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22
07
2012

Im Marathon ereignet sich auch das größte Drama der Spiele. Der Italiener Dorando Pietri biegt nach 42 Kilometern vor der Rekordkulisse von 250 000 Zuschauern auf den Straßen Londons als Führender ins Stadion ein, ist aber völlig dehydriert, erschöpft und orientierungslos. ©Sportmuseum Berlin – AIMS Marathon-Museum of Running

LONDON 2012 – Die Taktgeberstadt – Lars Spannagel und Friedhard Teuffel im Tagesspiegel

By GRR 0

Am Freitag wird London einen Rekord aufstellen: Als erste Stadt der Welt eröffnet es zum dritten Mal die Olympischen Spiele. Und vielleicht gaben die Innovationen der Spiele von 1908 und 1948 für die olympische Bewegung letztlich auch 2005 den Ausschlag, als London der im Grunde besseren Bewerbung von Paris vorgezogen wurde.

Die Spiele von 1908 brachten die Olympischen Spiele auf jeden Fall wieder in ihren Rhythmus. Der war zuvor unterbrochen worden, weil 1906 in Athen die sogenannten Zwischenspiele stattgefunden hatten. Von 1908 an galt wieder der Vier-Jahres-Rhythmus. Eigentlich hätten die Spiele jedoch in Rom stattfinden sollen, die Natur spielte London Olympia zu, weil in Italien der Vesuv ausgebrochen war, und Rom alles Geld brauchte für den Wiederaufbau Neapels.

London zahlt es mit einigen Neuerungen zurück. Zum ersten Mal wird ein Stadion extra für Olympia gebaut. Zum ersten Mal finden die Schwimmwettbewerbe in einem Stadion statt und nicht in offenen Gewässern. Und erstmals laufen die Nationen bei der Eröffnungsfeier hinter ihren Flaggen ein.

Die Spiele dauern insgesamt sechs Monate, 2006 Athleten nehmen teil, darunter 37 Frauen.Das olympische Programm ist noch ziemlich unausgegoren. Es gibt Eiskunstlaufen, zwei Tenniswettbewerbe – in der Halle und unter freiem Himmel –, mit den heute nahezu vergessenen Disziplinen Jeu de Paume und Rackets kommen zwei weitere Rückschlagspiele hinzu. Zum ersten und einzigen Mal ist Motorbootfahren olympisch. Auch in der Leichtathletik wird noch experimentiert: Es gibt zwei verschiedene Speerwurf-Wettbewerbe, in der klassischen Variante muss der Werfer den Speer in der Mitte halten, im Freistil-Speerwurf ist ihm die Technik freigestellt. Der US-Amerikaner Ray Ewry gewinnt in den später abgeschafften Disziplinen Hoch- und Weitsprung aus dem Stand die siebte und achte olympische Goldmedaille seiner Karriere.

Die Spiele stehen im Zeichen großer Rivalität zwischen Briten und US-Amerikanern. Schon bei der Eröffnungsfeier kommt es zum Eklat: Als einzige von allen Teilnehmerländern weht die US-Flagge nicht über dem Olympiastadion, die Organisatoren sagen als Entschuldigung, man habe sie schlicht vergessen. Im Gegenzug weigert sich der amerikanische Kugelstoßer und Fahnenträger Ralph Rose, die Flagge vor der königlichen Loge zu senken. Die britischen Kampfrichter – internationale Schiedsrichter sind noch nicht üblich – versuchen danach, die US-Athleten zu benachteiligen, wo es nur geht. Im Tauziehen, auch hier tritt Ralph Rose an, beschweren sich die Amerikaner darüber, dass sich ihre britischen Gegner durch mit Nägeln versehene Schuhe einen Vorteil verschaffen. Der Einspruch wird abgeschmettert:

Bei den Briten handelt es sich um eine Polizeieinheit, die Kampfrichter argumentieren, dass die Nagelschuhe zur Dienstkleidung gehören. Die Amerikaner ziehen ihr Team zurück, die ersten drei Plätze gehen an drei verschiedene britische Polizeiteams aus London und Liverpool. Im Finale des 400-Meter-Laufs wird ein US-Amerikaner disqualifiziert, weil er den Briten Wyndham Halswelle abgedrängt und behindert haben soll. Das Rennen wird wiederholt, die beiden anderen amerikanischen Finalisten weigern sich aber, Halswelle läuft eine einsame Runde zu Gold. Die Folge des Eklats: Vier Jahre später in Stockholm sind Bahnen auf der Laufbahn markiert.

Die Marathonstrecke wird bei den Spielen von London auf ihre heute noch gültige Länge gebracht. Um die Läufer bis zur königlichen Loge zu führen, werden an die 42 Kilometer noch 195 Meter drangehängt. Im Marathon ereignet sich auch das größte Drama der Spiele. Der Italiener Dorando Pietri biegt nach 42 Kilometern vor der Rekordkulisse von 250 000 Zuschauern auf den Straßen Londons als Führender ins Stadion ein, ist aber völlig dehydriert, erschöpft und orientierungslos. Der kleine Mann mit dem großen Schnurrbart und der Nummer 19 will erst in die falsche Richtung laufen, wird von Ordnern gestützt, stürzt immer wieder. Unter den Augen von 75 000 Zuschauern benötigt Pietri rund zehn Minuten für die letzten 350 Meter, ehe er nur mit Hilfe der Ordner ins Ziel torkelt und zusammenbricht.

Der zweitplatzierte Amerikaner Johnny Hayes erhebt Einspruch, diesmal wird dem Protest stattgegeben. Als Trost erhält Pietri von Königin Alexandra einen goldenen Pokal, das Drama macht den Italiener berühmt – auch Sir Arthur Conan Doyle schreibt über ihn. Die Olympischen Spiele sind weltweit in den Schlagzeilen.

Ein Zitat des Bischofs von Pennsylvania, Ethelbert Talbot, bei einem olympischen Gottesdienst in der St. Pauls Cathedral geht in die Geschichte ein: „Wichtig ist nicht der Sieg, sondern der Wettbewerb. Und das Wesentliche ist nicht der Sieg, sondern alles gegeben zu haben.“ Auch der Gründer der neuzeitlichen Olympischen Spiele, Pierre de Coubertin, greift diesen Satz auf. Er wird ihm später zugeschrieben und taucht bei den Spielen 1948 in London auf der Anzeigetafel auf. Verkürzt lautet dieses olympische Credo später: „Dabei sein ist alles.“

Auch 1948 bringt London Olympia wieder zurück in den Takt, mit den ersten Spielen nach dem Zweiten Weltkrieg. London hatte ursprünglich den Zuschlag für die Spiele 1944 erhalten, doch die fielen wegen des Kriegs aus. Zum größten Star der Spiele wird 1948 eine zweifache Mutter aus den Niederlanden. Die Leichtathletin Fanny Blankers-Koen wird in ihrer Heimat zunächst angefeindet, weil sie ihre Kinder in Amsterdam unter Obhut ihres Vaters zurücklässt. Als die 30-Jährige aus London zurückkommt, ist sie eine Nationalheldin. Zunächst gewinnt sie souverän den 100-Meter-Sprint und schickt per Mikrofon eine Nachricht in die Heimat: „Papa, du darfst jetzt um den Küchentisch tanzen.“

Über 200 Meter ist ihr Vorsprung noch größer, auch über 80 Meter Hürden gewinnt sie Gold. Als Schlussläuferin der Sprintstaffel fängt sie die Konkurrenz aus Australien kurz vor der Ziellinie ab, ihre vier Goldmedaillen verschaffen ihr den Spitznamen „Fliegende Hausfrau“. Es hätten sogar sechs Olympiasiege für die Niederländerin werden können: Im Hochsprung und Weitsprung hat Fanny Blankers-Koen in den Jahren zuvor Weltrekorde aufgestellt, 1948 dürfen Leichtathleten aber nur in drei Einzeldisziplinen starten.

Für Micheline Ostermeyer lauten diese drei Disziplinen Diskuswerfen, Kugelstoßen und Hochsprung – eine heute undenkbare Kombination. Noch Aufsehen erregender ist, dass die Französin eigentlich Konzertpianistin von Beruf ist. Mit Diskus und Kugel gewinnt Ostermeyer Gold, im Hochsprung reicht es für Bronze. Emil Zatopek aus der Tschechoslowakei gibt mit Gold über 10 000 Meter und Silber über 5000 Meter ein brillantes olympisches Debüt, vier Jahre später in Helsinki wird er die Sportwelt noch mehr begeistern und auch im Marathon triumphieren.

Bob Mathias aus den USA stellt einen Rekord für die Ewigkeit auf: Er gewinnt den Zehnkampf – im Alter von 17 Jahren. Die indische Hockeymannschaft der Männer gewinnt zum vierten Mal in Folge Gold, diesmal allerdings ist der Olympiasieg mehr wert als alle Titel zuvor. Erstmals tritt Indien als unabhängiges Land an und gewinnt das Finale 4:0 gegen die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien.

Im Marathon wiederholt sich beinahe das Drama von 1908: Der Belgier Etienne Gailly läuft nach einem Rennen in für London ungewöhnlich großer Hitze als Erster ins Wembley-Stadion ein, kann sich aber kaum noch auf den Beinen halten. Auf der Schlussrunde wird Gailly noch von Delfero Cabrera aus Argentinien und dem Briten Tom Richards überholt, er bricht auf der Zielgeraden zusammen, rafft sich unter der Anfeuerung der Zuschauer aber noch einmal auf und rettet Bronze ins Ziel.

Bei der Siegerehrung fehlt Gailly allerdings, weil er im Krankenhaus behandelt werden muss.

 

 Lars Spannagel und Friedhard Teuffel im Tagesspiegel, Sonntag, dem 22. Juli 2012

author: GRR

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