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27
08
2007

Gut sechs Minuten starrten sich acht Läuferinnen nach ihrem Endlauf gegenseitig an, schauten ratlos auf den riesigen Bildschirm. Auch das Publikum, das die riesige Arena mit ihren rund 50.000 Sitzplätzen zu mehr als der Hälfte füllte, gab deutlich Zeichen der Ratlosigkeit und des Unmuts von sich: Gemurmel, Rufe und Pfiffe.

Leichtathletik-WM – 100 Meter der Frauen – Elf Sekunden laufen, sechs Minuten warten

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Wieder einmal lag der Zweifel, wie mit Händen zu greifen, über einem Leichtathletikstadion – doch diesmal hatte er mit dem Dopingverdacht, der die Weltmeisterschaften überschattet, nichts zu tun. Allein das Ergebnis vom Sprint der Frauen, das die Organisatoren am Montagabend nach dem Lauf über 100 Meter im Nagai-Stadion einblendeten, war offensichtlich falsch.

Gut sechs Minuten starrten sich acht Läuferinnen nach ihrem Endlauf gegenseitig an, schauten ratlos auf den riesigen Bildschirm. Auch das Publikum, das die riesige Arena mit ihren rund 50.000 Sitzplätzen zu mehr als der Hälfte füllte, gab deutlich Zeichen der Ratlosigkeit und des Unmuts von sich: Gemurmel, Rufe und Pfiffe.

Williams oder Campbell?

Dann erst leuchteten die Namen der ersten beiden des Sprints auf: Veronica Campbell aus Jamaika vor der amerikanischen Titelverteidigerin Lauryn Williams, beide mit 11,01 Sekunden. Dritte wurde überraschend Carmeliter Jeter, auf Platz vier kam die nachgerückte Weltmeisterin von Paris, Torri Edwards, die 2003 in Paris die Goldmedaille der geständigen Doperin Kelly White bekam. Als schnellste Europäerin erwies sich auf Platz fünf die belgische Europameisterin Kim Gevaert.

Elf Sekunden laufen, sechs Minuten warten – die japanischen Organisatoren hatten neben der Wartezeit noch eine weitere Überraschung parat, um die Spannung zu steigern. Sie blendeten abwechselnd den Film des Finales, ein Standbild vom engen, unübersichtlichen Zieleinlauf und die Notiz ein, dass Torri Edwards Erste geworden sei – das allerdings war, wie alle hatten sehen können, ganz und gar unmöglich.

Ein kleiner Vorsprung vor allen anderen

Die Frage war nur, ob die 23 Jahre alte Texanerin Lauryn Williams ihre Jahresbestzeit von 11,09 hatte steigern und ihren vor zwei Jahren in Helsinki gewonnen Titel verteidigen können. Oder ob die zwei Jahre ältere Veronica Campbell ihr den Titel weggeschnappt hatte. „Vor drei Jahren war ich vor den Olympischen Spielen die Nummer eins über 200 Meter gewesen und habe Gold gewonnen“, hatte sie in der vergangenen Woche gesagt und auf ihre Bestzeit 2007 von 10,89 Sekunden verwiesen. „Jetzt bin ich die Nummer eins über 100 Meter – wir müssen nur abwarten und schauen, was passiert.“

Als alle aufgeregt darauf warteten, dass das Schiedsgericht das richtige Ergebnis aus dem Computer bekommen würde, lehnte sich Veronica Campbell ruhig an ein Absperrgitter und trank Wasser aus einer Flasche. Fast schon amüsiert beobachtete sie, wie Lauryn Williams aufgeregt Fernsehinterviews gab und immer wieder auf die Anzeigentafel schaute. Dann sprang sie jubelnd in die Luft.

Triumph für Trainer Lance Brauman

Wenige Sekunden später zeigte die Anzeigentafel, dass Veronica Campbell Weltmeisterin ist. Schon wieder hatte die neue schnellste Frau der Welt einen kleinen Vorsprung vor allen anderen. „Ich war sehr zuversichtlich, auch als die Verwirrung herrschte, weil ich wusste, dass ich am Ende schnell unterwegs war“, sagte die Jahres-Weltbeste (10,89).

Lauryn Williams trug die Entscheidung der Kampfrichter mit Fassung. „Ich bin stolz, dass ich beim Fotofinish eine Rolle gespielt habe“, sagte die frühere Weltmeisterin, der vor dem designierten Duell zwischen Campbell und Edwards nur eine Nebenrolle zugesprochen worden war. Einen solch knappen Einlauf in einem WM-Finale hatte es zuvor nur einmal gegeben. 1993 bei der WM in Stuttgart waren Siegerin Gail Devers aus den Vereinigten Staaten und Merlene Ottey aus Jamaika zeitgleich in 10,82 ins Ziel gelaufen.

Trainer wegen guter Führung entlassen

Der Erfolg von Veronica Campbell ist ein Triumph für Trainer Lance Brauman. Der Mann, der wegen Untreue im Gefängnis saß, betreute aus der Zelle heraus sowohl die neue Weltmeisterin als auch den neuen Weltmeister im Sprint, seinen amerikanischen Landsmann Tyson Gay. Er dürfte die glücklichsten 24 Stunden seine Lebens erlebt haben. Am Sonntagabend siegte Gay, am Montag Veronica Campbell, und dazwischen wurde er wegen guter Führung entlassen. (Siehe auch: Mit guter Führung aus der Zelle zum Weltrekord).

Veronica Campbell verließ ihre Heimat Jamaika und ihre Familie mit vier Schwestern und fünf Brüdern, um ein Stipendium an der Universität von Arkansas anzunehmen, das ihr Braumann verschafft hat. Anders als ihr Mannschaftskamerad Tyson Gay äußert sie sich nicht missionarisch. „Doping?“ sagte sie, als danach gefragt wurde. „Damit habe ich nichts zu tun. Ich kann den Leuten nicht sagen, was sie denken und glauben sollen. Ich konzentriere mich auf mich und auf mein Rennen.“ Deshalb vermutlich wusste sie schon vor allen anderen, wie der Sprint am Montag ausgegangen war.

Michael Reinsch
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Montag, den 27. August 2007

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