Ulm und Wuppertal ergaben laut eigener Darstellung, dass etwa ein Viertel der Vereinsmitglieder (rund 26 Prozent) einmal sexualisierte Grenzverletzungen oder Belästigungen (ohne Körperkontakt) im Kontext des Vereinssports erlitten haben sollen. Die Definition lässt allerdings gewaltig Spielraum für die Interpretation.
Nach einer Hochrechnung eines Experten könnte die Zahl von Fällen eindeutiger sexualisierter Gewalt an Kindern bei rund 200 000 liegen.
„18 Jahre haben mein Körper und ich es geschafft, diese Geschichte zu vertuschen“, berichtet auf der Website der Aufarbeitungskommission eine einstige Leichtathletin über die Folgen des Missbrauchs durch ihren Trainer im Kindesalter: „Doch dann ging es nicht mehr. Mittlerweile liegen Jahre der Aufarbeitung hinter mir.
Eine anstrengende Zeit, die ich niemandem wünsche und so auch nicht mehr erleben möchte. Wenn ich diese Kraft in andere sinnvolle Dinge hätte stecken können, hätte ich wahrscheinlich alle Bäume dieser Welt ausreißen können.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 22. Januar 2022
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„Ich spüre heute noch physisch den Schmerz und manchmal den Geschmack im Mund.“ Aus Andreas‘ Geschichte Quelle: geschichten-die-zaehlen.de
„Dann ließ er das Kind auf der Schulter hocken, beförderte die Gummistiefelbeinchen in seinen Schritt unter sein sportliches Beinkleid und forderte das Kind auf, einen zunächst weichen, dann sich verhärtenden Gegenstand zwischen den Gummistiefeln kräftig zu rütteln. Zum Schluss erhielt man ein Lob für das hervorragende Training.“ Aus Lianes Geschichte
„Jede wusste genau, was mit dem Mädchen passiert, was jetzt gerade mit ihm da auf dem Boden rumliegt, weil wir das alle selbst durchhatten. Und das zu ignorieren und zu wissen, dass man nichts machen kann, war schrecklich.“ Aus Sophies Geschichte
„Sobald die anderen weggefahren waren, kippte die Stimmung und die Fassade fiel. Ich verstand nicht, was ich gemacht hatte. Ich dachte, er wäre sauer, weil er jetzt hier mit mir bleiben müsste. So interpretierte ich das. Dabei ging es um bloßes Angsteinflößen. Um Gewalt. Das kann ich jetzt verstehen, aber damals nicht. Und da blieb es dann nicht bei Anzüglichkeiten, da waren Übergriffe bis zur Vergewaltigung.“ Aus Marinas Geschichte.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 22. Januar 2022