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06
02
2008

Ich bin nicht dafür, den deutschen Sport von Medaillen- zu Siegersportarten umzudefinieren und uns die Freude an einer Bronzemedaille zu nehmen. Ich finde es auch gar nicht schlimm ist, wenn etwa Kenia und Äthiopien die Langstrecke dominieren

Leichtathletik-Cheftrainer Jürgen Mallow – „Wir treiben Raubbau mit unseren Trainern“ – “Wir könnten viel besser sein“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Jürgen Mallow ist nach den Olympischen Spielen 2004 in Athen Cheftrainer geworden. Nun geht es wieder aufwärts mit den deutschen Leichtathleten. Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spricht der 63-Jährige über das Ergebnis des Sparkurses und den Preis für eine leistungsstarke Leichtathletik.

Sie haben im Winter gesagt, dass Sie sich noch nicht entschieden hätten, ob Sie 2009 bei den Weltmeisterschaften in Berlin noch Bundestrainer seien. Drohen Sie mit Demission?

Das war ein Einwurf in einem Interview. Da wurde selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich nach den Olympischen Spielen in Peking weitermache. Ich habe dann gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist.
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Knüpfen Sie ans Weitermachen Bedingungen?

Leichtathletik ist nicht billig zu haben. Es gibt keine Athletics Light. Um Deutschland bei den Meisterschaften und Länderkämpfen von der U18 über U20 und U23 bis zu den Aktiven repräsentieren zu können, brauchen wir rund 300 Athleten. Die wollen betreut sein.

Das klingt nach: mehr Geld!

Wir müssen sparsam sein. Der DLV plant für die Olympiavorbereitung seiner 85 Top-Team-Athleten mit durchschnittlich je 5000 Euro. Für die 51 Trainer der C-, B- und A-Kader-Athleten in 47 olympischen Disziplinen haben wir nur je 3000 Euro im Haushalt für Kilometergeld, Tagegeld und Übernachtungen. Nur 19 von diesen 51 haben eine volle Stelle. Man kann sagen, dass die Leichtathletik und ihre Trainer von Idealismus und Leidenschaft leben. Man kann aber auch sagen: Wir treiben Raubbau mit unseren Trainern. Wir haben keinen hauptamtlichen Trainer im Speerwurf der Männer, keinen im Zehnkampf – Disziplinen, in denen wir vor kurzem noch Weltklasseleistungen gebracht haben. Für alle Laufstrecken von 800 Meter bis Marathon gibt es einen einzigen hauptamtlichen Trainer.

Ihre Förderung ist zusammengestrichen worden, weil die Leichtathleten bei den Olympischen Spielen von Athen nur zwei Medaillen gewonnen haben.

2004 haben wir entscheiden müssen, wen wir bei der immensen Größe dieses Mangels opfern – wohl wissend, von was für einem Potential wir uns trennen. Wir könnten viel besser sein. Der Topf der Sportförderung war seit 1986 ohnehin kontinuierlich kleiner geworden. Seit 1992 hatten wir einen Inflationsverlust von vierzig Prozent. Seit 2005 verwalten wir einen Mangel. Es ist dankenswert, dass der Bundeshaushalt in diesem Jahr signifikant aufgestockt worden ist. Ich nehme an, dass wir die Chance bekommen, Defizite zu beseitigen. Medaillen können wir nur gewinnen, wenn wir Athleten wie Arthur Abele, Christian Reif und Linda Stahl die Chance geben, sich zu entwickeln, unabhängig von Medaillen. Man muss das Ganze fördern.

Unabhängig vom Erfolg?

Man muss investieren in Sportarten, in denen wir konkurrenzfähig sein können. In allen Sprungdisziplinen sind Europäer in der Weltspitze, und auch wir haben schon in allen Sprungdisziplinen Weltklasseathleten gehabt. Da müssen wir dranbleiben, damit wir dort Medaillen und vordere Plazierungen kriegen. Aber wir haben keinen hauptamtlichen Trainer im Dreisprung, keinen hauptamtlichen Trainer im Hochsprung, weder bei den Männern noch bei den Frauen.

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eicht es nicht, wenn sich Vereinstrainer um die Top-Athleten kümmern?

Das Know-How, das wir brauchen, um weiterhin Leistungen in der Weltspitze produzieren zu können, ist gefährdet. Wir riskieren, es unwiederbringlich zu verlieren. Wir brauchen Bundestrainer, um diese Kenntnisse zu sichern, denn ein Bundestrainer konkurriert nicht mit anderen deutschen Trainern und nimmt sein Fachwissen auch nicht mit ins Grab.

Diskus-Weltmeisterin Franka Dietzsch braucht ihren Klubtrainer gewiss eher als einen Bundestrainer.

Wenn wir den Wurf auf höchstem Niveau halten möchten, wird das auf Dauer nicht nur mit Honorartrainern gehen. Wir brauchen Trainer, die Spitzenathleten trainieren können. Das können doch die Vereine nicht allein bezahlen. Deshalb bekommen Dieter Kollark in Neubrandenburg und Helge Zöllkau in Leverkusen auch von uns Honorar. Unsere Medaillengewinner von Osaka trainieren alle bei Bundestrainern oder Vereinstrainern, die wir zusätzlich honorieren. Unsere Nachwuchstrainer bekommen 200 bis 400 Euro monatlich. Dabei ist das größte Pfund, mit dem wir wuchern können, das Wissen und das Engagement unserer Trainer, ihre Leidenschaft und ihr Idealismus. Nur mit angemessener Unterstützung durch Bundesmittel kann unsere Sportart konkurrenzfähig bleiben. Die Vereine tragen ohnehin den größten Teil der Last.

Gibt es Bereiche, in denen Wissen verlorengegangen ist?

Es hat uns jahrelang sehr geschadet, dass Eckhard Hutt nicht mehr bei uns war, der Trainer von Ralf Jaros und Peter Bouschen. Jaros sprang 1991 dopingfrei 17,66 Meter, das ist bis heute deutscher Rekord. Wir haben ihn jetzt zurückgeholt.

Warum braucht die Gesellschaft solche Trainer?

Ihre Arbeit ist eine Kulturleistung. Je spezialisierter ein Wissen ist und je seltener es ist, desto weniger wird es abgerufen. Geigenbauer können überleben, weil es eine hochbezahlte Nachfrage gibt. Aber wer anders als die Gesellschaft soll einen Hammerwurftrainer beschäftigen?

Auch die Weltraumfahrt steckt sich hohe Ziele, entwickelt Technik – und wirkt angeblich zurück in den Alltag. Welches ist Ihre Teflonpfanne?

Die Gesellschaft profitiert davon, dass Athleten nach ihrer sportlichen Laufbahn hochqualifiziert und meist auch hochmotiviert ihren Beruf ausüben. Trainer entwickeln eine Leistungskultur. Sie lehren, sich mit hohem Engagement einer Herausforderung zu stellen. Wer das einmal getan hat, der hört später nicht nach 38 Wochenstunden auf zu arbeiten. Er bringt seine charakterliche Eigenschaft, überdurchschnittlich viel leisten zu wollen, auch in andere Bereiche ein.

Das Förderkonzept, das auf Medaillengewinnen bei Olympischen Spielen basiert, definiert Gewinner, und damit definiert es auch Verlierer …

Wir sind in den vergangenen Jahren als Verlierer definiert worden.

Wie wollen Sie sich im Verteilungskampf gegen Sportarten wie Biathlon durchsetzen?

Wenn die Biathleten ein, zwei oder drei erfolgreiche Athleten haben, gewinnen sie nicht wie wir ein, zwei oder drei Medaillen – sagen wir: im Stabhochsprung, im Diskuswerfen und im Speerwerfen -, sondern sie gewinnen gleich sieben oder acht, weil sie so viele Wettbewerbe geschaffen haben. Das ist sehr effektiv. Die Leichtathletik ist auch in diesem Sinn verhältnismäßig teuer, weil weniger effektiv. Man muss fairerweise aber auch sagen, dass für ein Ergebnis wie das von der Weltmeisterschaften in Osaka – sieben Medaillen, davon zwei goldene – mindestens vier Ballsportarten nötig wären.

Reicht das Geld des Leichtathletik-Verbandes für die Olympiavorbereitung?

Bis 2007 war es immer zu wenig. Für 2008 bekommen wir für die Olympiavorbereitung unseres Top-Teams endlich, was wir benötigen. Damit es keine Missverständnisse gibt: Mit den 5000 Euro, die im Schnitt auf jeden Top-Team-Athleten entfallen, muss dieser alle Kosten bestreiten: Trainingslager mit Anreise, Kost und Logis – und zwar nicht nur für den Sportler, sondern auch für seine Trainer, Physiotherapeuten und Ärzte. Unsere Grundförderung beträgt seit 2005, dem historischen Tiefpunkt, 850.000 Euro Bundesmittel. Inflationsbereinigt ist das etwa die Hälfte von dem, was wir 1986 hatten. Wenn wir davon allein die Reisekosten für die internationale Repräsentation abziehen, verbleiben für Lehrgänge und Trainingslager der B- und C-Kader nicht einmal tausend Euro pro Jahr.

Der deutsche Sport will sich in Peking mit Platz acht oder neun zufriedengeben und in London vorrücken auf Platz fünf. Werden Sie dazu beitragen können?

Ohne Leichtathletik geht das nicht. Mit unseren 47 Disziplinen machen wir etwa ein Sechstel der Olympischen Spiele aus. Das Paradoxe ist: Selbst wenn wir zehn Medaillen gewinnen und sie sind alle silbern, sind wir in der Nationenwertung nicht einen Platz weiter vorn. Die ist zunächst nur an Goldmedaillen orientiert. Die Frage ist, ob das noch ein vernünftiges Kriterium sein kann, um Leistungssport zu bewerten. Dass vierte, fünfte und sechste Plätze nichts gelten, liegt in der Idee der Spiele: Nur die ersten drei bekommen Medaillen. Aber das heißt doch nicht, dass der Vierte bei Olympischen Spielen nicht auch ein großartiger Sportler ist, der jede Förderung erhalten sollte. Vielleicht ist er derjenige, der vier Jahre später Erster, Zweiter oder Dritter wird.

Wenn er nur Zweiter oder Dritter wird, reicht das eigentlich nicht aus …

Ich bin nicht dafür, den deutschen Sport von Medaillen- zu Siegersportarten umzudefinieren und uns die Freude an einer Bronzemedaille zu nehmen. Ich finde es auch gar nicht schlimm ist, wenn etwa Kenia und Äthiopien die Langstrecke dominieren. Dafür dominieren wir den Wintersport. Ich habe noch keinen Kenianer darüber klagen hören, dass sie beim Biathlon immer hinterherlaufen.

Wie viele hauptamtliche Trainer brauchen Sie?

Etwa 35. Nur so sichern wir die Leistungsfähigkeit der Leichtathletik über 2012 und 2016 hinaus. Wir erleben einen dramatischen Umbruch, weil es nicht attraktiv ist, Trainer zu sein. Im statistischen Mittel verdient ein Bundestrainer weniger als ein Industriefacharbeiter.

Die Fragen stellte Michael Reinsch.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Mittwoch, dem 6. Februar 2008 

author: GRR

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