Die Teilnehmer am Kultlauf am Start von 1974 - Waldschulallee 80 - Foto: Bernd Hübner
Marathon-Fieber oder ein Sonntag in Berlin – Impressionen vom Kultlauf zum Berlin-Marathon im Grunewald und vom Literatur-Marathon im Jazz-Club Schlot am 19. September 2021 – Dr. Erdmute Nieke
In Berlin läuft es wieder – das Marathonfieber steigt, auf Autobahnschildern, im Verkehrsfunk, in den Zeitungen, es ist nicht mehr zu übersehen, am Wahlsonntag 2021 werden sich auch über 25.000 Läufer:innen auf die gewohnte Strecke durch Berlin begeben.
Marathon in Berlin – das ist nicht einfach nur Sport, Marathon in Berlin – das ist Lebensgefühl, das ist Gemeinschaft, das ist Kultur, das ist Kunst!
Am Sonntag vor DEM Sonntag treffen sich Berliner Läufer:innen auf der Originalstrecke vom ersten Berlin-Marathon 1974. Sie laufen ein lockeres Abschlusstraining vor dem Berlin-Marathon. Auf der sonst verkehrsberuhigten und ruhigen Waldschulallee am Rande des Grunewaldes fanden sich vor der Heinz-Galinski-Schule weit über 50 Läufer:innen ein. Genau an der Stelle, wo 1974 der Startschuss für 286 Läufer:innen gegeben wurde, stand 2021 der Begründer des Berlin-Marathons, der inzwischen 82 jährige Horst Milde mit seiner Frau Sabine und gab den Startpfiff pünktlich um 9 Uhr.
Warum verdient diese Veranstaltung den Namen Kultlauf? Neben Horst Milde waren zwei Läufer des ersten Berlin-Marathons unter uns, unser Lauftreffgründer Bernd Hübner, 1974 unter der Nummer 201 gestartet, er begleitet uns mit seinem Brommi-Rad und Peter Bartel, 1974 unter der Nummer 48 gestartet, er begleitet uns mit seinem Tretroller.
Kurz vor dem Start des Kultlaufes: Horst Milde (lks.) – statt mit Startpistole mit Trillpfeife – Foto: Bernd Hübner
Die bunte Läufer:innenschar ergoss sich von der Waldschulallee auf die Eichkampstraße und dann auf den Kronprinzessinenweg, parallel zur AVUS. Ganz nach Lust und Laune kehrten die verschiedenen Tempogruppen nach fünf oder nach acht Kilometern wieder um.
Für die Marathonläufer:innen des Lauftreffs Bernd Hübner war dieser entspannte Lauf durch den Grunewald zugleich das Abschlusstraining von zwölf gemeinsamen Laufsonntagen – jede Marathonläuferin kennt den Begriff der langen Läufe.
Nach dem Laufen verwandelte sich die Wiese vor dem Mommsenstadion in ein riesiges Buffet mit Kuchen und vielen anderen Näschereien, jede:r trug was bei. Energie für den Marathonsonntag!
Den Laufbetreuer:innen Bärbel, Bernd und Peter überbrachte die Laufgruppe einen großen Dank, denn jeden Sonntag und bei jedem Wetter waren sie für die Marthonis da und versorgten alle unterwegs mit der nötigen Energie, mit Wasser und Cola, mit Gummibärchen, Melonen und Salzstangen. DANKE dafür!
Ein Läufer aus Bielefeld war sogar unter uns – und zwar nicht irgendeiner, sondern der Marcel Reich–Ranicki der Laufliteratur, Prof. Dr. Detlef Kuhlmann.
Meine Vorfreude auf den Nachmittag und Abend stieg bereits beim Gespräch am Kuchen-Buffet mit ihm. Im Corona-Jahr hatte ich auch einige Laufbücher verschlungen. Detlef kannte sie alle, bei einigen waren wir uns sofort einig, wie lesenswert sie sind.
Mein Sonntagabend gehörte dann dem Literatur-Marathon, auch das eine Kult-Veranstaltung! Detlef Kuhlmann verantwortet sie bereits seit 1990! Zu Gast ist dieser andere Marathon jedes Jahr im Schlot in den Edisonhöfen in Berlin-Mitte.
John Kunkeler betreibt nicht nur den Jazzclub Schlot, er organisiert auch den Musik-Marathon und ist der Vermesser der Marathonstrecke. Er begrüßte alle Gäste und freute sich, dass der Literatur-Marathon seine erste 2G-Veranstaltung ist, wir dürfen gemäß der aktuellen Corona-Verordnungen die Masken abnehmen. Welch ein Gefühl!
Und dann gehörte dieser Abend unter eine Frage: Gibt es irgendeinen Text über das Laufen, den Detlef Kuhlmann nicht kennt? NEIN.
Noch ganz druckfrisch, im zweiten Coronasommer von Detlef Kuhlmann herausgegeben: „…auf den letzten Metern – Momente des Zieleinlaufs“ arete-Verlag Hildesheim 2021, ISBN 978-3-96423-058-4. Detlef hat unglaubliche 50 Berichte von (Ultra-)Marathon-Läuferinnen und Läufern zusammen gestellt, die von ihren Zieleinläufen berichten, erzählen oder dichten. Sieben von den 50 Texten durften wir lauschen.
In chronologischer Reihenfolge begann Marcus Pinsker mit dem Zieleinlauf beim Mauerweglauf – 100 Meilen von Berlin, die Gedanken- und die Gefühlswelt bei den letzten der 161 Kilometer gehen mir unter die Haut, da ich als Staffelläuferin des Mauerweglaufes jede Kurve und jede Wegbeschreibung in das Ziel in den Jahn-Sportpark im Prenzlauer Berg kenne. Das Buch, aus dem der Text entnommen ist kaufe ich auch gleich nach der Lesung: Marcus Pinsker, Die unsichtbare Mauer. Eine Grenzerfahrung, der Mauerweglauf: 100 Meilen von Berlin, arete Verlag Hildesheim, 2020, ISBN 978-3-96423-035-5.
Der zweite Vorleser ist Siegfried R. Schmidt, er hat seine Laufgedanken in ein Gedicht verpackt und wir erhalten noch Zugaben, da Gedichte ja so kurz sind.
Der dritte ist kein Unbekannter in der Laufszene, am Vortag hat er den Horst-Milde-Award erhalten: Prof. Alexander Weber, der Initiator der Lauftherapieausbildung in Deutschland, liest über den Frust eines ehrgeizigen Marathonläufers, der die Dreistundenmarke um eine Minuten und 29 Sekunden verfehlt. Da freut sich die Hörerin, dass sie solchen Ehrgeiz beim Marathon nicht hat und was ihr dadurch alles erspart bleibt.
Der vierte Vorleser – es ist für mich der Text, der die meiste Gänsehaut auslöst – Hubert Karl wird am nächsten Sonntag seinen 23 Spartathlon laufen. Das sind 246 Kilometer von Athen nach Sparta. Wahnsinn! Er beschreibt die Leiden und Freuden auf dieser Strecke.
Dann wird es kriminell, der fünfte Vorleser Klaus Eckardt, liest von einen Mann der während des Zieleinlaufes des Einstein-Marathons vom Ulmer Münster springt, verschiedene Andeutungen lassen die Hörer:innen vermuten, dass es sich nicht um einen Suizid handelt, bleibt nur den gesamten Krimi mit dem Titel „Bestzeit“ zu lesen.
Den sechsten Text kenne ich als Läuferin im LT Bernd Hübner natürlich schon: Detlef Kuhlmann hat gemeinsam mit Bernd Hübner die Liebeserklärung an den Berlin-Marathon 2007 verfasst. Zieleinlauf von Bernds 32. Berlin-Marathon im Jahr 2005. Detlef liest für Bernd. Drei wunderbare Sätze bleiben mir im Kopf: „Die Blue-Line kennt den Weg und ich das Ziel. Wir tun uns zusammen. Ich werde es schaffen.“ Kann das Laufgefühl des Berlin-Marathons schöner beschrieben werden? NEIN!
Der siebte Text: Endlich steigt eine Frau die zwei Stufen auf die Bühne. Iris Gehrmann nimmt uns mit nach New York! Gleich ihr erster Marathon in New York und das Publikum im Schlot leidet mit – ob ich ihn auch mal wagen sollte den New York Marathon?
Wow, in kappen zwei Stunden sieben so verschiedene Laufemotionen! Zum Glück muss ich viel S-Bahn fahren, da werde ich nun die anderen 43 Texte noch lesen, denn ganz klar habe ich mir das Buch vor Ort gekauft, der Verleger Christian Becker vom arete Verlag war für den Büchertisch selbst aus Hildesheim gekommen.
DANKE Detlef Kuhlmann, DANKE John Kunkeler – macht Ihr mit dem Literatur-Marathon unbedingt weiter und wir beim Lauftreff Bernd Hübner mit dem Kultlauf!
Berlin 2022 – 18. September – wir sehen uns! Denn der Berlin-Marathon ist nicht nur Sport! Der Berlin-Marathon ist Lebensgefühl und Gemeinschaft, Kultur und Kunst!
Dr. Erdmute Nieke
Detlef Kuhlmann (Hg.): … auf den letzten Metern. Momente des Zieleinlaufs. Hildesheim 2021: Arete-Verlag. 200 S.; 20 € – Titelfoto Horst Milde.