Beweglich wie ein Affe! Dr. Schleip demonstriert Faszien-Fitness ©faszialnet.com
„Läufer sollten ihr Konzept vom Körper ändern“ – JoAnna Zybon (Text und Interview) in SPIRIDON
Wie ein Spinnennetz durchziehen Faszien den ganzen Körper. Anders als lange angenommen sind sie kein passives Material, sondern richtig spannend: Nur mit ihrer Hilfe bewegen sich Menschen kraftvoll und elastisch.
Die Faszien halten den Körper aufrecht, verleihen ihm Spannung und übertragen Kräfte. Sie enthalten Wahrnehmungssensoren und gelten als sechstes Sinnesorgan. Nicht nur für den Faszien-Papst Dr. Robert Schleip sind sie das Faszinierendste auf Erde:
Mit Grapefruits, Gummischlangen und Damenstrumpfhosen erklärt Dr. Schleip die Eigenschaften des menschlichen Bindegewebes. Um gleich mit beiden Begriffen zu starten: „Bindegewebe“ und „Faszien“ werden im modernen Wissenschaftsjargon zumeist synonym verwandt. Beide Begriffe bezeichnen die körperweiten Stränge aus verschiedenen Gewebetypen, die frühergetrennt voneinander betrachtet wurden, heute aber als ein System und sogar als eigenständiges Organ verstanden werden.
In diesem System eingebunden sind u.a. die Häute, Hüllen und Beutel, in denen Organe wie Herz und Niere eingepackt sind. Muskelhüllen gehören zu dem Netzwerk dazu, aber auch die Häuteinnerhalb des Muskels. Sehnenhüllen zählen dazu, aberauch die Sehnen selbst, überdies Bänder, Gelenkkapseln, Fett- und Füllgewebe u.a.m. Faszien sind also nicht nur „die Pelle von der Wurst“.
Ihre unglaublich vielseitigen Aufgaben im Körper werden in vier Grundfunktionen eingeteilt:
Formen, Bewegen, Versorgen, Kommunizieren. Für Läufer ist zunächst die Bewegungsfunktion wichtig.
Wie Sprungfedern
Ohne Faszien würden Muskeln nicht funktionieren. Ausgerechnet jene „Wurstpellen“, die früher wegpräpariert und ignoriert wurden – die Faszienhüllen der Muskeln – erzeugen den Bewegungsimpuls und sind für den Federungsmechanismus zuständig, der Kraft aus dem Muskel auf die Sehne überträgt. Die elastischen Faszienhüllen leiten die Spannung weiter, indemsie ihre Form verändern, dabei Energiespeichern und katapultartig wieder
freisetzen. Ohne sie wäre Bewegung auch deshalb schon nicht möglich, weil die Muskeln dann wie Sirup auslaufen würden.
Ihre Elastizität verdanken die Hüllen dem Strukturprotein Elastin. Außerdem bestehen sie aus Kollagenen und einer wässrigen Grundsubstanz. Kollagene, Elastin und die Flüssigkeit sind die drei Grundbausteine aller Faszien, je nach Gewebetyp variiert lediglich der jeweilige Anteil.
Wie eine Pampelmuse
In seinem hochspannenden Buch „Faszien Fitness“, das im klarsten Deutsch speziell für Laien geschrieben ist, beschreibt Dr. Schleip das Bindegewebe als „universellen Baustoff, der den ganzen Körper durchzieht“. Wie dieser Baustoff den Körper formt und
zusammenhält veranschaulicht das Bild einer Grapefruit, deren Fruchtfleisch von weißen Häutchen eingeteilt wird.
Auch wenn das Fruchtfleisch zwischen den Häuten restlos ausgelöffelt wurde, kann man anhand der unverdaulichen Reste, der Häute, die Fruchtform rekonstruieren. So auch beim Menschen: Allein anhand seines Bindegewebes, ohne Knochen und Muskeln, könnte man in etwa erkennen wie eine Person aussieht.
Das „Prinzip Grapefruit“ funktioniert mit dem Skelett nicht.
Wie ein Sinnesorgan
Aber Faszien können noch mehr als formen und bewegen: Sie sind das Kommunikations- und Versorgungsnetzwerk des Körpers, denn in ihnen verlaufen Nerven- und Lymphbahnen sowie Blutgefäße. Besonders faszinierend ist die Entdeckung der vielen zahlreichen Rezeptoren, die viele Faszien besiedeln und dem Gehirn immerzu Signale über die Eigenwahrnehmung des Körpers liefern. Dazu gehören auch Schmerzsignale.
Da jedoch im Gitternetz der Faszien so gut wie alles miteinander verwoben ist, sind Schmerzempfindungen in einem Körperteil manchmal die Antwort auf Störungen, die ganz woanders entstehen.
Von diesem Effekt können vor allem gute Physiotherapeuten ein Lied singen. „Es kommt vor, dass jemand über Jahre hinweg Schulterschmerzen hat, aber die Ursache der Beschwerden ist ein Magenproblem“ sagt die Berliner Physiotherapeutin Elisabeth Süßkow.
„Wenn man dann immer nur die Schultern behandelt, werden die natürlich nie besser. Auch Laufverletzungen muss man ganzheitlich betrachten.“
Faszienverletzungen behandeln Physiotherapeuten oft mit der Faszienrolle, die viele Läufer bereits kennen. Bei verklebten Rückenfaszien oder „Muskelkater“ kann man damit kleine Wunder bewirken. Ein Prinzip haben Faszien mit Muskeln gemeinsam: „Use it or lose it“.
Was im Körper nicht genutzt wird, wird abgebaut. Praktische Anleitungen für Faszientraining liefern u.a. die unten genannten Bücher.
Interview mit Dr. Robert Schleip
Deutschlands führender Faszienforscher, promovierter Humanbiologe, zertifizierter Rolfer, Diplom-Psychologe, Manualtherapeut in eigener Rolfing Praxis
SPIRIDON: Wie lautet die aktuellste Meldung aus der faszinierenden Welt der Faszien?
DR. SCHLEIP: Das neueste ist eine Studie bei 70-jährigen untrainierten männlichen Rentnern. Wenn die 5 x 10 sec hüpfen, dann reicht dies nicht aus – entgegen der ursprünglichen Erwartung –, damit die Knochen fester werden, aber die Faszien werden nach wenigen Wochen jugendlicher! Das hätte ich nicht gedacht: Rentner müssen wieder hüpfen, aber richtig dosiert. Das ist toll, nun können Gummitwist und Hopserlauf in die Altersheime einziehen.
SPIRIDON: Haben kenianische und äthiopische Marathonläufer ein leistungsfähigeres Bindegewebe als Europäer?
DR. SCHLEIP: In einigen Dimensionen in jedem Fall. Sie haben zum Beispiel
tendenziell eine längere Achillessehne und dadurch eine effizientere Rückfederung, was für den Ausdauerlauf besser ist, weil weniger Muskelarbeit verrichtet werden muss. Außerdem befindet sich ihr Fersenbein in einem etwas günstigeren Winkel, das ist zwar eher eine skelletale Variation, aber sie erleichtert diese fasziale Rückfederung. Diese
Merkmale sind bereits bei der Geburt vorhanden.
SPIRIDON:Leider gilt der Dauerlauf mit seinem monotonen, stereotypen Bewegungsablauf nicht als besonders faszienfreundlich. Welche Empfehlungen haben Sie für Marathonläufer?
DR. SCHLEIP: Sie sollten ihr Konzept vom Körper ändern: Er ist kein mobiler Leiterwagen aus festen Knochen, die von roten Muskeln bewegt werden, die wiederum vom Gehirn gesteuert werden. Sondern er ist auch ein Gefüge von verbindenden Gelatine-Schlangen, die bei Belastung vorübergehend ausleiern. Wenn sie eine Haribo-Schlange nehmen und immer wieder daran ziehen, dann ist sie nach 100 Mal deutlich ausgeleiert. Aber wenn Sie 30 sec warten, hat sie sich fast vollständig davon erholt.
Wenn Sie also immer in perfekter Haltung joggen, dann werden die faszinalen Gelatine-Aufhängungen immer an denselben Stellen belastet und verlängern sich dort. Als Folge verringert sich dort die elastische Federung und die Knochen hauen aufeinander, was
man beim Schlussteil von Marathons oft sieht. Deswegen ist Jeff Galloway mit seiner Run-Walk-Run-Methode, bei der von vornherein regelmäßig kurze Gehpausen eingelegt werden, viel faszienfreundlicher, obwohl ihm die fasziale Begründung seiner Methode fehlte.
Lauftraining wird fasziengerechter, wenn Sie Gehpausen und kleine Variationen einbauen. Variieren Sie Ihren Laufstil: Mal mehr Vorfußlauf, dann mehr über die Ferse abrollen usw. Nicht alle zehn Schritte abwechseln, aber zwischendrin mal bewusst einen anderen Laufstil praktizieren. Nach ca. 30 sec haben sich die faszialen Elemente, die man zum Beispiel beim Vorfußlauf besonders belastet hat, wieder mit frischem Wasser vollgesaugt und ihre elastische Federkapazität wieder erlangt.
SPIRIDON: Welche typischen Laufverletzungen rühren von Überlastungsschäden in den Faszien?
DR. SCHLEIP: Das sind die Läuferknie – wenn das iliotibiale Oberschenkel-Außenband oberhalb des Knies verdickt -, die schmerzhaften Plantarfaszienpathologien und Achillodynien. Bei den Achillodynien hat sich in den letzten anderthalb Jahren gezeigt, dass oft nicht die straffe Achillessehne selbst geschädigt ist, sondern das paratendinöse Gewebe, also das weichere Bindegewebe Drumherum.
SPIRIDON: Man liest oft von verfilzten Faszien. Was bedeutet das?
DR. SCHLEIP: Gesundes Bindegewebe ist sehr häufig in einem damenstrumpfartigen Scherengitter angeordnet. An so einem Scherengitter können Sie ziehen, ohne dass es reißt. Durch Immobilisation verfilzt diese gitterförmige Architektur buchstäblich und kann dann kaum noch gedehnt werden ohne zu reißen.
Die ersten filzartigen Wucherungen nennt man Cross-Links, später kommen dann noch kollagene Querverbindungen dazu. Ein Beispiel wäre ein immobilisiertes Kniegelenk: Nach ein paar Wochen können Sie das Gelenk nicht mehr strecken, weil da lauter wuchernde Kollagen-Fasern ungerichtet gewachsen sind. Oder wenn ein Coach-Potatoe plötzlich einen Purzelbaum schlagen soll, schafft er das schon allein deshalb nicht mehr, weil seine bindegewebigen Elemente im Rücken verfilzt sind.
SPIRIDON: Ist der Muskelkater eigentlich ein Faszienkater?
Dr. SCHLEIP: Zum großen Teil. Der Alltagsmuskelkater scheint vorwiegend aus der faszialen Muskelhülle – dem Epimysium – zu stammen. Wenn man das mit einer Weißwurst vergleicht, dann kommt der Schmerz weniger von dem muskulären Wurstinhalt, sondern von der faszialen Wursthülle. Dort sitzen die Schmerzrezeptoren, die dann besonders empfindlich sind. Warum das so ist, wissen wir nicht genau und ob dort z.B.
wirklich Mikrorupturen in der Hülle stattgefunden haben oder ob nur ihre Nervenrezeptoren sensibler als im Inneren reagieren. Bei einem extremen Muskelkater kommen muskuläre Schäden – also im Wurstinneren – noch dazu.
SPIRIDON:Mit welchen Verfahren werden Faszien untersucht?
DR. SCHLEIP: Mit der Myometrie misst man biochemische Eigenschaften. Das Gerät, der MyotonPro, ist ein digitaler Finger, der im Gewebe tastet und prüft, wie weich es ist und wie nachgiebig es auf leichte Einbuchtungen reagiert. Dieses Gerät ersetzt den osteopathischen Finger, damit kann man zum Beispiel verhärtete Stellen beim iliotibialen
Band feststellen, die dann oft auch die schmerzhaften Stellen sind.
Interessanter ist der Ultraschall. Früher hatte er nur eine Auflösung von einem Millimeter, was nicht ausgereicht hat, um Veränderungen an 1 mm dicken Faszien festzustellen. Heute bietet der Ultraschall eine Auflösung von einem Zehntel Millimeter, damit kann man die Dicke der Faszien wunderschön messen! Ganz neu ist die Ultraschall-Elastographie, mit der man am Bild auch die Festigkeit messen kann. Dabei bringt der Ultraschall-Kopf
das Gewebe zum Schwingen und misst die Schwingungen – ein hart gespanntes Seil schwingt schneller als ein schlaffes.
Daraus berechnet der Computer die Festigkeit von Gewebe und zeichnet sie farbig ins Bild ein.
Drei Buch-Empfehlungen aus dem riva-Verlag
„Faszien Fitness – Vital, elastisch, dynamisch im Alltag und Sport“
Robert Schleip mit Johanna Bauer, 3.
Aufl. 2015, 224 Seiten, 19,99 €
„Funktionelles Faszientraining mit der Blackroll“
Marcel Andrä, Sabine Bleuel, Torsten
Pfitzer, 1. Aufl. 2015, 144 Seiten, 14,99 €
„Die Melt-Methode. Massieren Sie Ihre Faszien. Gegen chronische Schmerzen und für mehr Beweglichkeit.“
Sue Hitzmann, 1. Aufl. 2015, 304 Seiten,
19,99 €
JoAnna Zybon (Text und Interview) in Laufmagazin SPIRIDON – 7-8/15
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