Erst der Weltrekordversuch der Russin Jelena Isinbajewa - sie scheiterte an 5,02 Metern - versöhnte die rund 50 000 Zuschauer im Stade de France mit der Veranstaltung, in der sich die Zahl der Sieganwärter auf den Jackpot von einer Million Dollar von zehn auf vier verringerte
Leider macht der Kenianer über 3000 Meter Hindernis in Paris zu früh Feierabend / Ein Ehrenamtlicher macht seinem Amt keine Ehre – Kiepsiele glaubt dem Rundenzähler und läuft einen unglaublichen Weltrekord – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
PARIS. Beim Golden League Meeting von Paris ist ein Sandkorn ins Getriebe geraten. Der einzige Sieg eines Franzosen bei dieser zweiten Station der sechsteiligen Serie musste annulliert werden. Der geschlagene Favorit tobte, das Publikum pfiff, und der Sieger versuchte, die Zuschauer zu beruhigen. "Ich habe, als es passierte, bei Meetingdirektor Gérard Rousselle im Innenraum gestanden", erzählt der einstige Hürdensprinter Florian Schwarthoff. "Er ist schlagartig um Jahre gealtert."
Erst der Weltrekordversuch der Russin Jelena Isinbajewa – sie scheiterte an 5,02 Metern – versöhnte die rund 50 000 Zuschauer im Stade de France mit der Veranstaltung, in der sich die Zahl der Sieganwärter auf den Jackpot von einer Million Dollar von zehn auf vier verringerte: Jelena Isinbajewa, 400-Meter-Weltmeisterin Sanya Richards, Michelle Perry, Champion im Hürdensprint, und Speerwerfer Tero Pitkämäki.
Doch in stärkster Erinnerung dürfte nicht nur Rousselle der letzte Wettbewerb des Abends bleiben, die 3000 Meter Hindernis. Der Kenianer Paul Kipsiele Koech beherrschte das Rennen überlegen, als der Rundenzähler von vier auf zwei sprang. Nach dem Zieldurchlauf schien der Mann an der Anzeige zu merken, dass etwas nicht stimmte. Er stand auf, trat vor die Anzeige, setzte sich wieder. Als die Läufer ihn das nächste Mal passierten, läutete er die letzte Runde ein. Da waren noch 800 Meter zu laufen. Das Unheil nahm seinen Lauf. Kipsiele spurtete eine Handvoll seiner Landsleute nieder, stürzte mit erhobenen Armen über die Ziellinie und trudelte aus.
Auf den Bildschirmen des französischen Fernsehens leuchtete die Zeit von 7:02,44 Minuten auf mit dem Zusatz: "Jahresweltbestleistung". Sie liegt 51 Sekunden unter dem Weltrekord. Warum er sich nicht an der Zeit orientiert habe, musste Kipsiele sich nachher fragen lassen. "Da standen doch Fotografen und Offizielle", erwiderte der schmächtige 25-Jährige wütend. "Ich konnte nichts sehen."
Er fühlt sich um den Sieg betrogen.
Lediglich Bouabdellah Tahri schien auf der Höhe zu sein. Er reagierte nicht auf den Endspurt der Kenianer. Erst als er die stehenden Konkurrenten passierte, bemerkte Kipsiele den Fehler. Verzweifelt rang er seinem erschöpften Körper einen Neustart in die allerletzte Runde ab. Tahri hatte da fast schon die Gegengerade erreicht. Dort räumten – die Maschinerie des Sportfestes lief unerbittlich – Helfer nach der vermeintlich letzten Passage des Feldes schon das schwere Hindernis von der Bahn. Tahri zog durch, Kipsiele hob verzweifelt die Hände. "Das beweist, dass Leichtathletik kein Sport ist, in dem man unbedingt rechnen können muss", spottete Tahri im Ziel.
Er nahm ein Mikrofon und dankte dem Publikum für die Unterstützung. Über seine Zeit von 8:08,47 Minuten konnte er sich nicht freuen. Weil der Hindernislauf ohne Hindernisse zu Ende gegangen war, wurde das Ergebnis annulliert. Tahri muss kommende Woche in seiner Heimatstadt Metz noch einmal die WM-Norm erfüllen.
Kipsiele dagegen war ratlos über die gescheiterte Arbeitszeitverkürzung. "Ich weiß, dass es ein Fehler war", klagte er. "Aber ich habe nur auf die Glocke gehört." "Man könnte auch einen Computer die Runden zählen lassen", sagte Alain Spira, der Technische Direktor der Veranstaltung. "Aber wir brauchen das ganze Jahr lang Freiwillige. Sie hier einzusetzen ist auch eine Belohnung." Der ehrenamtliche Rundenzähler wird an dieser Belohnung schwer zu tragen haben.
Rudi Thiel jedenfalls, dem einstigen Chef des Istaf im Berliner Olympiastadion, ist ein ähnlicher Albtraum bis heute gegenwärtig. 1992 war es, dass im Lauf über 400 Meter Hürden die zweite Hürde fehlte. Kevin Young, der bei seinem Olympiasieg in jenem Jahr den bis heute gültigen Weltrekord von 46,87 Sekunden aufstellte, machte an der Stelle, wo die Hürde hätte stehen sollen, aus Gewohnheit einen Hopser und lief das Rennen lässig zu Ende. Er wusste, dass das Ergebnis nicht gelten würde. Thiel ärgert sich immer noch über den verpassten Weltrekord. "Natürlich hat da jemand einen Fehler gemacht", sagt er. "Aber ich war verantwortlich."
Bei den deutschen Hallen-Meisterschaften im vergangenen Winter war es Carsten Schlangen, der sich im 3000-Meter-Lauf täuschen ließ. 800 Meter vor Schluss wurde die Rundenzahl falsch angezeigt, der Hallensprecher nahm den Fehler auf, und Schlangen spurtete eine Runde zu früh um den Sieg. Die Niederlage mag schmerzhaft gewesen sein. Noch mehr weh tat die Frage, ob er bis fünfzehn zählen könne.
Einem Sprinter kann so etwas nicht passieren. Aber Schwarthoff, heute fürs Fernsehen unterwegs, erinnert sich, dass zweimal bei großen Sportfesten in seinem Rennen die zehnte Hürde an der Markierung für die Frauen-Hürden stand – ein bisschen weiter weg als üblich. Konkurrenten wurden buchstäblich auf dem falschen Fuß erwischt, weil sie einen Schritt mehr machten als üblich, Schwarthoff rettete sich mit extrem langen Schritten vor dem Sturz. An Bestzeiten war nicht zu denken, da alle Läufer versuchten, einen Sturz zu vermeiden. Ein fehlendes Hindernis? "Der Super-Gau", sagt Schwarthoff.
MICHAEL REINSCH
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Montag, dem 9. Juli 2007