Und in dem Lächeln liegen ein paar Gegenfragen: Was soll ein Olympiasieger denn noch alles leisten? Soll er mit Pferden um die Wette rennen? Berge überspringen? Übers Wasser laufen? Nein, sagt Kenenisa Bekele aus Äthiopien, der beste Langstreckenläufer der Gegenwart, so ein Dreifachgewinn ist in der heutigen Zeit kein realistisches Ziel
Maßlosigkeit heißt das Motto – Die Leichtathletik vergisst ihre Leitgedanken – ihr genügt es, ein blankes Rekordspektakel zu bieten – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung
Die Frage war, ob er sich bei den nächsten Spielen den alten Zatopek zum Vorbild nehmen werde. Emil Zatopek, den Tschechen, der 1952 in Helsinki nicht nur über 5000 und 10 000 Meter gewann, sondern auch im Marathon. Kenenisa Bekele lächelt kraftlos. Er war eigentlich ganz glücklich mit seinem zweiten Olympia-Gold von Peking, das er nach dem Sieg über 10 000 Meter vor einer Woche gerade über 5000 Meter gewonnen hatte.
Und in dem Lächeln liegen ein paar Gegenfragen: Was soll ein Olympiasieger denn noch alles leisten? Soll er mit Pferden um die Wette rennen? Berge überspringen? Übers Wasser laufen? Nein, sagt Kenenisa Bekele aus Äthiopien, der beste Langstreckenläufer der Gegenwart, so ein Dreifachgewinn ist in der heutigen Zeit kein realistisches Ziel. Klar könne er nach den Bahnläufen noch einen Marathon bestreiten, „zum Spaß kann man das machen”. Aber er kann bei Olympischen Spielen nichts zum Spaß machen. Er ist Bekele, er muss gewinnen. "Ich vertrete mein Land", sagt er mit sanftem Ernst. Das Zatopek-Projekt ist etwas für Spinner: "Es ist unmöglich."
Aber der Olympia-Sponsor sagt: Unmöglich ist nichts. Die Olympia-Werbung zeigt Athleten, die mit Pferden um die Wette laufen und mit Stäben über Berge springen. Und die Leichtathletik-Wettbewerbe gehen als ein Fest der Superlative in die Geschichte ein. Mit Rekorden über Rekorden, Weltrekorden, olympischen Rekorden, nationalen Rekorden, und mit einem Protagonisten, der sich „Blitz-Bolt” nennt, als wäre er eine Comicfigur. Seid maßlos, war das Motto. Verlangt, was es nicht gibt, ihr werdet es bekommen. Im Rampenlicht galoppierte die Oberflächlichkeit, nur neben der Bühne schimmerte so etwas wie Klugheit durch. Aber reicht das, um etwas mehr zu sein als ein Spektakel?
Oder reicht es Olympia, ein Spektakel zu sein?
Es gab mal den Gedanken, dass die Leichtathletik im Sinne des Antidopingkampfes ihre Rekordmanie zurücknehmen und stattdessen auf die Qualität der Duelle achten solle. Aber von dem Gedanken war nichts übrig in Peking. Der Rekord war der Fetisch, ihre Brecher waren die Lieblinge des Publikums. Nach dem allgemeinen Verständnis ist deswegen Usain Bolt aus Jamaika die überragende Gestalt der Wettkämpfe gewesen. Drei Mal Gold, drei Mal mit Weltrekord – das ist einzigartig in der Leichtathletik.
Die nächsten Ansprüche warten
Ein leises Murren gab es in der Szene, weil Bolt bei seinem 100-Meter-Sieg in 9,69 Sekunden schon vor der Ziellinie in Jubel ausgebrochen war. Ato Boldon, der frühere Medaillen-Sprinter aus Trinidad & Tobago, rief:
"Kinder, so benimmt man sich nicht als Olympiasieger." Aber als Bolt Ernst machte und die zwölf Jahre alte Marke des Amerikaners Michael Johnson über 200 Meter um zwei Hundertstelsekunden auf 19,30 Sekunden drückte, waren wieder alle hingerissen. Und nachdem er auch mit der Sprintstaffel in 37,10 Sekunden Gold und Weltrekord sichergestellt hatte, entschuldigte Bolt sich mit seiner jamaikanischen Unschuld: "Ich will immer ich selbst sein."
Gesten, Tänze und lässige Erzählungen eines Lebenslustigen gehörten zu Bolts Rahmenprogramm in Peking. Den Dopingverdacht, der jede seiner Leistungen begleitete, hatte er schon früher mit knappen Antworten
abgewehrt ("ich war schon immer schnell"), die tiefere Bedeutung seiner Rennen schien er nicht zu erkennen. Bolt hat binnen einer Woche sämtliche Werte für absolute menschliche Geschwindigkeit angehoben, das ruft nicht nur Sportvermarkter auf den Plan, sondern auch Humanbiologen und Biomechaniker. Die Wissenschaft wird ihn genau unter die Lupe nehmen müssen, um dieses Wunder einordnen zu können. Bolt hingegen sprach von Hühner-Nuggets und der 200-Meter-Distanz: "Sie war meine Liebe, seit ich 15 bin."
Man musste ihn verstehen. Bolt ist 22, seit sieben Jahren hört er, dass er die Sprintwelt verändern wird, und er hat sich ganz in die Obhut seines Trainers Glen Mills begeben. Das Sportgeschäft erzieht seine Kinder zum
Funktionieren, nicht zum Hinterfragen ? und die nächsten Ansprüche warten schon. "Ich glaube, viele Leute wollen, dass ich 400 Meter laufe", sagt Bolt. In der Tat prophezeit mancher schon jetzt Bolt-Rekorde auf der
Stadionrunde. Und nach der Staffel fragte ihn jemand, ob er nicht auch Weitsprung machen wolle, um seine Vielfachsiegchancen zu verbessern. Bolt lacht darüber. Noch.
Irgendwann dürften dem Leichtathletik-Zirkus seine Sprintsiege langweilig werden. Und dann?
Die Tage im Vogelnest sind durchaus nicht nur so dumpf gewesen, wie sie im Weltrekordjubel wirkten. Die Tschechin Barbora Špotáková wurde am 40. Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings
Speerwurf-Olympiasiegerin, indem sie mit ihrem Europarekordwurf auf 71,47 Metern im letzten Versuch die Russin Maria Abakumowa auf Distanz hielt.
Nachher berichtete sie ruhig vom Symbolgehalt dieses Konters: Am 21. August waren sowjetische Truppen in Prag einmarschiert, um die Liberalisierungsversuche der damaligen tschechoslowakischen Regierung zu
beenden.
Der zweimalige Olympiasieger und Marathon-Weltrekordler Haile Gebrselassie, 35, in Äthiopien ein nationales Idol, diente über 10 000 Meter seinem Erben Bekele als selbstloser Domestike. Er fühlte sich auch durch seinen sechsten Platz nicht in seiner Eitelkeit verletzt, er rief: "Kenenisa ist wunderbar."; Und nach dem 4×400-Meter-Rennen der Frauen, das die USA gewannen, dämpfte Jamaikas Shericka Williams, Zweite im Einzel und Dritte mit der Staffel, die karibische Selbstzufriedenheit nach dem historisch guten Abschneiden Jamaikas, indem sie den nationalen Verband JAAA ermahnte: "Die Athleten bräuchten mehr finanzielle Unterstützung, um ihre Probleme zu bewältigen."
Aber am Ende regieren eben doch die Zirkusdirektoren, Athleten-Manager wie Jos Hermens zum Beispiel. Hermens steht im Verdacht, Dopingkontakte nach Spanien gepflegt zu haben. Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat ihn deswegen im Rahmen der Affäre um den Dopingtrainer Thomas Springstein
angezeigt, worauf Hermens selbst einen Anwalt einschaltete, um sich zu wehren. Aber am letzten Leichtathletik-Abend im Vogelnest wirkt er aus einem ganz anderen Grund nachdenklich: Wenn sein Haile nicht so selbstlos wäre, hätte er vielleicht Bronze gewonnen. Und Kenenisa? Die Zatopek-Idee?
Eigentlich sei sie unmöglich, sagt Hermens, Olympias Zeitplan müsste sich ändern. Andererseits: Man habe im äthiopischen Verband darüber geredet. "Die Leute sind immer für neue Herausforderungen", sagt Jos Hermens. Und er sowieso. Er ist Geschäftsmann. Er kann es nicht gebrauchen, dass etwas unmöglich ist.
Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Montag, dem 25. August 2008