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22
05
2025

Matthias Politycki: 42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken. Hamburg: - Hoffmann und Campe 2015. 314 S.;

Matthias Politycki ist 70 Jahre geworden … und schreibt: 42.195 km bis zum Eintritt in den Garten Eden – Eine vielbeachtete Grammatik des Marathonlaufs – Prof. Dr. Detlef Kuhlmann

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Matthias Politycki ist vor wenigen Tagen 70 Jahre alt geworden. Das ist ein Anlass ihm herzlich zu gratulieren, ihm alles Gute für das neue Lebensjahrzehnt zu wünschen … und sein erfolgreiches Standardwerk in der deutschsprachigen Laufliteratur noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Das hatte Matthias Politycki vor genau zehn Jahren vorgelegt und wurde bald als eine „Grammatik des Marathonlaufs“ stilisiert und wird bis heute in Läuferkreisen hoch gelobt:

Eine Grammatik beschreibt gemeinhin die Struktur einer Sprache mit dem zugrunde liegenden Regelsystem. Das Buch von Matthias Politycki ist im übertragenden Sinne eine Grammatik des Marathonlaufes. Daher ist es: kein Roman, weder eine Reportage noch Trainingstagebuch zum Marathon.

Politycki geht gemäß Untertitel einer einzigen Frage nach:

„Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken“. Dazu benötigt er 42,195 Kapitel, nimmt uns vorher mit in den „Startbereich“ (Vorwort) und lässt uns auch danach im „Zielbereich“ (Nachwort) nicht ganz allein. Diese Grammatik ist klar und verständlich – ja geradezu „schön“ – geschrieben.

Alle können sie auch ohne Vorkenntnisse erlernen und gleich anwenden – also mitlaufen. Man muss nur Politycki vorher gründlich genug gelesen haben. Aber müssen wir uns auch immer an ihn halten? Nein, aber wir können nach der Lektüre auf ihn zurückgreifen, um das Phänomen Marathon besser zu verstehen.

Und warum laufen wir nun Marathon und was denken wir dabei?

Politycki gibt darauf eine umfangreiche und zugleich eine sehr persönliche Antwort. Darin finden sich sicher viele hier und da wieder, die schon mindestens einmal Marathon gelaufen sind. Und wer den Marathonlauf erst noch kennen lernen will, dem gibt die Politycki-Grammatik einen Einblick in seine Mache.

Politycki geht dabei Schritt für Schritt so vor: Wir gehen mit ihm an den Start, er nimmt uns mit in sein(e) Rennen, fragt sich beispielsweise gleich bei Km 1 „Alles richtig gemacht?“ (Kapitel-Überschrift); er läuft bei Km 4 über „Die blaue Linie“. Apropos Grammatik im originären Sinne: Wir lernen von ihm bei Km 15 „Läuferdeutsch“ und stellen bei Km 21 ernüchternd fest: „Die Elite ist schon durch“, bei Km 27 heißt es dann „Haltung wahren“.

Wie nicht anders zu erwarten war, begegnet ihm bei km 32 „Der Mann mit dem Hammer“; ab Km 40 dürfen wir uns schon mit „Trophäen“ beschäftigen, bevor der Autor bei Km 42 schließlich die „Fata Morgana“ kommen sieht: „Das profane Portal ist nichts weiter als der Eintritt in den Garten Eden alias Zielbereich“ (S. 298). Da darf ein letztes Mal gejubelt werden, denn: „Direkt hinterm Ziel grinst keiner mehr. Macht keiner einen Luftsprung, feiert niemand“.

Die „Postmarathonale Depression“ (Überschrift im Ziel) nimmt ihren Lauf. Das große Glück, seinen ersten Marathon gefinisht zu haben, kommt nie wieder. Anders und im Sinne einer Grammatikregel: Je mehr Rennen du absolviert hast, umso weniger Euphorie ereilt dich jeweils beim Überschreiten der Ziellinie – jedenfalls nach der Grammatik von Politycki!

Und wer ist noch mal dieser Matthias Politycki, der jetzt 70 geworden ist und mittlerweile in Wien schreibt und läuft? Politycki ist hauptberuflich ein bekannter, weil ziemlich erfolgreicher Schriftsteller, der seit über 35 Jahren Romane, Erzählungen, Essays sowie Gedichte publiziert – wie „Samarkand Samarkand“, davor u.a. „Weiberroman“ und „Ein Mann von vierzig Jahren“.

Ist Politycki also ein zweiter Günter Herburger (1932-2018)?

Die Frage ist erlaubt, kann aber verneint werden: Politycki bezieht sich zwar im besagten Marathonbuch auf Herburger, schreibt aber ganz anders und bemängelt sogar beiläufig (vgl. S. 77), dass es angeblich so wenige (schreibende) zeitgenössische Autoren unter den Marathonläufern gibt. Politycki gehört so oder so der Nachfolgergeneration von Herburger an.

Ob sich daher die Läufergeneration von Politycki durch das Buch besonders angesprochen fühlt? Das müssen im Grunde die jungen Leute entscheiden. Aber die Frage lautet für alle gleich:

Warum laufen wir Marathon?

An einer Stelle mitten im Buch gibt Politycki darauf eine knappe, aber geradezu augenscheinliche Antwort – nämlich der „Eindrücke wegen. Und was wir dabei denken? Gar nichts, das ist es ja! Wir sind ganz Auge, mehr läßt (sic! D. K.) die Dynamik des Ereignisses nicht zu“ (S. 180). Allein der Eindrücke wegen lohnt die Lektüre seiner Grammatik. Auch hier beim Lesen sind wir immerzu ganz Auge – nur mit einem eklatanten Unterschied zum Laufen eines Marathons:

Bei der Lektüre des Buches können wir die Dynamik des Ereignisses unaufhörlich anhalten und in eine Reflexion überlaufen. Beim Marathon ist ständiges An- oder Innehalten eher nicht angesagt, bei der Lektüre von Politycki aber immer wieder angebracht. Nur so können wir die Tiefenstruktur seiner Grammatik erfassen und mit in das nächste Rennen nehmen.

Am Ende bilden wird daraus unsere eigene Grammatik. Denn: Jeder muss den Marathon selbst laufen und schauen, was die Dynamik des Ereignisses an Eindrücken zulässt.

Matthias Politycki: 42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken. Hamburg: Hoffmann und Campe 2015. 314 S.; 20 €

Prof. Dr. Detlef Kuhlmann

… war bis 2023 Leiter des Arbeitsbereichs Sport und Erziehung am Institut für Sportwissenschaft der Leibniz Universität Hannover und hat im Jahre 1990 zusammen mit Horst Milde den Berliner Literatur-Marathon begründet, den er seitdem moderiert. Für German Road Races (GRR) stellt er gelegentlich neue Laufbücher vor und erinnert an „Klassiker“.

Zu seinen neueren (Lauf-) Publikationen gehören:

Kuhlmann, D. (Hrsg.): „… auf den letzten Metern“. Momente des Zieleinlaufs. (Mit einem Vorwort von Katrin Müller-Hohenstein). Hildesheim 2021: Arete Verlag. 200 S.; 18,- €; ISBN 978-3-96423-058-4

Kuhlmann, D., Pieper, H. & Schulze Forsthövel, U. (Hrsg.): Die sportlich heiteren und politisch gescheiterten Olympischen Spiele München ’72. Zum Gedenken an Walther Tröger. Hildesheim 2023: Arete Verlag. 210 S.; 22,- €; ISBN 978-3-06423-112-3

Weltklasse-Sprinter aus Köln: Manfred Germar vollendete 90. Lebensjahr – Bronzemedaillen gewinner bei den Olympischen Spielen 1956 – Prof. Dr. Detlef Kuhlmann

 

author: GRR