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07
03
2010

In den Laufdisziplinen hält die Dominanz der Afrikaner an, ist aber bei den Männern ausgeprägter als bei den Frauen. Aus dem scheinbar unerschöpflichen Nachwuchsreservoir Afrikas treten jedes Jahr neue leistungsstarke Athleten ins Rampenlicht

Leichtathletik-WM 2009 Berlin – eine Standortbestimmung für den Lauf – Lothar Hirsch in Leistungssport 1/2010

By GRR 0

„Es sollte wieder der Anspruch formuliert werden, zur Weltklasse gehören zu wollen!“ – In diesen Aufruf mündete der in der letzten Leistungssport-Ausgabe veröffentlichte Beitrag von Paul Schmidt, der sich vorrangig auf die Leistungen der DLV-Läuferinnen und -Läufer fokussierte.

Die folgenden Ausführungen knüpfen daran an und nehmen eine internationale Perspektive ein. Es werden u.a. folgende Aspekte behandelt: der Leistungsvergleich Olympische Spiele 2008 zu Weltmeisterschaften 2009, der Anteilsvergleich der Endkämpfe bei den Weltmeisterschaften 2009, die Taktikund Tempoorientierung auf internationalem Niveau, der innereuropäische Vergleich.
(Eingegangen: 27.9.2009)

1. Leistungsvergleich der Olympischen Spiele 2008 mit der WM 2009

Von allen in der Leichtathletik angebotenen internationalen Meisterschaften heben sich die Olympischen Spiele von der Bedeutung her deutlich ab. Weltmeisterschaften, alle zwei Jahre durchgeführt, bringen mit der Fülle der Weltmeistertitel inflationäre Tendenzen. Olympische Spiele als außergewöhnliche Wettkämpfe und Herausforderung bedeuten auch außergewöhnliche Vorbereitung – quantitativ wie qualitativ. Die Prämien einer WM stellen zwar einen Motivationsfaktor dar, die Reputation des Olympiasiegers, des olympischen Medaillengewinners überwiegt jedoch bei Weitem, denn zu dieser Reputation kommen Vermarktungsmöglichkeiten über vier Jahre. Die Häufigkeit der kurzlebigen Weltmeistertitel hat auch ihren
Preis, und dieser liegt deutlich unter dem des olympischen Medaillengewinners. Peking 2008, Olympia zum ersten Mal im gigantischen China mit vielen Problemen und Vorurteilen behaftet, hob sich von den bisherigen Olympischen Spielen nochmals ab, d.h. China als bevölkerungsreichstes Land betrieb eine kaum vorstellbare Vorbereitung, die wiederum in anderen, führenden Leichtathletikländern eine Sogwirkung entfaltete, was die Qualität der Vorbereitung betraf.

Der gesamte Leistungsmechanismus im Olympiajahr auf Höchsttouren fährt in der Regel im Jahr danach auf Sparflamme. Nicht alle Athleten betrachten sich als Dauerprofis, in nacholympischen Jahren erhält der außersportliche Bereich oftmals Priorität, was sich dann auf das internationale Gesamtniveau auswirkt.

Der reine Leistungsvergleich der drei Erstplatzierten in allen Laufwettbewerben (von 800 m bis Marathon) der Olympischen Spiele 2008 Peking zur WM 2009 Berlin ergibt folgendes Bild:

  • Bei den Olympischen Spielen waren im männlichen Bereich über 800, 1500 und 5000 Meter alle drei Erstplatzierten, über die Marathonstrecke der Sieger und der Zweite schneller als bei der WM in Berlin – alles Temporennen.
  • Über 10.000 Meter und über die Hindernisstrecke waren die drei Ersten der WM von Berlin schneller als in Peking 2008 – auch hier Temporennen.
  • Somit waren insgesamt 4 Wettbewerbe bei den Olympischen Spielen 2008 stärker als bei der WM; nur 2 WM-Wettbewerbe in Berlin schneller bei den Spielen in Peking.
  • Im weiblichen Bereich waren über die 800-Meter-Strecke und auf der Hindernisstrecke die jeweilige Siegerin, über 1500 und 10.000 Meter jeweils die ersten Drei in Peking schneller als bei den Weltmeisterschaften.
  • Die 5000 Meter und Marathon wurden in Berlin schneller gelaufen. Dabei wurden die 5000 Meter als Taktik-, der Marathon als Temporennen gestaltet.
  • Somit waren auch bei den Frauen vier Wettbewerbe bei den Olympischen Spielen im letzten Jahr stärker und nur zwei Entscheidungen wurden bei der WM schneller gelaufen. Tab. 1 zeigt den direkten Leistungsvergleich der jeweils erstplatzierten bei den letzten Olympischen Spielen und bei der WM 2009.

Tabelle 1 | Leistungsvergleich der Erstplatzierten

Strecke

Männer

Frauen

  OS 2008 WM 2009 OS 2008 WM 2009
800 m 1.44,65 min 1.45,29 min 1.54,87 min 1.55,45 min
1500 m 3.32,94 min 3.35,93 min 4.00,23 min 4.03,74 min
5000 m 12.57,82 min 13.17,09 min 15.41,40 min 14.57,97 min
10.000 m 27.01,17 min 26.46,31 min 29.54,66 min 30.51,24 min
Hindernis 8.10,34 min 8.00,43 min 8.58,81 min 9.07,32 min
Marathon 2:06:32 Std. 2:06:54 Std. 2:26:44 Std. 2:25:15 Std.

 

2. Endkampfplatzierungen und Medaillen bei der WM 2009

In den Laufdisziplinen hält die Dominanz der Afrikaner an, ist aber bei den Männern ausgeprägter als bei den Frauen. Aus dem scheinbar unerschöpflichen Nachwuchsreservoir Afrikas treten jedes Jahr neue leistungsstarke Athleten ins Rampenlicht. Bedenkt man zusätzlich den Nationalitätenwechsel mehrerer Afrikaner, wird ihre Überlegenheit noch deutlicher. Da international nur drei Athleten pro Disziplin starten können, das Angebot an Weltklasseathleten vor allem in Kenia aber deutlich höher ist, scheint der Weg in andere Länder für manche die einzige Möglichkeit zu sein, um an internationalen Meisterschaften teilnehmen zu können. Mit dem Verlust der eigenen sowie dem Erwerb der fremden Nationalität sind große Unannehmlichkeiten des abgebenden Landes verbunden, die aber durch materielle Vorteile erträglich werden. Die Tabellen 2 und 3 zeigen die Final- (quantitativ/s. Tab. 2) bzw. Medaillenanteile (qualitativ/s. Tab. 3) für Athleten aus Europa, Afrika und weiteren Kontinenten. Daraus lässt sich Folgendes ableiten:

Finalanteile

Männer

  • Afrika beherrscht die Laufszene stärker denn je – 50 Teilnehmer schafften es in die Finals. Europa stellt 19 Teilnehmer, weitere 29 internationale (darunter befinden sich acht afrikanische Nationalitätenwechsler) folgen.
  • In allen Finals stellt Afrika mindestens 50 Prozent der Teilnehmer. Über 5000 und 10.000 Meter sowie über die Hindernisstrecke sind es deutlich mehr.
  • Die Anteile Europas sind über 800, 1500, 5000, 10.000 Meter und im Marathon mit drei, einem, zwei, fünf und vier Teilnehmern äußerst schwach. Über 800 Meter kam die Zahl nur durch die Erhöhung der Finalteilnehmer auf zehn zustande.
  • Die 1500 Meter gehörten in den vergangenen Jahren noch zu den stärksten europäischen Disziplinen. In diesem Jahr spielt Europa mit nur noch einem Finalteilnehmer nahezu keine Rolle mehr.
  • Stärkste der in den Tabellen unter „weitere“ aufgeführten Nationen sind vor allem die USA (s. Info 1)sowie Bahrain und Katar. Alle drei Länder profitieren vom Nationalitätenwechsel afrikanischer Athleten.

Info 1 | USA auf dem Vormarsch

Der Disziplinblock Lauf der USA hat bei der WM 2009 einen enormen Entwicklungsschub gezeigt. Lediglich über 5000 Meter der Frauen gab es „nur“ zwei Teilnehmerinnen. In allen übrigen Disziplinen (männlich und weiblich) wurde das volle Teilnehmerkontingent von drei Startern trotz der anspruchsvollen IAAF-Normen ausgeschöpft. Dies spricht für eine hohe Qualität. Nach Jahren der Stagnation erfuhr die amerikanische Laufszene eine Renaissance.

Die USA erreichte bei den Männern zwei Medaillen und weitere vier Endkampfplatzierungen (bis Platz acht), bei den Frauen eine Medaille und weitere vier Endkampfplatzierungen (bis Platz acht). Schwächen sind hingegen über 800 Meter der Frauen und auf der Hindernisstrecke der Männer (ohne Finalteilnehmer) zu erkennen. Ein amerikanisches Laufteam auf einem solch hohen Niveau hat es schon lange nicht mehr gegeben.

Frauen

  • Europa bleibt in Bezug auf die Finalteilnehmerzahl (mit 34 Teilnehmern insgesamt, gegenüber 27 aus Afrika und 25 weiteren internationalen Athletinnen) führend und auch konkurrenzfähig.
  • Über 800, 1500 Meter und die Hindernisstrecke mit sechs, fünf und sogar acht Teilnehmerinnen im Finale spielt Europa eine dominierende Rolle. In allen weiteren Disziplinen ist die Endlaufbeteiligung wesentlich besser als im männlichen Bereich.
  • Der noch „junge“ Hindernislauf ist eine Domäne Europas und Afrikas, nur eine weitere Athletin anderer Nationalität erreichte das Finale. Der 800-Meter-Lauf stellt mit sechs Teilnehmerinnen die am stärksten von Europa beherrschte Disziplin dar. Nur zwei Afrikanerinnen erreichten noch das Finale. Keine weitere internationale Athletin schaffte es ins Finale.

Die quantitativ weniger dominante Rolle Afrikas im Frauenbereich hängt nach wie vor mit der traditionellen Rolle der Frau in der afrikanischen Gesellschaft zusammen. Unter den männlichen Finalteilnehmern in den Laufdisziplinen gibt es acht Nationalitätenwechsler, bei den Frauen nur eine einzige. Dies ist auch ein Zeichen der traditionellen Verbundenheit der afrikanischen Frauen mit ihrer Heimat.

Tabelle 2 | WM 2009: Finalteilnehmer verschiedener Kontinente

Strecke

Männer

Frauen

  Afrika Europa weitere Platz. EU* Afrika Europa weitere Platz. EU*
800 m 4 3 3 4 2 6 3
1500 m 6 1 5 7 3 5 4 2
5000 m 9 2 5 7 8 4 3 7
10.000 m 14 5 11 15 6 7 8 10
Hindernis 9 4 2 3 6 8 1 1
Marathon 8 4 3 8 2 4 9 6
Gesamt 50 19 29   27 34 25  

 

Medaillenanteile

Erscheint die Finalteilnahme, also die quantitative Beurteilung, in der Gegenüberstellung zu Afrika noch moderat, lässt die qualitative Beurteilung (s. Tab. 3), also die Medaillenverteilung, keine Zweifel aufkommen, wer den Takt vorgibt.

Männer

Von insgesamt 18 zu vergebenen Medaillen im männlichen Laufbereich erreicht Afrika (vorwiegend Kenia und Äthiopien) allein 13 – darunter fünfmal Platz eins, fünfmal Platz zwei und dreimal Platz drei – eine beeindruckende Bilanz. Europa bringt es im gesamten Laufbereich noch auf eine Bronzemedaille über 3000 Meter Hindernis, wobei hierzu ein Europarekord notwendig war. Über 10.000 Meter belegt der beste Europäer nur Platz 15 (!), über 800 Meter Platz vier, über 1500 und 5000 Meter jeweils Platz sieben und im Marathon Platz acht. Europa verliert den Anschluss an die Weltelite!

Die vier verbleibenden Medaillen (1500 Meter Platz eins und drei, 5000 Meter Platz zwei und drei) werden von zwei Athleten aus den USA und jeweils einem aus Bahrain und Katar (ehemals Kenianer) erzielt. Im Marathon-Weltcup (inoffizielle Team-Weltmeisterschaft mit drei gewerteten Läufern pro Mannschaft) gewinnt Kenia vor Äthiopien und Japan. Hier kommt die traditionelle Stärke der Japaner im Straßenlauf zum Ausdruck.

Frauen

Liegt Europa in der Beurteilung der Anzahl der Finalteilnehmer im weiblichen Bereich noch deutlich vor Afrika, so ändert sich das Bild in der qualitativen Bewertung gravierend: Von den insgesamt 18 zu vergebenden Medaillen im Frauenbereich erhält Afrika zehn (je dreimal Platz eins und zwei, viermal Platz drei). Die geringere Quantität an Teilnehmerinnen verwandelt sich in eine Topqualität. So wird aus weniger doch manchmal mehr.

Die verbleibenden acht Medaillen gehen zur Hälfte an Europa (Hindernis Platz eins und zwei, 800 Meter Platz drei, 1500 Meter Platz zwei) und zur anderen Hälfte an weitere Nationen (1500 Meter Platz eins Bahrain, Platz drei USA; Marathon Platz eins und zwei für China und Japan). In Ergänzung zur Platzierung im Marathon-Weltcup (China und Japan Platz eins und zwei) wird die Konzentration auf den Straßenlauf in beiden Ländern mehr als deutlich. Die Platzierungen über 5000 und 10.000 Meter sowie im Marathon (Ränge sieben, zehn und sechs) zeigen, dass der Abstand Europas zu Afrika auf den Langstrecken größer ist als auf den Mittel- bzw. Hindernisstrecken.

In der zusammenfassenden Beurteilung beider Bereiche (männlich und weiblich) beherrschen die Afrikaner den Lauf nach wie vor weltweit, bei den Männern absolut, bei den Frauen mit wenigen Abstrichen.

Tabelle 3 | WM 2009: Medaillengewinner verschiedener Kontinente

Strecke

Männer

Frauen

  Afrika Europa weitere Afrika Europa weitere
800 m Platz 1-3 Platz 1-3 Platz 3
1500 m Platz 2 Platz 1 und 3 Platz 2 Platz 1 und 3
5000 m Platz 1 Platz 2 und 3 Platz 1-3
10.000 m Platz 1-3 Platz 3 Platz 1-3
Hindernis Platz 1-2 Platz 3 Platz 1 und 2
Marathon Platz 1-3 platz 3 Platz 1 und 2

 

3. Taktik- oder Tempoorientierung

Tempomacher oder „Hasen“ werden heute bei fast allen internationalen Meetings eingesetzt. Es gibt kaum Wettkämpfe ab 800 Meter, die nicht von mindestens einem Hasen angeführt werden. Je länger die Strecke, umso größer wird die Anzahl der Tempomacher. Die taktische Gestaltung übernimmt der „Hase“, der Athlet folgt ihm sozusagen „blindlings“, außer der „Hase“ läuft deutlich zu schnell, dann lässt das Feld ihn laufen. In diesem Fall ist häufig ein Phänomen zu erkennen: Das Rennen wird gesplittet – der „Hase“ weit vorne, das Feld in der Regel konzeptionslos dahinter. Die Athleten hatten nur eine Taktik, die „Hasentaktik“. Diese ist nun geplatzt und keiner weiß so recht, wie das Rennen gestaltet werden soll.

Da es bei internationalen Meisterschaften keinen „Hasen“ gibt, ist die Renngestaltung die große Herausforderung dieser Rennen. Hier ist jeder für seine Taktik selbst verantwortlich, von der Planung bis zur Realisierung. „Hasen“ oder Tempomacher gibt es nicht. Jeder muss für seinen Lauf vor allem die eigenen Stärken, aber auch die Schwächen der Gegner berücksichtigen. Und so verlaufen die Rennen plötzlich unkalkulierbar, es gibt sowohl Tempo- als auch Taktikrennen. Die zwölf Laufwettbewerbe der Männer und Frauen bei der diesjährigen WM lassen sich wie folgt einstufen:

  • 6 Temporennen:
    – 800 m Frauen
    – 10.000 m Männer
    – 3000 m Hindernis Männer und Frauen
    – Marathon Männer und Frauen.
  •  6 Taktikrennen:
    – 800 m Männer
    – 1500 m Männer und Frauen
    – 5000 m Männer und Frauen
    – 10.000 m Frauen

Kurzanalyse der Läufe bei der WM 2009

In einer Kurzanalyse soll auf die einzelnen Wettbewerbe eingegangen werden.

800 Meter der Männer und Frauen

Bei den Männern gab es analog dem Frauenrennen einen Start-Zielsieg, allerdings auf einem vergleichsweise niedrigeren Geschwindigkeitsniveau. Der Sieger Mbulaeni Mulaudzi passierte die 400 Meter nach gemächlichen 53,66 Sekunden, hatte aber den taktischen Vorteil, das Rennen von vorne kontrollieren und relativ frei laufen zu können. Hinter ihm drängelten und rempelten sich seine Mitstreiter – ein Vorteil für ihn als Frontläufer, ein Nachteil für alle dahinter.

Die Gewinnerin bei den Frauen, Caster Semenya (Südafrika), feierte einen Start-Zielsieg auf höchstem Niveau. Mit einer Zwischenzeit von 56,83 Sekunden bei 400 Metern und einer Endzeit von 1:55,45 Minuten zeigte sie eine absolute Weltklasseleistung. Der Vorteil ihrer Taktik besteht in einem relativ ungestörten Ablauf des Wettkampfes, erfordert allerdings ein Höchstmaß an Selbstvertrauen und Leistungsvermögen.

1500 Meter der Männer und Frauen

Das 1500-Meter-Rennen der Männer wurde in ganz gemächlichen, einheitlich langsamen Durchgangszeiten, dann allerdings mit einer explosiven Schlussrunde in etwa 51 Sekunden absolviert. Die beiden Erstplatzierten, Kamel und Mekkonen, waren in der Endphase ständig in führender Position. Wer bei einem solch langsamen Tempo nicht den unmittelbaren Kontakt nach vorne hat, ist chancenlos.

Im 1500-Meter-Lauf der Frauen, der im mittleren Tempo gestaltet wurde, hat die bis 200 Meter vor dem Ziel führende Äthiopierin Gelete Burka taktisch alles richtig gemacht, bis sie durch eine Körperattacke der zunächst als Siegerin einlaufenden Spanierin Natalia Rodríguez auf unfaire Weise zu Fall gebracht wurde. Die Disqualifikation der Spanierin konnte ihr aufgrund der verwehrten Medaillenchance kein Trost sein.
Dies sind Unwägbarkeiten des Mittel- und Langstreckenlaufs, die gute Taktik wurde gewaltsam zerstört. Zur taktischen Vorbereitung gehört auch die Auseinandersetzung mit der Sturzsituation.

Manche bleiben wie gelähmt liegen, andere haben noch nicht ganz den Boden berührt, da springen sie schon wieder auf und befinden sich in Laufposition. Geschieht dies allerdings, wie in diesem Rennen, in der Endphase, hilft auch die schnelle Reaktion nicht mehr. Vorbildlich in ihrer Handlungsweise nach dem Sturz im 800-m-Lauf war unsere Silbermedaillengewinnerin im Siebenkampf, Jennifer Oeser. Ihre blitzschnelle Reaktion hat ihr die Medaille gerettet.

3000 Meter Hindernis der Männer und Frauen

Die Favoriten Kenias unterstützten sich in einem schnellen Rennen gegenseitig. Ab 1000 Meter übernahmen sie die Geschwindigkeitsgestaltung in Teamarbeit, um das Rennen dann mit Platz eins und zwei in Rekordzeiten und einer letzten Runde von etwa 60 Sekunden zu beenden. Von diesem schnellen Lauf profitierte auch der drittplatzierte Franzose Bouabdellah Tahri, der einen neuen Europarekord lief. Taktik in Teamarbeit kann ein Vorteil sein.

Bei den Frauen wurden die ersten 1000 Meter zügig, der Mittelteil eher verhalten und der letzte Kilometer wieder zügig gelaufen. Mit einer letzten Runde von etwa 67 Sekunden spielte die Siegerin Marta Dominguez ihre Spurtqualitäten aus. Sie blieb während des gesamten Rennens in Lauerposition und konnte kräftesparend laufen. Profitierend von den zweiten langsameren 1000 Metern, erzielte Antje Möldner, taktisch immer auf der Höhe, einen neuen deutschen Rekord und mit Platz neun die beste DLV-Platzierung im Laufbereich.

5000 Meter der Männer und Frauen

Über 5000 Meter der Männer dominierte der derzeit „Außerirdische“ des internationalen Langstreckenlaufes, Kenenisa Bekele. Ein Start- Zielsieg in einem WM-Finale mit großer Konkurrenz bedarf schon einer außergewöhnlichen Portion Leistungsstärke und Selbstvertrauen, gepaart mit unglaublicher Nervenstärke – besonders da der Äthiopier das Rennen im „Schlafwagentempo“ bis 4000 Meter anführte, immer in dem Bewusstsein, die besseren Spurtfähigkeiten zu haben. Mit etwa 2:25,00 Minuten für die letzten 1000 Meter und 54 Sekunden für die letzten 400 Meter endet ein 4000-Meter-Taktikrennen in einem „eruptionsartigen“ Abschluss. Da Kenenisa Bekele bereits die 10.000 Meter gewann, er also vorbelastet in den 5000-Meter-Wettkampf ging, setzte er eine möglichst energiesparende Taktik ein.

Alle Konkurrenten wussten dies, alle ließen ihn gewähren, ohne die eigenen Chancen in einem Temporennen zu suchen. Sicherlich war bei allen Finalgegnern das Bewusstsein vorhanden, es fehlte ihnen allein der Mut, die eigene Taktik anzuwenden.

Etwas undramatischer verlief der 5000-Meter-Lauf der Frauen, wobei der Rennverlauf dem Männerrennen stark ähnelte. Bis 4000 Meter war das Tempo verhalten, die letzten 1000 Meter wurden dann in etwa 2:42 Minuten gelaufen. Drei Afrikanerinnen belegten die Medaillenränge. In einem solchen Rennen beginnt die Taktik erst zwei, spätestens eine Runde vor Schluss.

10.000 Meter der Männer und Frauen

Ein Rennen, das in zwei ungleichen Hälften verlief. Die ersten 5000 Meter, die Taktikhälfte, wurden in gemächlichen 13:40,45 Minuten gelaufen. Die zweite Rennhälfte absolvierten die Athleten in unglaublichen 13:06 Minuten – Tempo pur. Der Sieger Kenenisa Bekele war in vollem Vertrauen auf seine Spurtkraft und mit einer letzten Runde von etwa 58 Sekunden nicht zu gefährden. Da Kenenisa Bekele später auch die 5000 Meter lief (s. oben), war die Taktik des Zweitplatzierten, Tadesem, ihn ab 6000 Meter mit höchster Geschwindigkeit herauszufordern, absolut richtig. Ist der Gegner dann doch noch stärker, hat man zumindest seine Chance gewahrt.

Bei den Frauen gehören die Rennen über diese Distanz in aller Regel den Afrikanerinnen. Egal, ob Tempo oder Taktik, sie bestimmen den Ablauf des Wettkampfes aufgrund ihrer außergewöhnlichen Leistungsfähigkeit. So auch in diesem Rennen, das in gleichförmig mäßigem Tempo bis etwa 8000 Meter, dann allerdings mit einer Steigerung – die letzten 2000 Meter wurden in 5:51 Minuten, die letzten 1000 Meter in 2:48 Minuten gelaufen – absolviert wurde. Die kenianische Gewinnerin Linet Masai zeigte kluges, taktisches Verhalten auf den letzten 200 Metern: Während ihre beiden schärfsten äthiopischen Gegnerinnen 200 Meter vor dem Ziel den Endkampf in Form eines aufreibenden Brust-an-Brust-Fights eröffneten, blieb sie in Lauerstellung dahinter, um 20 Meter vor dem Ziel die sich gegenseitig zermürbenden Äthiopierinnen ruhigen Schrittes zu überlaufen.

Auch das ist eine taktische Grundregel: In schwierigen, hitzigen Situationen sollten die Athleten immer Ruhe bewahren! Voraussetzung für Spitzenleistungen sind nicht nur die körperlichen, sondern auch mentale Leistungsfähigkeiten. Die körperliche Leistungsfähigkeit kann nur durch kluges, taktisches Verhalten im Rennen endgültig und vor allem effektiv umgesetzt werden. 

Marathon der Männer und Frauen

Der Männermarathon wurde von den Afrikanern dominiert und verlief in gleichmäßig hoher Geschwindigkeit mit einer Halbmarathonzeit von 1:03:03 Stunden. Der spätere Weltmeister Abel Kirui aus Kenia lief ab Kilometer 25 stets in der Spitzengruppe und absolvierte die zweite Streckenhälfte beinahe ebenso schnell wie die erste. Die Laufleistungen im Marathon der Männer waren insgesamt auf hohem Niveau.

Der Marathonlauf der Frauen verlief in zwei ungleichen Abschnitten, die erste Hälfte wurde in 1:13:39 Stunden, die zweite dann in etwa 1:11:36 Stunden absolviert. Die Siegerin Xue Bai lief sehr gleichmäßig und hatte immer Kontakt zur Spitze. Im Endergebnis spiegelt sich die asiatische Vorliebe für den Straßenlauf wider.

4. Nationenwertung für Europa

2010 finden die Europameisterschaften in Barcelona statt, weshalb sich der Blick auf die Nationenwertung in Bezug auf Europa besonders lohnt.

Im Rahmen der Nationenwertung werden bei internationalen Meisterschaften für die Plätze eins bis acht Punkte von acht bis eins vergeben. In Tabelle 4 ist die Nationenwertung der WM 2009, bezogen auf Europa, dargestellt. Dieser innereuropäische Vergleich ist dringend notwendig, um den Glauben an die eigene Leistungsfähigkeit, zumindest für europäisches Gebiet, wieder herzustellen. International, das bestätigt die Nationenwertung, wird Europa im Laufbereich von Jahr zu Jahr chancenloser: Der männliche Laufbereich in Europa erzielt in Berlin von 216 möglichen Nationenpunkten noch ganze 20, eine einzige Bronzemedaille, einmal Platz vier, dreimal Platz sieben sowie dreimal Platz acht.

Die Nationenfolge mit Frankreich (acht Punkte), Russland (fünf Punkte), Niederlande und Großbritannien (je zwei Punkte), Polen, Finnland und Spanien (je ein Punkt) macht einmal mehr deutlich, dass nur noch wenige euro päische Nationen in der Lage und vielleicht bald auch willens sind, sich dem weltweiten Vergleich zu stellen. Die „ehemalige“ Laufnation Spanien erzielt noch einen einzigen Punkt, nahezu eine Bankrotterklärung. Viele traditionell starke Laufnationen erscheinen gar nicht mehr.

Die Dominanz der Afrikaner erstickt den Willen, die Motivation der europäischen Läufer, eine zeit-, kosten- und energieintensive Vorbereitung zu betreiben, um dann als Vorlauffüller und Verlierer zu gelten. Nicht nur diese Auswertung bestätigt diesen Trend, die Laufwettbewerbe der internationalen Meetings werden zu einem hohen Prozentsatz durch Afrikaner bestritten.

Etwas besser stellt sich das Ergebnis im weiblichen Laufbereich in Europa dar. Von den 216 möglichen Punkten erreicht Europa zumindest 62 Punkte, wobei sich mit vier Medaillen und weiteren 11 Endkampfplatzierungen eine konkurrenzfähigere Situation ergibt. Drei Nationen (Russland = 18, Spanien = 15 und Großbritannien = 14 Punkte) heben sich innereuropäisch deutlich ab. Mit mehr oder weniger Einzelplatzierungen und -punkten folgen die Ukraine, Italien (je fünf Punkte), Portugal (drei Punkte) und Polen (zwei Punkte). Analog dem männlichen Bereich tauchen auch hier eine Reihe traditioneller Laufnationen Europas nicht mehr auf.

Die europäische Laufszene „lechzt“ nach europäischen Meisterschaften, die  in Barcelona und ab 2012 nicht mehr alle vier, sondern alle zwei Jahre stattfinden – sicher auch ein Ansatz, die europäische Laufszene auf ihrem Niveau zu erhalten. Hier werden notwendige Anreize geboten, weil sich die Athleten leistungsmäßig zwar unter dem Weltniveau, aber auf Augenhöhe befinden.

Das Ergebnis der europäischen Nationenwertung in den Laufdisziplinen bei den Weltmeisterschaften 2009 lässt in Verbindung mit den Austragungsorten der kommenden internationalen Meisterschaften die Prognose zu, dass Spanien und Großbritannien als gastgebende Nationen dieser Großereignisse in Zukunft zusammen mit Russland eine dominierende Rolle im europäischen Laufbereich spielen werden.

Tabelle 4 | WM 2009: Nationenwertung für Europa

Strecke Männer Frauen
  RUS NED POL FRA GBR FIN ESP GBR UKR RUS ITA ESP POL POR
800 m 5 2 1 6/1 5 4 3 2
1500 m 2 7 1 5 2
5000 m 2 2
10.000 m
Hindernis 6 1 7/5 8
Marathon 1 1 3
Gesamt 5 2 1 8 2 1 1 14 5 18 5 15 2 3

 

5. Standortbestimmung für den DLV

Für die Weltmeisterschaften in Berlin nominierte der DLV im Bereich Lauf für die Bahnwettbewerbe fünf männliche (über die Distanzen 800, 1500, 5000 Meter und über 3000 Meter Hindernis) und zwei weibliche Athleten (800 Meter und Hindernisstrecke). Für den Marathonlauf wurden inklusive des Weltcups vier Männer und fünf Frauen nominiert.

Auf der Bahn wurde die beste Platzierung durch Antje Möldner mit Platz neun in Deutscher Rekordzeit über 3000-Meter-Hindernis der Frauen erzielt, alle übrigen Athleten schieden in den Vorläufen aus.

Im Marathon belegte die Männermannschaft Platz neun, in der Einzelwertung die Plätze 18, 34, 50 und 66. Zwei Athleten lagen in der Nähe ihrer Vorleistungen, zwei weitere wichen deutlich davon ab. Die Frauenmannschaft, geschwächt durch Ausfälle leistungsstarker Athletinnen, kam nicht in die Mannschaftswertung, da von den vier gestarteten zwei aufgaben. Die beiden verbleibenden Läuferinnen erreichten die Plätze 17 und 34 – nur eine Athletin blieb im Rahmen ihres Leistungsniveaus.

Der Laufbereich des DLV befindet sich in einer schwierigen Situation. Die leistungsmäßigen Ansprüche einer WM überfordern viele Athleten und Athletinnen. Die Europameisterschaften im kommenden Jahr bieten die Möglichkeit, über den europäischen Standard auch den weltweiten Anschluss zu suchen.

Die Ergebnisse in den Laufdisziplinen bei den Europameisterschaften 2009 in der Altersklasse U20 und U23 ermöglichen einen Ausblick auf die Situation der deutschen Läufer (Tab. 5):

  • Die U20-Mannschaft blieb im männlichen Bereich über 800 und 1500 Meter ohne Finalteilnehmer, die 5000 Meter wurden gar nicht erst besetzt und über 3000 Meter gab der einzige Finalteilnehmer auf. Ein siebter Platz über 3000 Meter Hindernis bedeutete das bes te Ergebnis der deutschen Läufer bei dieser Meisterschaft. 
  • Die Läuferinnen der Altersklasse U20 waren mit zwei Medaillen und den Plätzen sechs, zehn, elf und zwölf deutlich leistungsstärker als ihre männlichen Kollegen. Allerdings wurden auch hier die 5000 Meter nicht besetzt.
  • Bei der U23-EM gewannen die Männer eine Medaille und erreichten weitere fünf Endkampfplätze. Diese Erfolge beschränkten sich auf die 800, 5000 und 10.000 Meter. Über 1500 Meter und auf der Hindernisstrecke gab es keine deutschen Finalteilnehmer.
  • In der U23-Mannschaft der Frauen waren die Hindernisläuferinnen mit zwei Medaillen am erfolgreichsten. Mit Platz elf über 1500 Meter und den Rängen acht und elf über 5000 Meter gab es weitere gute Platzierungen. Dagegen blieb die 800-Meter-Strecke ohne deutsche Finalteilnehmerin und die 10.000 Meter waren von vornherein vom DLV nicht besetzt.

Die deutschen Ergebnisse dieser beiden internationalen Nachwuchsmeisterschaften weisen in den Laufdisziplinen insgesamt fünf Medaillengewinner und acht weitere Finalplätze aus. Eine Situation, die auf dem Weg, den internationalen Anschluss zu finden, noch viel Arbeit erfordert.

Tabelle 5 | U20-/U23-EM 2009: DLV-Endkampfplätze

Strecke U20-EM U23-EM
  Männer Frauen Männer Frauen
800 m Platz 2/2.04,14 min Platz 3/1.46,63 min
Platz 7/1.48,31 min
Platz 8/1.48,73 min
1500 m Platz 3/4.16,86 min
Platz 6/4.19,68 min
Platz 11/4.25,99 min
3000 m
5000 m
1/DNF Platz 10/9.52,89 min Platz 5/14.04,15 min
Platz 8/14.09,13 min
Platz 10/14.11,44 min
5000 m
10.000 m
Platz 4/30.30,46 min ohne Teilnehmer
Hindernis Platz 7/8.59,93 min Platz 11/10.39,38 min
Platz 12/10.45,71 min
ohne Teilnehmer Platz 2/9.57,44 min
Platz 3/10.01,87min
 
DNF = Teilnehmer hat den Lauf nicht beendet

 

6. Schlussbetrachtung

Afrika, bei den Weltmeisterschaften stark vertreten durch Kenia und Äthiopien, bleibt nach wie vor führend in der internationalen Szene aller Laufdisziplinen. Die genetischen Voraussetzungen sind gegeben, und so lange der große Motivationsfaktor „sozialer Aufstieg“, verbunden mit materiellen Anreizen, bestehen bleibt, sorgt das große Nachwuchspotenzial im männlichen wie im weiblichen Bereich für immer neue Topathleten. Aufgrund des Überangebots an afrikanischen Weltklasseläufern wird sich der Nationalitätenwechsel in finanzstarke Länder sicher auch in den nächsten Jahren fortsetzen.

Bei anhaltender positiver amerikanischer Entwicklung im Lauf bereich kann die USA zukünftig ein weiterer, starker Faktor in der internationalen Laufszene werden. Diese Entwicklung könnte jedoch zu Lasten der europäischen Athleten gehen: So, wie sich Europa im männlichen Bereich in diesem Jahr bei den Weltmeisterschaften in Berlin präsentiert hat, sind zukünftig schwere Zeiten zu erwarten.

Möglicherweise sind die eher schwachen Leistungen auch erste Anzeichen einer Resignation und einer verstärkten Konzentration auf die ab 2010 alle zwei Jahre stattfindenden Europameisterschaften. Sollten Afrikas Frauen ihre gesellschaftliche Rolle verstärkt in Richtung des leistungssportlichen Engagements verändern, könnte dies analog zu den Männern zu einer ähnlichen Dominanz führen und auch hier die europäische Laufszene in den Hintergrund drängen.

Die Darstellung der DLV-Läufer bei den Weltmeisterschaften in Berlin lässt – auch wenn der eine oder andere hoffnungsvolle Athlet fehlte oder unglücklich ausscheiden musste – eine schwierige Zukunft erwarten. Dies bestätigt auch das bereits beschriebene, nicht zufriedenstellende Abschneiden der U20- und U23- Mannschaften bei den jeweiligen Europameisterschaften.

Aufgrund des derzeitig fehlenden Vermögens der meisten deutschen Läufer, sich auf Weltniveau durchzusetzen bzw. zumindest den Anschluss zu finden, erscheint es sinnvoll, die internationalen Wettkämpfe auf europäischem Boden als künftigen Schwerpunkt zu wählen.

Über diesen Weg können die Athleten Erfolgserlebnisse sammeln und genügend Selbstvertrauen und Motivation gewinnen, um in Einzelfällen allmählich wieder zur Weltklasse aufschließen zu können.

Der Autor

Lothar HIRSCH, von 1973 bis 1988 Bundestrainer Langstrecke, von 1989 bis 1993 Cheftrainer Lauf und von 1994 bis 2004 Teamleiter Lauf im DLV

Anschrift: Alte Heerstr. 88b, 56076 Koblenz
E-Mail: lhirsch@t-online.de

Quelle: Leistungssport 1/2010

LEISTUNSSPORT

author: GRR

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