
Wachturm der JVA Plötzensee ©JoAnna Zybon
LSD im Gefängnis – JoAnna Zybon berichtet
In der jüngeren Läufergeneration ist das Wissen leider ein bisschen verloren gegangen, aber die älteren Läufer erinnern sich noch sehr wohl daran, was sich hinter dem Kürzel „LSD“ verbirgt: Es steht für „Long Slow Distance“ und geht auf den Arzt und Laufpionier Dr. Ernst van Aaken zurück, der in den 50er Jahren die Ausdauermethode propagierte: tägliche lange Laufeinheiten im aeroben Bereich statt hartem Intervalltraining.
Der 3. Berliner Lauf für Gefangene 2016 kurz nach dem Start – Horst Milde
Auch in der Laufgruppe der JVA Plötzensee ist Long Slow Distance mittlerweile ein Begriff. Für die Inhaftierten gilt dieses spezielle LSD quasi als erlaubte Droge, denn in der Extremsituation des Gefängnisses spüren die Läufer die guten psychischen Laufeffekte sehr stark, vor allem die seelisch befreiende Wirkung.
Damit gehören sie zur großen Berliner Lauffamilie, denn auch die Läufer „draußen“, die nicht im Gefängnis wohnen, fühlen sich manchmal in übertragener Weise gefangen. Sie sind gebeutelt, beschwert und gestresst und nutzen die Freiheit des Laufens, um sich besser zu fühlen.
Die herrlich befreiende Wirkung des Dauerlaufs auf die Seele ist somit für alle „Gefangenen“ ein Segen, ob sie nun im richtigen Knast stecken oder sich nur in ihren Alltagssorgen gefangen fühlen.
An der Laufstrecke – rechts mit Mikrofon John Kunkeler – Horst Milde
Also ist es nur logisch, dass die Berliner Lauffamilie zumindest einmal im Jahr die Chance hat wirklich zusammenzukommen: So, dass auch die Inhaftierten dabei sind.
Das geht nur innerhalb der Gefängnismauern und nur symbolisch, denn selbstverständlich dürfen nicht alle Häftlinge mitmachen und kann lediglich eine ganz kleine Schar externer Läufer an einem Gefängnislauf partizipieren. Dabei geht es keineswegs darum, den Erlebnishunger der Läufer von „draußen“ zu befriedigen, sondern darum, ein Zeichen zu setzen: wir alle sind Läufer.
Im Startblock und im Läufergemenge spürt man ein fast archaisches Gefühl von Zusammengehörigkeit über alle Rassen, Klassen und Zugehörigkeiten hinweg.
Wie wunderbar dass in der JVA Plötzensee schon drei Auflagen des 10 km-Laufs für Gefangene stattgefunden haben: Männer und Frauen von „draußen“ und „drinnen“ friedlich bei einer organisierten Laufveranstaltung im Knast. Die Inhaftierten kamen aus allen Berliner Anstalten. In allen drei Jahren gab es viele berührende und lustige Begegnungen und Begebenheiten, die sich so bei keinem anderen Berliner Laufevent ereignet haben könnten.
Die Strecke rund um den Fussbalolatz in der JVA – Horst Milde
Und wie so oft in der Historie von Laufveranstaltungen hat einer besonders viel auf dem Kerbholz: Das ist wieder einmal Horst Milde. Ein Wiederholungstäter! Der Vater des Berlin- Marathon, des Halbmarathon, des Berliner Frauenlaufs, der Berliner City-Nacht und vieler anderer legendärer Laufveranstaltungen hat auch den Gefängnislauf ausgeheckt.
Wie das kam?
Am 21. Juni 2013 besuchte Horst Milde die Laufgruppe der JVA Plötzensee, lief gemeinsam mit den Gefangenen über eine Stunde lang auf der eckigen und holprigen 377-m-Runde, absolvierte die nervige Gymnastik ohne zu Mucken, plauderte fleißig, insbesondere mit Erik Fuchs, dem damaligen Chefredakteur der Gefängniszeitung „Gitter weg“ und war sich auch nicht zu fein, nach dem Training ungeduscht eine Kaffeerunde mit den Gefangenen zu zelebrieren.
Die Laufstrecke 1000m in der JVA – Axel Belger
Horst Milde wäre nicht Horst Milde, wenn er von diesem Gefängnisbesuch nicht etwas mitgebracht hätte. Natürlich darf man im Knast weder etwas rein- noch rausschmuggeln, aber Ideen sind unsichtbar.
Die Idee – ok, das ist jetzt keine große Pointe mehr – lautete, innerhalb der JVA einen 10-km-Lauf für „Interne“ und „Externe“ zu realisieren. Erik Fuchs und Horst Milde haben diese Idee gemeinsam ausbaldowert, aber Horst Milde musste alle Strippen ziehen, um sie der Justiz schmackhaft zu machen.
Wenn man bedenkt, dass es nun einmal der Sinn eines Gefängnisses ist, die Bewegungsfreiheit von Menschen einzuschränken, sind die Widerstände gegen so eine verrückte Vision allzu verständlich.
Heute erscheint nicht nur der bereits dreimal realisierte 10-km-Lauf wie ein Wunder, sondern auch die Tatsache, dass es überhaupt Lauftraining im Knast gibt.
Die Laufgruppe der JVA Plötzensee existiert seit dem 12. Oktober 2012. Allein um dieses Training zu initiieren bedurfte es ebenfalls eines Kämpfers und Strippenziehers, der innerhalb der JVA diese Idee durchboxen musste.
Das war Reinhard Röcher, ambitionierter Marathonläufer und Jubilee-Mitglied beim Berlin-Marathon, damals Teilanstaltsleiter in der JVA Plötzensee. Ohne Reinhard Reinhard Röcher hätte es diese Laufgruppe nicht gegeben. Folglich hätte Horst Mildes Besuch gar nicht erst stattgefunden … etc.
Wie schön dass es Kämpfer gibt wie Reinhard Röcher, Horst Milde, Dr. Ernst van Aaken …
Es ist zu hoffen, dass LSD in den Berliner Knästen weiter legalisiert wird.
Die vierte Auflage des 10-km-Laufs für Berliner Gefangene ist für den 13. Oktober 2017 geplant.
JoAnna Zybon
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