2012 London Olympic Games London, England Aug03-12 2012 Photo: Giancarlo Colombo@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
LONDON 2012 – Usain Bolt – Die Welt im Sprint erobern – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
05.08.2012 · Usain Bolt ist ein Junge vom Land. Seine Geschichte ist ein jamaikanisches Märchen. An diesem Sonntag – im Finale um 22.50 Uhr – will er wieder Olympiasieger über 100 Meter werden.
Fernsehen ist schlecht“, scherzte Usain Bolt einmal und lachte das tiefe, kehlige Lachen, das ihn nie verlässt. „Seit ich so viel Discovery Channel gucke, springe ich nicht mehr in die grünen Flüsse hier in Jamaika. Fernsehen ist schlecht für Leute, die in Flüsse springen.“
Der schnellste Mann der Welt, die Ikone der Leichtathletik mit buchstäblich weltweiter Ausstrahlung, einer der reichsten Sportler der Welt, fühlt sich trotz Sonnenbrille, Sportwagen und eigener Modelinie viel weniger glamourös, als er wirkt. „Ich bin ein Junge vom Land“ findet er, „und das ist auch gut so. Den Kindern, die in der Stadt aufwachsen, fehlt so viel.“ Etwa der Auslauf, wie ihn Bolt in Sherwood Content hatte.
Hinter seinem schlichten Elternhaus in der kleinen Siedlung im Trelawny Parish, auf halbem Wege zwischen Kingston und Montego Bay, geht es einen Berg hinauf. Er ist von Palmen bestanden. Die rote Sandpiste vor der Haustür war noch nicht asphaltiert, als der kleine Usain und seine große Schwester Christine hier aufwuchsen; sie konnten rennen und radeln, ohne Gefahr zu laufen, überfahren zu werden – Autos, die schnell fuhren, drohten eher auseinanderzufallen als Gefahr für andere zu entwickeln.
Der Junge lief barfuß. Er trank Brunnenwasser, und er aß Yam. Von Michael Johnson, der sein sportliches Vorbild werden sollte, hörte er im Radio. Selbst wenn seine Eltern ein Fernsehgerät besessen hätten: Dort hinter den sieben Bergen des Cockpit Country gab es keinen Empfang. Und deshalb gab es auch keinen Anreiz für den energiegeladenen Usain, auch nur eine Sekunde im Haus zu verbringen.
„Ich bin als Kind immer hin und her gerannt und hoch und runter geklettert“, erinnert sich Bolt. „Da haben sie mich zum Doktor gebracht.“ Wer weiß, in der Stadt hätte der Arzt womöglich ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert und das Kind mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Der erfahrene Landarzt jedoch empfahl Wellesley und Jennifer Bolt, ihren Sohn toben zu lassen. Nun gut, erinnert sich Wellesley, manchmal musste er den zappeligen Usain festhalten, damit er zum Essen bei Tisch blieb. Seitdem lebt Bolt, wie es der Doktor empfohlen hat. „Eigentlich hat sich nichts geändert“, scherzt er. „Heute verbrauche ich meine Energie im Training.“
Britain Olympics Usain Bolt © dapd
Allgegenwärtig: Bolt grüßt als Pappkamerad am Flughafen Heathrow
An diesem Sonntag (Finale um 22.50 Uhr MESZ im FAZ.NET-Liveticker) will er über 100 Meter seinen Olympiasieg von Peking wiederholen, bei dem er mit offenem Schuh und sich auf die Brust trommelnd ins Ziel rannte. Den Weltrekord von damals, 9,69 Sekunden, hat er ein Jahr später in Berlin auf 9,58 verbessert. Niemand anders ist je schneller als 9,6 Sekunden auf den hundert Metern gelaufen. Am Samstag im Vorlauf hat noch der Jogger-Modus gereicht, um in 10,09 Sekunden weiterzukommen.
Mit schwarzer Ölfarbe Bahnen ins Gras gemalt
„True story“, sagt Usain Bolt, „wahre Geschichte: Einen Sonntag wollten wir eine Radtour machen, meine Freunde und ich. Wir haben uns Proviant eingepackt und sind losgefahren. Es war schön und alles. Mittags hielten wir an, nahmen die Rucksäcke ab und aßen und tranken. Da dachte ich mir schon: Das hätten wir nicht machen sollen. Dann mussten wir den ganzen Weg zurückfahren. Das war hart. Aber am schlimmsten war es am Montag. Mein Rücken tat weh, meine Beine schmerzten, ich konnte nicht trainieren. Wenn ich jetzt im Fernsehen so etwas wie die Tour de France sehe: Wahnsinn! Vor allem, wenn sie bergauf fahren. Zwanzig Minuten lang!“
Weil kein Schulbus fuhr, chauffierte ein befreundeter Taxifahrer den jungen Usain täglich zur Schule. Der Kontrast zwischen vermeintlichem Luxus und offensichtlichem Mangel ist frappierend. Es gibt keine Feuerlöscher in der William Knibb Memorial High School, an der der Läufer Bolt entdeckt wurde. Aber es gibt zwei hauptamtliche Leichtathletiktrainer. Sie nahmen sich des vielversprechenden Elfjährigen an, den der Krickettrainer aus seinem Team komplimentiert hatte. Im Keller stapeln sich Kartons mit nagelneuen Laufschuhen von Puma. Auf der unebenen Wiese hinter dem Schulgebäude mit einem verrosteten Fußballtor sind mit schwarzer Ölfarbe Bahnen ins Gras gezogen. Das ist der Sportplatz, auf dem der schnellste Mann der Welt laufen gelernt hat. Machte das Laufen denn Spaß, wenn man eigentlich werfen und schlagen will? „Ich habe gewonnen“, antwortet Bolt.
Sein Markenzeichen: Bolt aus Wachs in Madame Tussauds Figurenkabinett
„Usain Bolt wuchs auf in der Unvermeidlichkeit, die Welt zu beherrschen“, sagt Stephen Francis. Das klingt vermutlich nur deshalb ironisch, weil Francis die Läufergruppe um Asafa Powell und Shelly-Ann Fraser-Pryce betreut, die mit dem Racers Track Club von Trainer Glen Mills mit Yohan Blake und Usain Bolt konkurriert. Aber es stimmt. Vom Vater hart angefasst, von der Mutter verwöhnt, wuchs im Herzen Jamaikas unbeleckt von den Erleichterungen und Ablenkungen der Zivilisation, von ihren Verlockungen und Zumutungen ein Sprinter heran, der die Welt erobern sollte. Von der Armut der Nachbarschaft zeugt das Angebot in Wellesley Bolts Laden bis heute: Seefisch liegt in einer Tiefkühltruhe, „Kuhfüße“ und „Schweineohren“ sind auf einer Tafel angeschrieben. Vor der Tür hängen Poster, die vor ungeschütztem Geschlechtsverkehr warnen. Oft kommen Journalisten und Fans und lassen sich erzählen, dass auch junge aufstrebende „World beater“ manchmal Stockschläge brauchen.
Nachahmer gibt es weltweit: Prinz Harry übt das Pfeile schleudern
Vor zehn Jahren, mit fünfzehn, betrat Usain Bolt im Nationalstadion von Kingston die internationale Bühne der Leichtathletik. Zwei Silbermedaillen hatte er bei den Junioren-Weltmeisterschaften, die dort 2002 ausgetragen wurden, schon gewonnen. Doch Jamaika wartete auf die Goldmedaille, und es erwartete, das sie am Schlusstag Usain Bolt holte. „Er saß hier und hat geweint vor Angst“, erinnert sich Jennifer Bolt, während sie auf ihrem Sofa durch ein Fotoalbum blättert. „Er war so durcheinander, dass er seinen rechten Schuh links und den linken Schuh rechts anzog.“
Obwohl seine Gegner bis zu 17 Jahre alt waren, gewann der bereits 1,96 Meter lange Bolt die 200 Meter. Mit seiner Zeit von 20,61 Sekunden wäre der Fünfzehnjährige, nur zum Vergleich, bei den deutschen Meisterschaften dieses Jahres in Wattenscheid mit drei Hundertstelsekunden Rückstand Zweiter geworden. „Seit jenem Lauf habe ich vor keinem Rennen mehr Angst“, erinnert er sich. „Wenn ich vor Millionen renne, die kenne ich nicht. Aber die 40 000 damals waren alle von hier.“ Bolt wurde Junioren-Weltmeister, und wer ein Auge dafür hatte, sah sein Talent. Kaum sechzehn, erhielt er einen Vertrag von Puma, verließ Eltern und Schule und zog mit seinem jamaikanischen Manager nach Kingston. Dort machte er, unterstützt von Privatlehrern, seinen Schulabschluss. Seine erste Saison in Europa, fern von Jamaika: „Schrecklich.“
Der Vorläufer: Fahnenträger Jamaikas bei der Eröffnungsfeier
Seit dem Olympiasieg des berühmtesten Sohnes des Ortes führt eine Asphaltstraße durch Sherwood Content. Die Abgeschiedenheit, die den kleinen Usain schützte, verschwindet. Tante Lillys Yam, die Usain so liebte und von der Wellesley überzeugt ist, dass sie seinen Sohn so schnell gemacht hat, dieser Arme-Leute-Schmaus konkurriert heute mit frittierten Hähnchenteilen von McDonald’s.
Ein Strom von Touristen und Journalisten hat eingesetzt. Für sie hält Wellesley Anekdoten bereit, Cola und Schokoriegel. Die Kinder von Sherwood Content lieben das Zuckerzeug. Jennifer und Wellesley haben sich einen riesigen Fernseher und eine mächtige Satellitenschüssel zugelegt, um die Läufe ihres Sohnes auf der ganzen Welt verfolgen zu können.
Aber man kann selbstverständlich auch Filme über Krokodile und Riesenschlangen gucken. Dann hört man auf, in grüne Flüsse zu springen.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 4. August 2012