Bei jungen Mädchen sind Perfektionsansprüche besonders ausgeprägt, nicht zuletzt wegen falschen Vorbildern auf Social Media. - Foto: iStock, Georgijevic/Universität Zürich
Mental Health – Perfekt sein wollen – Interview: Universität Zürich – UZH – Roger Nickl
Vor allem Mädchen und junge Frauen haben heute viel mehr psychische Krisen, sagt Dagmar Pauli. Die Kinder- und Jugendpsychiaterin spricht im Interview über den Einfluss von Schule und Social Media, gamesüchtige Jungs und die Probleme von Trans Jugendlichen.
Dagmar Pauli, Sie behandeln an der Psychiatrischen Universitätsklinik Mädchen, Jungen und Trans Jugendliche und forschen zu psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Wie geschlechtsspezifisch sind diese Störungen?
Dagmar Pauli: Wir wissen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie schon lange, dass sich Mädchen und Jungen hinsichtlich der Häufigkeit und Ausprägung von psychischen Problemen unterscheiden. Beim männlichen Geschlecht sind beispielsweise ADHS und Autismus viel häufiger, beim weiblichen Essstörungen und Depressionen. Wir stellen in der Klinik fest, dass vor allem Mädchen und junge Frauen heute viel mehr psychische Krisen haben – Depressionen, Selbstverletzungen, Ess- und Angststörungen.
Was sind die Gründe dafür?
Pauli: Ein Grund dafür ist, dass Kinder und Jugendliche ganz allgemein mit Informationen, Reizen und Ansprüchen etwa in der Schule und auf Social-Media-Kanälen überflutet werden. Damit kommen nicht alle zurecht. Vielleicht sind Mädchen in dieser Hinsicht verletzlicher, weil sie mehr ansprechen auf Bilder und auf das soziale Umfeld. Perfektionsansprüche sind bei jungen Mädchen in unserer Klientel häufig sehr ausgeprägt, nicht zuletzt durch Vorbilder auf Social Media. Dort werden auch ungute Bewältigungsstrategien für Probleme propagiert. Heute sagen bereits Elf- und Zwölfjährige: «Es ist mir so schlecht gegangen und ich bin gemobbt worden, dann habe ich mich halt geritzt, weil mich das getriggert hat.» Solche Ausdrucksweisen haben sie meist im Netz aufgeschnappt. Zurzeit haben wir eine Krise, die vermehrt Mädchen und junge Frauen betrifft, die von Ansprüchen überfordert sind.
Woher stammen diese Perfektionsansprüche?
Pauli: Sie haben mit genetischen Veranlagungen zu tun, es sind bestimmte Persönlichkeitszüge, die unabhängig vom Geschlecht in Familien weitergegeben werden. Es hängt aber auch damit zusammen, wie Mädchen sozialisiert werden. Studien zeigen, dass Mädchen und Jungen bereits als Säuglinge und Kleinkinder sehr unterschiedlich behandelt werden. Wer weiblich sozialisiert worden ist, möchte oft allen Ansprüchen genügen – etwa gut in der Schule sein und ein ideales Bild von sich in den sozialen Medien abgeben. Das kann überfordern und psychisch krank machen.
Mit welchen Problemen werden Jungen konfrontiert?
Pauli: Zum Beispiel mit dem Problem des suchtmässigen Gamings, das in den letzten 10 bis 15 Jahren deutlich zugenommen hat. Jugendliche fühlen sich wohl in dieser Spielwelt, wo sie tolle Avatare und viele Kolleg:innen haben und wo sie erfolgreich sind. Wenn sie im echten Leben wenig Erfolg haben, kann das zu einer regelrechten Flucht in die Online-Welt führen. Jungen sind dafür empfänglicher. Online können sie ihre Geltungsbedürfnisse oder ihre Machtwünsche im Gegensatz zur Realität ausleben und sich bedeutungsvoll fühlen – weil sie beispielsweise schlecht im Sport sind und in ihrer Peergruppe nicht gut ankommen. Wenn der Gegensatz zwischen der Online-Welt und der Realität zu krass wird, kann das zur Sucht führen.
Wer weiblich sozialisiert ist, möchte oft allen Ansprüchen genügen – etwa gut in der Schule sein und ein ideales Bild von sich in den sozialen Medien präsentieren. Das kann überfordern und psychisch krank machen.
Sie führen auch eine Transgender-Sprechstunde. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?
Pauli: Im Transgender-Bereich zeigen sich die Probleme des ganzen Jugendalters noch viel akzentuierter. 70 Prozent der Patient:innen in der Transgender-Sprechstunde sind depressiv mit Suizidalität, Selbstverletzung und Angststörungen. Das hat mehrere Gründe: Trans Jugendliche haben es immer noch schwer mit der Akzeptanz, mit dem Outing in der Familie und in der Schule. Das sind einfach grosse Hürden. Was sich in Studien gezeigt hat: Wenn Eltern die soziale Transition ihrer Kinder, also das Leben im gewünschten Geschlecht, unterstützen, geht es den Jugendlichen psychisch deutlich besser. Die soziale Anerkennung ist zentral für die psychische Gesundheit von Trans Jugendlichen. Zudem leiden auch viele stark unter Körperdysphorie, sie erleben den Körper als nicht passend zu ihrer Identität. Es braucht Geduld, da man in diesem Alter vorsichtig mit irreversiblen medizinischen Massnahmen sein muss. In diesem Bereich ist es klar, dass genderspezifisch geforscht werden muss: Die Behandlung von trans männlichen, trans weiblichen oder nicht-binären Jugendlichen unterscheidet sich sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie erheblich.
Wir wissen, dass vor allem Mädchen von Essstörungen betroffen sind. Deshalb wird das Problem bei Jungen oft nicht erkannt.
Psychische Probleme äussern sich geschlechtsspezifisch unterschiedlich. Gibt es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bereits geschlechtsspezifische Behandlungsansätze?
Pauli: Nein, bis jetzt eigentlich kaum. Ich glaube jedoch, dass Ärzt:innen und Psycholog:innen sich in der Therapie von depressiven Jugendlichen intuitiv anders verhalten, je nachdem ob diese männlich, weiblich oder nicht-binär sind. Das heisst, wir wenden unser Wissen über geschlechtsspezifische Besonderheiten an, weil wir wissen, dass es mit Mädchen einfacher ist, über Gefühle zu sprechen oder über Dinge, die vielleicht schambesetzt sind. Wir gehen bei Jungen vielleicht vorsichtiger an diese Themen und lassen ihnen mehr Möglichkeiten, zuerst über ihr Verhalten zu sprechen, bevor man dann eine Schicht tiefer geht. Oder wir versuchen, hinter die Fassade zu blicken, in der Annahme, bei einem Jungen könnte vielleicht mehr dahinterstecken, wenn er sich unzufrieden gebärdet und sich aggressiv-mürrisch verhält. Das könnten auch Anzeichen einer Depression sein. Aber wie gesagt: Das sind intuitive Annahmen. Das Thema ist noch sehr wenig erforscht und in konkrete geschlechtsspezifische Therapieansätze umgesetzt.
Was bringt nun der gendermedizinische Blick für die Weiterentwicklung von Diagnose und Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie?
Pauli: Ich hoffe, dass damit individualisiertere Herangehensweisen für Diagnostik und Therapie gefunden werden können. Wir wissen beispielsweise, dass vor allem Mädchen von Essstörungen betroffen sind. Deshalb wird das Problem bei Jungen oft nicht erkannt, auch weil sie teilweise andere Symptome als Mädchen zeigen. Am Anfang wird ein Problem vielleicht somatisch interpretiert und es werden unzählige Abklärungen gemacht, bevor man dann zum Schluss kommt, dass der Junge eine Essstörung hat. Ein anderes Beispiel ist der Autismus: Wir wissen, dass die Symptome bei Mädchen im Durchschnitt anders ausgeprägt sind als bei Jungen. Die meisten Autismus-Studien beziehen sich auf Jungen, weil das Problem dort verbreiteter ist. Entsprechend wurden die Symptome ursprünglich auch so definiert, wie sie jungenspezifisch auftreten. Das hat dazu geführt, dass gerade Mädchen aus dem Autismus-Spektrum in der Adoleszenz sehr häufig unterdiagnostiziert sind – weil sie eben nicht genau die für Jungen typischen Symptome zeigen. Der gendermedizinische Blick könnte die Diagnostik verbessern. Auch therapeutisch ist das Geschlecht ein wichtiger Faktor. Hier sollten wir künftig schauen, welche Behandlungsansätze sich geschlechtsspezifisch besonders eignen.
Wie sollten denn genderspezifische Psychotherapien künftig aussehen?
Pauli: Wir sollten diagnostische Instrumentarien entwickeln, mit denen man Subtypen von Erkrankungen erfassen kann. Diese müssten gar nicht spezifisch geschlechtsbezogen sein. So könnte man in der Depressionsdiagnose verschiedene Phänotypen bei Jugendlichen unterscheiden und entsprechende therapeutische Herangehensweisen entwickeln. Man könnte etwa den gereizt-mürrischen, aufbrausenden Typ vom sich selbst verletzenden, ängstlichen, introvertiert-gehemmten Typ unterscheiden. Dies könnte man natürlich auch den klassischen Geschlechtern zuordnen. Aber man müsste nicht unbedingt sagen, Jungen müssen wir so und Mädchen ganz anders behandeln. Denn im Einzelfall stimmt das oft nicht, weil es beim Verhalten, bei den Vorlieben und auch bei den psychischen Symptomen immer auch Jungen und Mädchen gibt, die atypisch sind und nicht den Geschlechterstereoptypen entsprechen – auch wenn sie nicht non-binär oder trans sind.
Deshalb sollten wir in Diagnose und Therapie Gruppen generell immer genauer beschreiben. Das wäre dann eine Präzisionsmedizin, die geschlechtsspezfische Aspekte differenziert miteinbezieht.
Dieser Artikel stammt aus dem UZH Magazin «Gesunde Frauen und Männer»