Londons Olympiavorbereitung - Wunsch und Wirklichkeit - Michael Reinsch, London in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©ICSSPE/CIEPSS
Londons Olympiavorbereitung – Wunsch und Wirklichkeit – Michael Reinsch, London in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die Londoner U-Bahn ist mehr als ein Transportmittel. Sie ist auch eine Attraktion. Die Aufforderung, nicht in die Lücke zwischen Bahn und Steig zu treten, schmückt Postkarten und T-Shirts: „Mind the Gap!“ Am Montag offenbarte sich, wie belastet die Infrastruktur der kommenden Olympiastadt ist. Eine Hauptwasserleitung bei Croydon im Süden Londons platzte und löste einen Erdrutsch aus. Das Rohr dürfte aus dem vorvergangenen Jahrhundert stammen.
Während einige zigtausend Familien daraufhin auf dem Trockenen saßen, strandeten diejenigen, die mit der Bahn nach Süden in die Ferien, von der Arbeit nach Hause oder vom Flughafen Gatwick in die Stadt wollten. Die Schienen waren unter zweieinhalbtausend Tonnen Sand verschüttgegangen. Bis in die folgenden Tage fielen Züge aus, hatten Flüge Verspätung, weil nicht nur Passagiere, sondern auch das Personal nicht rechtzeitig kam.
Mind the Gap: Manchmal tut sich die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit schneller auf als gedacht. Noch am Donnerstag vergangener Woche, ein Jahr vor der Eröffnungsfeier, hatte Bürgermeister Boris Johnson auf dem Trafalgar Square getönt, „die großartigsten Spiele in der großartigsten Stadt der Welt“ könnten eigentlich schon morgen beginnen, so gut sei man vorbereitet.
Vier Tage später – das entspräche, nähme man ihn beim Wort, Tag drei der Spiele mit Entscheidungen in Schwimmen, Schießen, Judo, Wasserspringen, Gewichtheben, Fechten und Turnen – herrschte Chaos im Süden von London. Und selbst ohne Pannen ächzt der Nahverkehr vernehmlich. Verkehrsminister Philip Hammond rief Londoner Unternehmen dazu auf, ihren Angestellten Heimarbeit zu ermöglichen oder ihnen und der Stadt das Pendeln auf andere Weise zu ersparen. Eine Million Olympia-Besucher werden erwartet.
In der Containerreihe am Bahnhof Pudding Mill Lane, wo Wiesen blühen und Brombeeren und Hagebutten reifen, ist nichts davon zu spüren. Hier wirft eine Touristengruppe nach der anderen einen Blick in die Zukunft, ach was: auf die Zukunft. Denn sie hat sich jenseits des Bauzaunes bereits stolz aufgerichtet – das Olympiastadion aus gigantischen Stahlrohren, der rote Turm aus Stahlrohr, das beschwingte Schwimmstadion mit den mächtigen Tribünenanbauten, die Basketballhalle aus silbernem Kunststoff, das Velodrom mit dem spektakulären Dach, das Olympische Dorf mit Platz für 17.000 Athleten und Offizielle, das Medienzentrum mit 20.000 Arbeitsplätzen.
Welche Dimensionen: Den kurzen Bahnsteig von Pudding Mill Lane überragen die Regionalzüge vorne und hinten. Gleichzeitig entstehen auf der anderen Seite des Olympiageländes fünftausend Wohnungen und eine der größten Shopping Malls Europas.
In den Containern im Rücken der Besucher, der „View Tube“, werden T-Shirts verkauft und wird das olympische Erbe beworben. „Als wir 2005 den Zuschlag für die Spiele bekommen haben“, sagt eine Fremdenführerin, „wären Sie hier nie und nimmer abends allein hingegangen“. Sie ist begeistert. Wo Schrottplätze und Müllhalden den Abstieg der Docklands signalisierten, wo das Schimpfwort von „Stinky Stratford“ seinen Ursprung nahm, locken jetzt Rad- und Wanderwege entlang des renaturierten River Lea bis zu einem Hafenbecken der East India Company an der Themse, entstehen Arbeitsplätze auf dem Bau und in Büros.
Zwei neue Bahnlinien werden das Eastend und Stratford näher an die Stadt heranrücken. Bei den Spielen sollen sie bis zu 125 000 Besucher pro Stunde bewegen; der Schnellzug „Javelin“, „Speer“, soll einen Teil von ihnen und vor allem die Sportlerinnen und Sportler in sieben Minuten zum elf Kilometer entfernten Londoner Bahnhof St. Pancras bringen. Bei den zu erwartenden Sicherheitskontrollen sind auch an den Eingängen des Parks lange Staus zu erwarten.
„Wenn wir zwanzigtausend Leute aus der Arbeitslosigkeit holen“, sagt Robin Wales, der Bürgermeister des Boroughs Newham, zu dem Stratford gehört, „dann erreichen wir den Londoner Durchschnitt.“ In der Hauptstraße von Stratford, dem Broadway, versteht jeder sofort, warum Sebastian Coe, der Chef des Organisationskomitees, jeder Nationalmannschaft ein Heimspiel versprochen hat: Die Menschen scheinen von allen Kontinenten und aus allen Ländern der Welt hierhergekommen zu sein. Die Hoffnung, in der Hauptstadt des Commonwealth ihr Glück zu machen, hat über die Generationen offenbar einen anderen Ausdruck gefunden. Neben den auffällig vielen Maklerbüros im Zentrum von Stratford fällt die erstaunliche Menge von Wettanbietern auf.
Sebastian Coe sagt, das Organisationskomitee habe 19 Prozent der Beschäftigung an Menschen aus der Region vergeben. Bürgermeister Wales bestreitet das; Arbeiter aus ganz Europa hätten sich in der Nähe der Baustelle angemeldet. Sie würden nun mitgezählt. „Wir wollen, dass unsere Bürger sich als Teil der Spiele fühlen“, sagt er, „und die Spiele ihnen nicht einfach passieren.“
Deshalb hat er eine Arbeitsvermittlung und ein Qualifikationszentrum gegründet. Deshalb kämpfte er, erfolglos, um Tausende Eintrittskarten für die Nachbarschaft. Deshalb hat er durchgesetzt, dass die Hälfte der 2800 Wohnungen des Olympischen Dorfes nach den Spielen die Verwaltung von Newham zu subventionierten Mieten vergeben wird. Das ist eine Ost-West-Geschichte, die man auch aus Deutschland kennt:
Alle sollen teilhaben, wenn sich neue Chancen bieten, niemand soll vertrieben werden, wenn Besserverdienende aus dem Westen zuziehen. Mind the Gap.
Michael Reinsch, London in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 3. August 2011