2012 Kenya Kenya February 2012 Photo: Giancarlo Colombo@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
London-Marathon – Der Modus heißt Attacke – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
21.04.2012 · Die jungen Kenianer auf der Marathonstrecke haben eine neue Mentalität. Sie kennen keine Grenzen, sind ständig auf Bestzeiten aus. Den London-Marathon an diesem Sonntag zu gewinnen wird schwieriger sein, als Olympiasieger zu werden.
Wer kenianische Athleten als stille Herrscher des Langlaufs erlebt, als elegante Überflieger, die bei den Marathons der Welt mühelos siegen: In Iten kann er sie Staub schlucken sehen. Hier, in der Höhenluft ihres Mekkas, kann er sie schnaufen und ächzen hören, hier kann er erleben, wie sie leiden. Zweimal in der Woche treffen sich die Besten bei Sonnenaufgang auf der unbefestigten Bahn des Stadions. Ihr Training ist mörderisch.
Wilson Kipsang führt seine Trainingsgruppe von dreißig, vierzig Mann in langgezogenen Sprints durchs Rund. Ausnahmsweise tragen die schlanken, sehnigen Männer kurze Hosen und ärmellose Trikots. Ihre stundenlangen Läufe auf den roten Staubstraßen rund um Iten absolvieren sie, gern auch zweimal am Tag, in langen Hosen und Windjacken, manchmal sogar mit Mütze und Handschuhen.
Nicht so, wenn Kipsang ihnen einheizt. 600 Meter spurtet die Gruppe, als ginge es um alles. Dann sind sechzig Sekunden Pause. Nach wenigen Wiederholungen ringen die Ersten nach Atem in der dünnen Luft. Kipsang trabt mühelos in der Spitzengruppe. Als nach etwa zehn Intervallen die ersten Opfer auf den Rasen des Innenraums sinken, forciert der Champion. Fünfmal nacheinander läuft er im leuchtend gelben Trikot die anderthalb Runden allein zu Ende. Die Nächsten kämpfen mit schmerzverzerrten Gesichtern um Anschluss. Die anderen stampfen mit schweren Beinen und stechender Brust über die Bahn.
Geballte Laufwunder: „Wir sind so viele so starke Typen“
Tempoarbeit, das war früher Nebensache für Marathonläufer. In so weiter Ferne lag ihr Ziel, 42,195 Kilometer, dass es aufs Durchhalten ankam, nicht auf Spurtkraft. Heute heißt die Devise: Tempo wirkt. Nie zuvor sind Marathonläufer so schnell gerannt, vom Start weg. Nie zuvor sind sie dabei so schnell verbrannt. Sieg oder Scheitern heißt es für Marathonläufer heute, Rekord oder Einbruch.
Für den London-Marathon an diesem Sonntag prognostizieren Trainer und Läufer neue Bestzeiten und sogar Weltrekorde. „Wir sind so viele so starke Typen“, sagt Kipsang, als er ein T-Shirt übergezogen und ein wenig Luft geschnappt hat, über seinen Start in London. „Wenn das Wetter gut ist und wir durchziehen, könnte es passieren.“
Im Oktober unterbot Kipsang bei seinem Sieg in Frankfurt in 2:03:42 Stunden den drei Jahre alten Weltrekord von Haile Gebrselassie um siebzehn Sekunden – allerdings fünf Wochen zu spät. Sein kenianischer Landsmann Patrick Makau war Ende September in Berlin vier Sekunden schneller gelaufen. „Das war keine Enttäuschung“, sagt Kipsang optimistisch. „Jetzt weiß ich, dass ich es kann.“
Der Weltmeister: Abel Kirui
In den Marathon ist ein unheimlicher Schwung gekommen. Von den zehn besten Ergebnissen der Welt sind fünf noch kein Jahr alt. Die Sensationszeiten, die Geoffrey Mutai in 2:03:02 Stunden beim Boston-Marathon 2011 und Moses Mosop nur vier Sekunden dahinter erzielten, sind dabei nicht einmal berücksichtigt; der Weltverband IAAF hat sie wegen der abschüssigen Strecke nicht anerkannt. Im Januar gab der 21 Jahre alte Äthiopier Ayele Abshero in Dubai sein Debüt mit 2:04:23 Stunden, der viertschnellsten je gelaufenen Zeit. Sechzehn der besten zwanzig Marathonläufer haben ihre Bestzeit in den vergangenen drei Jahren erzielt. Die zwanzig schnellsten Läufer des vergangenen Jahres sind Kenianer.
Die Zwei-Stunden-Marke „knacken“
„Wir Kenianer gehen mit der Zeit“, sagt Weltmeister Abel Kirui mit breitem Grinsen, als er sich nach dem Training auf der Terrasse des Kerio View, des besten Hotels am Platze, einen Mangosaft gönnt. „Wir ändern unser Training wie andere die Software.“
Als wäre der Marathon ein Computerspiel, heißt der Modus Attacke. Wie auf der Jagd habe Makau bei seinem Weltrekord in Berlin den alten Meister Haile Gebrselassie angegriffen, erinnert sich Kirui lachend: „Er hat ihn attackiert wie eine Antilope.“
Nun ist der erst ein halbes Jahr alte Weltrekord fällig. Man müsse den Halbmarathon in 58 Minuten laufen, sagt Kirui, und das zweimal nacheinander: „So knackst du die zwei Stunden.“ Nur sieben Läufer haben je weniger als 59 Minuten für die 21097,5 Meter gebraucht. In den nächsten ein, zwei Jahren, räumt Kirui ein, dürften sich Marathonläufer noch mit dem Limit von 2:02 Stunden plagen.
Sieger des Frankfurt-Marathons: Wilson Kipsang
„Die jungen Athleten haben eine neue Mentalität. Sie kennen keine Grenzen“, sagt Renato Canova. Der Italiener lebt in Iten und trainiert Mosop und Kirui. Als Durchbruch des neuen Stils, des Spurts jenseits des Limits, hat er den Erfolg von Olympiasieger Sammy Wanjiru beim London-Marathon 2009 in Erinnerung. „Sammy lief die ersten zehn Kilometer in 28:32 Minuten“, rechnet er vor; das entspricht 2:51 Minuten pro Kilometer. Mit diesem Tempo bis zum Schluss hätte Wanjiru an den zwei Stunden gekratzt. Es ist heikel, diese Vollgas-Strategie, wie es fassungslose Reporter taten, als wahnsinnig zu beschreiben. Denn Wanjiru lebte wie er rannte: schnell und ohne Besinnung. Vor einem Jahr, am 15. Mai, starb er mit 24 Jahren, als er im Rausch aus dem Fenster stürzte.
„Die Tragödie von Sammy Wanjiru hat einigen Eliteläufern deutlich gemacht, dass es im Leben nicht nur um Geld geht und darum, der Schnellste zu sein“, sagt Brother Colm O’Connell. „Vielleicht gerade rechtzeitig.“
Der irische Laien-Bruder dürfte der beste Kenner des kenianischen Langlaufs sein, kam er doch vor 37 Jahren ins Land, fünf Jahre früher als Canova, und wurde Trainer der Schulmannschaft der St. Patrick’s High School in Iten. Peter Rono und Wilson Kipketer waren die ersten Champions seiner Schule, Weltmeister und Olympiasieger, und durften auf dem Schulgelände einen Baum pflanzen. Inzwischen wächst dort ein Wald. Der 800-Meter-Läufer David Rudisha, Brother Colms 24. Weltmeister, wird mit einem Busch vorlieb nehmen müssen, wenn er im Sommer als Olympiasieger aus London zurückkehrt.
Ihm fehlten nur wenige Sekunden zum Weltrekord: Kipsang in Frankfurt
Brother Colm und Trainer Canova verkörpern, was den kenianischen Langlauf ausmacht. Da ist zum einen seine Basis im Schulsystem, das die britische Kolonialmacht hinterlassen hat, mit täglicher Sportstunde und wöchentlichen Wettkämpfen. Und da ist zum anderen der hochtourige Antrieb einer hochprofessionellen Straßenlauf-Szene, die Veranstalter und Sponsoren mit unglaublichen Summen Geldes in Schwung halten.
Als Anfang der neunziger Jahre Unternehmen wie Fila und Manager wie Giovanni di Madonna und Kim McDonald Athleten suchten für die neuen Stadtläufe und City-Marathons, stießen sie in Kenia auf eine Goldmine. Bis zu vierhundert Läufer kamen damals zu Trainingslagern zusammen. „Man musste kein Trainer sein“, erinnert sich Canova. „Man war Fischer.“
Zustrom des Lauf-Prekariats
Seitdem herrscht Goldgräberstimmung in Iten. Aus dem Flecken von viertausend Einwohnern ist der Nabel der Laufwelt geworden, eine Boomtown mit Bretterbuden und einem so schlimmen Viertel, dass die Einheimischen es Bagdad nennen. Auf 800 bis 2000 wird die Zahl der Läuferinnen und Läufer geschätzt, die hier trainieren. Manche kommen nur einige Wochen, um vom Höheneffekt zu profitieren, andere bleiben, um sich ständig mit den Besten der Welt zu messen. Von ihren Preisgeldern kaufen sie Grundstücke und bauen große Häuser.
Bürgermeisterin Mary Ruto ist der ungeordnete Zustrom eines Lauf-Prekariats ein Dorn im Auge. Sie werde den Bau neuer Trainingslager verhindern, schimpft sie. Doch Lauf und Hoffnung sind eins in Iten. Auch wenn die Luft an der Spitze viel zu dünn ist für die meisten: Immer neue Langlauf-Aspiranten quartieren sich in schäbigen Quartieren ein und rennen um ihr Leben.
Auch sie sind im Stadion, wenn Kipsang läuft. Können sie mithalten, hoffen sie, öffnet sich ihnen das Tor zur Welt der Preisgelder und Sponsorverträge. Jeder Weiße im Stadion könnte ein Manager sein. Im vergangenen Monat suchten ein Manager Läufer für die türkische Nationalmannschaft und ein Coach Stipendiaten für eine amerikanische High School.
Der Armut rasch entkommen
Das Glück liegt auf der Straße. „Selbst Läufer, die auf der Bahn Erfolg haben, müssen draufzahlen“, behauptet Canova. „Kein Wunder, dass sie zum Marathon wechseln.“ Für Spitzenläufer wie Makau haben Cross- und Bahnrennen nie eine Rolle gespielt. „Ich habe die Abkürzung aus der Armut genommen“, sagt er.
Preisgeld, Rekordprämien und Antrittsgeld von einigen hunderttausend Euro haben den Marathon so attraktiv gemacht, dass ihn die hungrigen Kenianer längst nicht mehr Veteranen der Bahn überlassen. „Junge Athleten können sich im Training anders belasten als alte“, sagt Canova. „Niemand wird behaupten, dass ein Gebrselassie Mitte dreißig auf dem Zenith seiner Leistungsfähigkeit war.“ Die Jungen schlagen im Training ein höheres Tempo an und laufen weiter.
Sie sorgen für die Leistungsexplosion im Marathon. Von Doping will Canova nichts wissen: Epo-Doping funktioniere bei Spitzenläufern aus Kenia nicht. Denn nicht eine Vermehrung des Hämatokrits im Blut, wie sie Epo hervorrufe, sei deren Geheimnis, sondern die Erhöhung ihres Blutvolumens. Um bis zu ein Viertel steigerten kenianische Athleten die Menge ihres Blutes, das entspricht reichlich einem Liter – und damit ihre Ausdauer.
Drei Startplätze für fast 300 Bewerber
Wenn es schon nicht die Distanzen sind, die kenianische Langläufer überfordern: Oft genug schlägt der plötzliche Reichtum ihnen die Füße weg. Mindestens einer aus der Galerie seiner elf kenianischen Siegerinnen und Sieger, die der London-Marathon an eine Mauer in der Provinzhauptstadt Eldoret malen ließ, ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere im Delirium versunken. Bahnläufer gewinnen viele kleine Prämien; damit lässt sich umgehen. Für Marathonläufer ist höchsten zweimal im Jahr Zahltag, dann aber unter Umständen gewaltig. Das Unglück erfolgloser Goldsucher ist banal, das der erfolgreichen ist episch.
Bis Mitte März hatten 278 kenianische Marathonläufer die Norm zur Qualifikation für die Olympischen Spiele unterboten, 2:15 Stunden. Seine drei Startplätze will der kenianische Verband Ende April besetzen. Deshalb stellen sich Makau und Kipsang, die Nummern eins und zwei der Rekordliste, sowie Weltmeister Kirui beim London-Marathon ihren kenianischen Herausforderern.
„Es wird schwieriger, den London-Marathon zu gewinnen“, freut sich Renndirektor David Bedford, „als Olympiasieger zu werden.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 21. April 2012