Sie sei zerbrechlich wie eine Ming-Vase, heißt es von Paula Radcliffe ©Victah Sailer
Marathonläuferin Paula Radcliffe – Der größte Unglücksrabe – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Am Trafalgar Square mit der 51 Meter hohen Säule zu Ehren von Lord Nelson wird Paula Radcliffe abbiegen auf die Mall, die schnurgerade zum Buckingham-Palast führt. Die Zuschauer in den Straßen Londons werden jubeln und schreien und sie mit Ovationen begleiten.
An diesem Sonntag, den 5. August 2012, bei ihren fünften Olympischen Spielen, wird Paula Radcliffe führen. Sie wird die wenigen hundert Meter bis ins Ziel im St. James’s Park genießen wie noch keinen Lauf in den 38 Jahren ihres Lebens. Sie, die schnellste Marathonläuferin der Welt, wird endlich belohnt werden für all die Opfer, die sie dem Langlauf gebracht hat. Ihr Olympiasieg wird ein Triumph der Gerechtigkeit sein.
Das ist das positive Szenario. So hat sich Paula Radcliffe den Gipfel ihrer Karriere ausgemalt, als sie im Winter die langen, grausamen Trainingsläufe in der Höhenlage von Albuquerque in Neu-Mexiko absolvierte. „Ich visualisiere, wie ich die Mall hoch laufe“, verriet sie damals. „Zum Glück habe ich einige sehr schöne Erinnerungen daran, wie ich die Mall hoch laufe. Ich glaube, das ist einer der wirklichen Vorteile von Olympia in London: Es ist ein Heimspiel.“
Acht große Marathonläufe hat Paula Radcliffe gewonnen: den der Weltmeisterschaft 2005 in Helsinki, Chicago sowie drei Mal New York. Und natürlich den von London. 2002 erreichte sie bei ihrem Debüt das Ziel auf der Mall in 2:18:56 Stunden: Streckenrekord. Im Jahr drauf setzte sie mit der unglaublichen Zeit von 2:15:25 Stunden den bis heute gültigen Weltrekord. 2005 gewann sie zum dritten Mal.
Schmerzhafte Erinnerungen an Olympia 2004 und 2008
An diesem Sonntag läuft sie zum ersten Mal den Berlin-Marathon. „Hauptsache ist, dass ich gewinne und mich gut dabei fühle“, sagte sie in Berlin. Man glaubt kaum, dass Paula Radcliffe beides in einem Atemzug verspricht. Kaum eine Läuferin drückt in der Art und Weise, wie sie sich bewegt, so deutlich die Bereitschaft aus, sich zu quälen und sich weh zu tun. Bei der Bereitschaft bleibt es nicht.
Das Horror-Szenario für London 2012 hat Paula Radcliffe auch schon durchgespielt. Für sie, die nicht nur die unbestrittene Nummer eins im Marathon der Frauen ist, sondern auch der unbestritten größte Unglücksrabe dieser Sportart, wurde der Albtraum schon zwei Mal wahr. Als Favoritin ging sie sowohl in den Marathon der Olympischen Spiele 2004 wie auch in den von 2008 – und scheiterte. In Athen hatte sie entzündungshemmende Medikamente eingenommen. Sechs Kilometer vor dem Ziel, mit Magenschmerzen längst zurückgefallen, war ihr Lauf vorüber – in Tränen aufgelöst setzte sie sich auf den Bordstein. Und nur wenige Tage später rannte sie über 10.000 Meter in eine ebenso schmerzhafte Erfahrung; wieder kam sie nicht ins Ziel.
„Rückschläge machen mich nur noch entschlossener“
In der Vorbereitung auf die Spiele von Peking 2008 wurde Paula Radcliffe von einer Spinne gebissen. Sie bekam hohes Fieber, und der Fuß schwoll so stark an, dass die Läuferin nicht einmal mehr gehen konnte. Doch das war nur das Vorzeichen des Einbruchs, den Paula Radcliffe beim olympischen Marathon erleben würde. Zwei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Isla 2007 hatte sie wieder mit dem Lauftraining begonnen. Sie zog sich einen Ermüdungsbruch im Oberschenkel zu und verheimlichte ihn.
In Peking schleppte sie sich, in mangelhafter Form, als 23. ins Ziel. „Es gibt immer noch die Spiele von London, ein leuchtendes Ziel“, sagte sie. „All diese Rückschläge machen mich nur noch entschlossener.“ Aus welchem Holz sie geschnitzt ist, zeigte Paula Radcliffe, als sie kurz darauf souverän den New York Marathon gewann – ihr bis heute letzter Sieg.
Nicht nur Kinder, die sie mit dem Fahrrad anfahren und verletzen, Hunde- und Spinnenbisse, sondern auch ihr unbändiger Ehrgeiz standen ihr wohl im Weg. „Ich bin oft zu weit gegangen“, sagte sie. „Man bewegt sich auf einem schmalen Grad.“ Bis zu 230 Kilometer rennt sie pro Woche. Da wird der Trainingseffekt massiv vom Verschleiß gefährdet. Sie sei zerbrechlich wie eine Ming-Vase, heißt es von Paula Radcliffe.
Sie kann auch ohne Olympiasieg stolz zurückblicken
New York 2009 wurde zum Wendepunkt. Beim Marathon, den sie zum vierten Mal gewinnen wollte, fiel Paula Radcliffe praktisch ein Bein aus: Als Vierte humpelte sie ins Ziel. Was sich als unerträglicher Schmerz im Außenband äußerte, war Folge eines Überbeins am Fuß. Hallux valgus, wie ihn Frauen von hochhackigen Schuhen bekommen können, hatte eine Serie von Verletzungen ausgelöst, da er die Läuferin zu Vermeidungsbewegungen zwang. Im März 2009 wurden Überbein und drei Zehen operiert. Zehn Monate nach dem schmerzhaften Eingriff gewann Paula Radcliffe einen Halbmarathon. Im Jahr drauf brachte sie ihr zweites Kind zur Welt, Raphael.
2011 sollte sie zurückbringen auf den Weg nach London. Doch: „Dieses Jahr war das schlimmste.“ Erst fiel ein Hund sie beim Training an und biss sie in den Oberschenkel. Tagelang quälten sie daraufhin Muskelkrämpfe. Das war nichts gegen die Bandscheibenprobleme, die folgten. Dazu kam die Überfunktion der Schilddrüse, ausgelöst durch die Geburt ihres zweiten Kindes. „Beim Laufen hatte ich plötzlich so hohen Herzschlag, dass ich dachte, die Pulsuhr sei kaputt“, erzählte sie. „Wir hatten keine Vorstellung, was es war.“ Kaum war die Anomalie diagnostiziert, verschwand sie ohne Behandlung.
Derweil redet sie die Bedeutung von London 2012 klein. „Ich glaube nicht, dass meine Karriere von einer olympischen Goldmedaille definiert wird“, behauptet sie. „Der Olympiasieg wäre ein Traum. Aber ich kann auch ohne ihn stolz zurückblicken.“
Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 25. September 2011