London 2012 ist das Ziel ihres Lebens. Dort will Irina Mikitenko Olympiasiegerin werden, zwei Wochen bevor sie vierzig Jahre alt wird
Marathonläuferin Mikitenko – Für Olympia auf die Weltmeisterschaft verzichten – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Am Dienstag rannte, als ein Wolkenbruch über Berlin niederging, eine zierliche Frau mit braun gebrannten Beinen und roter Regenjacke durchs Brandenburger Tor. Mal aus Ost, mal aus West, mal von der amerikanischen Botschaft im Süden des Tores her trabte sie einer Kamera entgegen. Selbst als die Aufnahmen im Kasten waren, rannte sie weiter. Im Laufschritt ging’s zum Auto, in rasender Fahrt zog sie sich auf dem Rücksitz um. Nach wenigen Stunden Berlin checkte die Läuferin ein für den Rückflug.
Die Hetze musste sein: Irina Mikitenko kehrt nach Berlin zurück, besser: zum Berlin-Marathon am 25. September. Wenn der Veranstalter an diesem Freitag das prominente Engagement bekanntmacht, will der Fernsehsender n-tv, der diesen größten Lauf Europas überträgt, aktuelle Bilder von der schnellsten deutschen Marathonläuferin zeigen. „Hier hat meine Sportkarriere“ – sie unterbricht sich –, „meine Marathonkarriere angefangen 2007“, sagt sie. „Ein Jahr später konnte ich deutschen Rekord laufen. Mit Berlin verbindet mich viel.“ Beim Istaf-Meeting verbesserte sie 1999 den deutschen Rekord über 5000 Meter. Aber das war in einem früheren Leben, vor dem Marathon.
In Daegu werde sie wegen der Olympischen Spiele fehlen – Sie hat schon zweimal in London gewonnen: 2012 soll die Krönung bei Olympia erfolgen
„Berlin wird kein Neubeginn“, sagt die 38 Jahre alte Athletin, die vor zwanzig Jahren aus Kasachstan kam. „Ich will an das anknüpfen, was ich hier schon erreicht habe.“ Mit ihrem Sieg von Berlin 2008 in 2:19:19 Stunden, mit ihren zwei Erfolgen in London und mit dem Millionengewinn von zwei Jahreswertungen der World Marathon Majors stürmte sie die Spitze der Welt. Seitdem geht’s bergab. Im vergangenen Jahr gab sie in London verletzt auf, in diesem Jahr wurde sie an der Themse in 2:24:24 Stunden Siebte.
Nun sollen wieder bessere Zeiten anbrechen für Irina Mikitenko. Da ist für Weltmeisterschaft und Nationalmannschaft keine Zeit. Vor den Olympischen Spielen 2008 in Peking sagte sie wegen Rückenproblemen ab. Bei der WM in Berlin 2009 fehlte sie, weil ihr Vater gestorben war. Auf die Europameisterschaft von Barcelona 2010 verzichtete sie wegen der Hitze.
In Daegu werde sie nun wegen der Olympischen Spiele fehlen. „Für uns Marathonläufer gibt es nur zwei Möglichkeiten, die Qualifikation für London zu laufen: im Herbst oder im Frühjahr. Man darf sich nicht nur auf eine Möglichkeit verlassen“, sagt sie. „Bei der Weltmeisterschaft in Korea ist es fast unmöglich, eine gute Zeit zu laufen. Es gibt keine Tempomacher, und das Klima ist feindlich.“
„Wenn man unter Druck steht, kommt kein gutes Ergebnis heraus“
London 2012 ist das Ziel ihres Lebens. Dort will Irina Mikitenko Olympiasiegerin werden, zwei Wochen bevor sie vierzig Jahre alt wird. Wie sie plant auch Haile Gebrselassie. Dem Äthiopier, der vor drei Jahren in Berlin den Weltrekord auf 2:03:59 Stunden verbesserte, fehlt in seiner eindrucksvollen Erfolgsbilanz der Olympiasieg in der Königsdisziplin des Langlaufs. London 2012 ist sein letztes großes, sein einziges Ziel. Der Weg führt auch ihn über Berlin. „Wenn man im Herbst keine Quali schafft, steht man unter Druck“, sagt Irina Mikitenko, als spreche sie für den ein Jahr jüngeren Kollegen. „Wenn man unter Druck steht, kommt kein gutes Ergebnis heraus.“
Die flache Strecke, die wirtschaftlichen Möglichkeiten von Sponsor BMW und die Perspektive Olympia könnten Berlin weitere namhafte Teilnehmer bringen. Paula Radcliffe, die mit 2:15:25 Stunden den Weltrekord hält, ist auf der Suche nach einem Qualifikationsrennen. „Ich hoffe, dass wir vor den Olympischen Spielen in einem gemeinsamen Rennen laufen“, sagt Irina Mikitenko. „Wenn sie kommt, wird sie wirklich stark sein.“
Sie selbst widerspricht dem Eindruck, der Zenit ihrer Leistungsfähigkeit sei überschritten. Eine Knochenhautentzündung habe sie 2010 in London zur Aufgabe gezwungen. Platz sieben in diesem Jahr – zugegeben: eine Enttäuschung – sei nicht mit Schwäche, sondern mit Erfahrung zu erklären. „Ich habe gedacht: Das kann doch nicht wahr sein, dass 19 Frauen auf eine Zeit von 2:19 laufen“, erinnert sie sich an den frühen Abschied einer Spitzengruppe. „Bleib realistisch, lauf dein Tempo!“
So rannte sie 25 Kilometer mutterseelenallein durch London, ohne Tempomacher und Begleitung. Es kam, wie es kommen musste: 13 fielen aus der Spitze zurück; Irina Mikitenko ließ sie alle hinter sich. Doch die Zeit war zerronnen. „2:24:24 – klar ärgert man sich“, sagt sie. „Ich bin taktisch klug gelaufen. Aber mit dieser Zeit kann ich in der Weltspitze nicht mitspielen.“
Das soll anders werden.
Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 17. Juni 2011