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2012 London Olympic Games London, England Aug03-12 2012 Photo: Jiro Mochizuki@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET

LONDON 2012 – ROBERT HARTING – Drei Titel in 365 Tagen – Jörg Wenig in „leichtathletik“

By GRR 0

Nils Schumann und Heike Drechsler – so lange war es her, dass die deutsche Leichtathletik zuletzt einen Olympiasieger produziert hatte. Weder in Athen 2004 noch in Peking 2008 hatte ein deutscher Athlet olympisches Gold gewonnen. Riesig war der Druck, der auf Robert Harting lastete, denn er war die ganz große Hoffnung der deutschen Leichtathletik in London.

Seit 28 Wettkämpfen in Folge war der 27-jährige Berliner ungeschlagen. Im August 2010 hatte er zum letzten Mal verloren. Vor zwei Jahren musste er sich im Europameisterschafts-Finale von Barcelona dem Polen Piotr Malachowski geschlagen geben. Wenn es Robert Harting nicht schaffen würde, olympisches Golde zu gewinnen – wer dann? Der Berliner hielt dem enormen Druck stand. Mit einem Wurf von 68,27 m in Runde fünf schaffte Robert Harting in London den größten Triumph seines Lebens: den Olympiasieg im Diskuswerfen.

Es war allerdings denkbar knapp. Gerade einmal neun Zentimeter betrug der Vorsprung vor dem Iraner Ehsan Hadadi. Seit 84 Jahren lagen im olympischen Diskuswurf der Männer der Gold- und Silbermedaillengewinner nicht mehr so eng beieinander. Robert Harting ist Deutschlands vierter Olympiasieger in dieser Disziplin nach Rolf Danneberg (1984), Jürgen Schult (1988) und Lars Riedel (1996).

„Das ist ein wunderschöner Moment. Und ich fühle mich befreit von dem ganzen Druck“, sagte Robert Harting, nachdem er in London mit Kampf und Krampf Olympiasieger wurde. Mit keinem Wurf war der zweifache Weltmeister (2009 und 2011) zufrieden, kein einziges Mal jubelte er nach seinen sechs Versuchen – stattdessen immer wieder Kopfschütteln bei Robert Harting. Der Berliner fand einfach keinen Rhythmus und hatte bei seinen ersten beiden Versuchen etwas Pech.

„Meinen ersten Versuch hatte ich kurz vor dem Start des ersten 800-m-Halbfinalrennens – das war störend“, erzählte Robert Harting, der den Schiedsrichter vergeblich um eine kurze Unterbrechung des Wettbewerbes bat. „Als ich meinen zweiten Versuch hatte, lief das zweite 800-m-Rennen. Dieses Mal war ein Brite dabei. Ich bin zwar einiges an Lautstärke im Stadion gewöhnt und es war sehr laut im Berliner Olympiastadion, als ich bei den Weltmeisterschaften warf – doch so etwas wie hier habe ich noch nie erlebt. Und natürlich haben die Zuschauer dieses Mal nicht für mich gebrüllt, das macht dann schon einen Unterschied.“

Nachdem er seinen Wettbewerb mit 67.79 m begonnen hatte, war sein zweiter Versuch ungültig. Auch in Runde drei gab es ein Problem. Robert Harting hatte sein Handtuch neben den Ring gelegt und der Schiedsrichter bat ihn, dieses dort zu entfernen, weil er einen klaren Blick brauchte. Robert Harting fühlte sich gestört in seinem Ablauf und es kamen am Ende wieder ,nur’ 67,27 m hinaus. Immer noch jagte er die Marke von Ehsan Hadadi, der in der ersten Runde starke 68,18 m vorgelegte hatte, vergeblich. „Es war ärgerlich, denn es war ein olympisches Finale – und plötzlich war die Hälfte des Wettkampfes bereits vorbei. Zudem begannen meine Beine müde zu werden und ich spürte wieder Schmerzen im Knie. Es ist dasselbe Problem, das ich auch schon vor einem Jahr hatte. Und das Knie war ja nach der damaligen Saison operiert worden.“

Es war dann der Wurf von Gerd Kanter, der ihn regelrecht wachrüttelte, nachdem er in Runde vier 66,45 m erreicht hatte. Der Este verdrängte ihn mit einer Weite von 68,03 in Durchgang fünf von Rang zwei. „Das war eine Initialzündung für mich – ich wusste, ich muss jetzt was machen.“ Robert Harting reagierte: 68,27 m bedeuteten die Führung. „Dieser Wurf hatte mehr Dynamik, aber auch der war technisch nicht so gut. Deswegen flog er auch mehr nach links im Sektor. Normalerweise sind meine Würfe nicht so weit, wenn sie nach links gehen. Aber heute hat es gereicht“, erzählte Robert Harting.

Ein bisschen Glück gehörte allerdings dazu. Denn unmittelbar nachdem der Berliner die Führung übernommen hatte, übertraf ihn Ehsan Hadadi mit dem vermeintlich besten Wurf des Abends. Doch während der Iraner bereits jubelte, hob der Schiedsrichter die rote Fahne. Ganz knapp hatte Ehsan Hadadi übertreten – er wollte dies im ersten Augenblick gar nicht wahr haben. Hatte sich Robert Harting zuvor über den vermeintlich kleinlichen Schiedsrichter geärgert, konnte er nun froh sein, dass dieser seinen Job gut machte und das Übertreten erkannt hatte. „Natürlich bin ich froh, dass er das gesehen hat. Allerdings war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass der Versuch von Hadadi so gut war“, erklärte Robert Harting später.

67,08 m warf er dann in Runde sechs und musste hoffen, dass es reicht. „Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, nichts mehr machen zu können. Aber auch wenn ich nach Ehsan Hadadi noch einen letzten Wurf gehabt hätte, wäre ich heute nicht mehr in der Lage noch einmal zu kontern.“

Der Iraner konnte nicht mehr an die Weite des ungültigen fünften Versuches anknüpfen. Er freute sich trotzdem über Silber, sagte aber auch: „Ich habe in Deutschland trainiert und das Gold nach Deutschland verschenkt. Das war ein großes Geschenk – aber das passiert mir im nächsten Jahr nicht noch einmal.“

Vielleicht hat auch der hohe Erwartungsdruck eine Rolle gespielt bei dem schweren Wettkampf von Robert Harting. „Natürlich bin ich einen gewissen Druck gewohnt. Aber vor London war das schon sehr intensiv und neu für mich. Andererseits wusste ich immer, dass ich es kann und gut in Form bin“, erklärte Robert Harting, der im Mai erstmals die 70-m-Marke übertroffen hatte (70,31 und 70,66 m). „Aber es kann natürlich immer etwas schief gehen, wie wir heute gesehen haben. Das hätte auch ein Schuss in den Ofen werden können. Es hat sich gelohnt zu kämpfen und zu beißen, was im Diskuswurf oftmals nicht zum Erfolg führt.“

Robert Harting hatte für seine Verhältnisse keinen herausragenden Wettkampf und wurde trotzdem Olympiasieger – das zeigt die enorme Basis, die er mit seinem Trainer Werner Goldmann in den vergangenen Jahren erarbeitet hat. Ein derartiger Sieg muss viel Selbstvertrauen geben für die Zukunft.

Nach zwei WM-Titeln und dem Olympia-Gold wurde Robert Harting gefragt, ob es zukünftig ein Ziel sein könnte, in die Fußstapfen von Al Oerter zu treten. Der legendäre US-Diskuswerfer hatte zwischen 1956 und 1968 viermal hintereinander Olympia-Gold gewonnen. „Ich glaube eine solche Ausnahmeleistung ist heute nicht mehr wiederholbar. Über so viele Jahre wird man es nicht schaffen, ein so extrem hohes Niveau zu halten.“ Weit in die Zukunft blicken wollte Robert Harting am Abend seines Olympiasieges nicht. Er sagte dazu nur: „Rio ist schön warm.“ In Brasilien finden in vier Jahren die Spiele statt.

„In den vergangenen Jahren hatte ich viele Schmerzen und Verletzungen. Das hat mich verändert“, sagte Robert Harting, der verglichen zu früheren Jahren ruhiger geworden ist und sich auch mit provozierenden Kommentaren mehr zurückhält. Trotzdem weiß Robert Harting natürlich, wie man feiert. „Ich freue mich auf die nächsten Stunden“, erklärte er in den Katakomben des Olympiastadions. Als er in den frühen Morgenstunden vom Kreuzfahrtschiff MS Deutschland, das zurzeit im Londoner Hafen liegt, zurück ins Olympische Dorf wollte, erlebte er jedoch eine böse Überraschung: Seine Akkreditierung wurde gestohlen. So kam er auch als Goldmedaillengewinner zunächst nicht ins Olympische Dorf hinein. Nach einer Stunde Schlaf in der Bahn musste er warten, bis die deutsche Teamleitung am Morgen das Problem lösen konnte.

Für eine andere Art von Zwischenfall hatte er vorher bei seiner Feier im Stadion gesorgt. Nachdem er wie schon nach seinen WM-Siegen sein Trikot zerrissen hatte („Wenn ich ohne Shirt aus dem Stadion komme, war es gut!“), kam er während der Ehrenrunde auf die Zielgerade, wo gerade die Hürden für das 100-m-Hürdenfinale der Frauen aufgestellt worden waren.

Zur Freude der Zuschauer begann er über die Hürden zu springen, was bei den Schiedsrichtern Fassungslosigkeit ausgelöst haben dürfte. Auf Bahn neun laufend, hatte er dabei etwas Luft zur Seite und sah nicht schlecht aus. „Ab und zu laufen wir im Training auch ein paar Hürden“, erklärte Robert Harting und witzelte: „Vielleicht hat sich Sally Pearson vor ihrem Sieg bei mir etwas abgeschaut!“

 

Jörg Wenig in "leichtathletik" – 15. August 2012

author: GRR

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