Michael Reinsch - Foto: Horst Milde
Missbrauch im DDR-Sport: Immer wieder gegen die Wand gelaufen – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Sexueller Missbrauch im DDR-Sport beschäftigt Betroffene bis heute. In den erhaltenen, „momentanen“ Strukturen schließen sich Hochleistungssport und Kinderschutz gegenseitig aus, warnt ein Experte.
Haltung fordert Kerstin Claus, Haltung vom Sport, von der Politik und von der Gesellschaft. Der sexuelle Missbrauch, an dessen Aufarbeitung es der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung am Mittwoch in Schwerin gelegen war, liegt Jahrzehnte zurück: im Sport der DDR. Dennoch sind die Verbrechen, obgleich verjährt, hochaktuell. Die Psyche nicht weniger Betroffener schließt das traumatisierende Ereignis derart wirkungsvoll aus der Erinnerung aus, dass es Jahre und Jahrzehnte braucht, um zumindest zu ahnen, was einst geschah
In ihrer Psychotherapie, berichtete eine in den Achtzigerjahren gedopte und von ihrem Trainer auch sexuell missbrauchte einstige Leichtathletin, sei kürzlich ein zweiter Täter „zum Vorschein gekommen“. Es handelt sich um den Sportarzt von damals. Über ihre Selbsthilfegruppe sprach eine einstige Wasserspringerin: „Sie hat die Zweifel an meiner Erinnerung ausgeräumt.“ Die einstige Wasserspringerin Jenny Richter forderte das Publikum auf: „Sprechen Sie mit Verwandten und Bekannten, dass es das wirklich gegeben hat.“
„Wir haben ihn, weil wir ihn nicht loswerden“
Über die Verantwortung für Betroffene hinaus gilt es, Verantwortung für die Sportler von heute zu übernehmen. Denn vom Sportsystem der DDR, in dem Siege oberste Priorität hatten und Abschottung wie Geheimhaltung Missbrauch begünstigten, sind Strukturen erhalten geblieben. Trainer und Betreuer mit DDR-Prägung verschwinden nicht mit der Pensionierung. Als ehrenamtliche Übungsleiter sind sie Vereinen und Verbänden hochwillkommen – und mit ihnen nicht selten die Methoden von gestern.
Hochleistungssport und Kinderschutz schlössen sich, „so wie momentan die Strukturen sind“, gegenseitig aus, konstatierte Steffen Sindulka, Kinderschutzbeauftragter vom Landessportbund Thüringen. Ein Mitarbeiter des Landessportbundes Mecklenburg-Vorpommern sagte über einen übergriffigen Trainer: „Wir haben den nicht, weil wir ihn wollen. Wir haben ihn, weil wir ihn nicht loswerden.“
Psychotherapie ist wie ein Lottogewinn
Für die spezielle Kontinuität des Missbrauchs im Sport des vereinten Deutschlands steht auch der Missbrauch des Wasserspringers Jan Hempel durch seinen Trainer, den der Betroffene selbst publik machte. Er fand zu Zeiten der DDR wie der Einheit statt. Es brauche Zeit, sich zu öffnen, sagte Hempel bei dem Fachgespräch, das die Unabhängige Kommission gemeinsam mit der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur ausrichtete. In dieser Zeit allerdings drohe die Verjährung einzusetzen. Sein Peiniger habe sich das Leben genommen, sagte Hempel, doch generell drohe, dass der Vergewaltiger seinem Opfer schließlich ins Gesicht lache.
Mehr noch als gegen die Verjährung kämpfen Betroffene um Hilfe. Psychotherapie zu erhalten sei wie ein Lottogewinn. Jeder Einzelne muss um Therapie kämpfen, um Anerkennung als Opfer prozessieren. Beschämend nennt Kerstin Claus, dass sich Betroffene die Expertise aneignen müssten, immer wieder gegen die Wand zu laufen, nicht gesehen und nicht gehört zu werden, keine Antworten zu erhalten.
Die Leichtathletin erzählte, wie überrascht, ergriffen und erfreut sie war, als bei der Anhörung der Unabhängigen Kommission zu Missbrauch im Sport vor zweieinhalb Jahren die damalige Vizepräsidentin Petra Tzschoppe im Namen des DOSB bei den Betroffenen um Entschuldigung bat. Umso enttäuschter sei sie gewesen, dass sich innerhalb eines Jahres nichts tat. Sie schrieb Tzschoppe eine Mail mit der Frage, ob sie das mit der Entschuldigung wirklich ernst gemeint habe. Bis heute habe sie keine Antwort bekommen, sagte sie.
Die Politikerin Angela Marquardt aus dem Betroffenenrat berichtete, wie ein Vertreter des DOSB ihr in einer Sitzung gönnerhaft, wie sie fand, zugestand, emotional zu sein. „Für ihn war ich das Opfer, das am Tisch sitzen darf“, urteilte sie und hielt entgegen: „Wir sind Experten.“
Wem die Forderung der Unabhängigen Beauftragten nach Forschung und Vernetzung bekannt vorkam, dem half die einstige Gymnastin Susann Wegner auf die Sprünge. Sie erinnerte an Ines Geipel, die als Mitklägerin in den Dopingprozessen und als Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfevereins eine gesellschaftliche Diskussion und Millionenhilfe des Staates für Betroffene durchsetzte.
„Verantwortungsübernahme ist Chefsache“
Vor fünf Jahren, im Oktober 2018, forderte sie in der F.A.Z., dass der Doping-Opfer-Hilfeverein in eine andere Struktur überführt werden und etwa an eine Klinik oder an eine Aufarbeitungsinstitution mit professioneller statt ehrenamtlicher Betreuung überführt werden solle: „Es geht darum, die Konstellation zu verlassen, dass Betroffene Betroffene betreuen. Noch dazu, wenn sich der Schaden immerzu in dieser unseligen Allianz zwischen unaufgearbeitetem DDR-Sport und medialer Sporteuphorie bewegt.“
Heute spielt Maximilian Klein von Athleten Deutschland auf die Medaillenträume des deutschen Sports an: „Das Ziel, sportlich mit Russland und China mitzuhalten, unterminiert die ganzheitliche Entwicklung junger Menschen.“ Und mehr noch: „Verantwortungsübernahme ist Chefsache.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 27. April 2023