2011 IAAF World Outdoor Championships Daegu, South Korea August 27-September 5, 2011 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Kugelstoßen – Heavy Metal im Harz – David Storl stößt die Kugel – Michael Reinsch, Nordhausen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Wo kriegt man einen solchen Pfundskerl schon aus der Nähe zu sehen? Knapp zwei Meter groß, breit wie eine Fleischtheke und mit Oberarmen so mächtig wie ganze Schinken. So wirkt der Kugelstoßer Christian Cantwell. Vor 2000 begeisterten Zuschauern auf steilen Tribünen versenkt er sich in tiefe Konzentration, dann reißt er seine 140 Kilo Körpergewicht in eine schnelle Drehung um die eigene Achse.
Der Schrei, den der bärtige Riese aus seiner Brust entlässt, übertönt die dröhnende Musik und das rhythmische Klatschen. In hohem Bogen stößt Cantwell die Eisenkugel in die Luft. Doch die Rotation reißt den Giganten aus dem Ring und fast von den Beinen. Er stolpert, fängt sich und flucht.
Seit vier Jahren hängt im Foyer der Wiedigsburghalle von Nordhausen im Süden des Harzes ein lebensgroßes Foto von Cantwell. Vier Mal hat er das „Kugelstoß-Indoor“ gewonnen. So ist er auch diesmal gern aus Missouri über den Atlantik in die deutsche Provinz gekommen, gemeinsam mit seinen Landsleuten Adam Nelson und Reese Hoffa. Jeder der drei war schon Weltmeister im Kugelstoßen. Wie Rockstars werden sie nur hier behandelt.
„2000 Leute in einer Halle und sie alle lieben Kugelstoßen: eine unglaublich dichte Atmosphäre!“, schwärmt Adam Nelson. „Die Intensität hebt dich auf ein anders Level. Was wir hier an Leistungen sehen, dürfte mehr mit der Stimmung zu tun haben als mit der Form der Athleten. Für die ist es noch viel zu früh.“
Eine Tonne Eisen
Durch einen Nebelvorhang laufen sie ein, verfolgt von Scheinwerfern, bejubelt vom Publikum, begleitet von einem Kind, das ihre Nationalflagge trägt, und tosender Musik. Die drei Amerikaner, Olympiasieger Tomasz Majewski, Weltmeister David Storl – insgesamt elf Riesen waren angetreten am Freitagabend, keiner von ihnen weniger als zwei Zentner schwer, alle dazu ausgebildet, eine 7,257 Kilo schwere Metallkugel mehr als zwanzig Meter weit zu stoßen.
Sechs Versuche hatten die Besten. Zählt man das Einstoßen dazu, bei dem Storl schon für hellen Jubel sorgte und deutlich machte, dass nun auch sein Foto aufgehängt werden muss im Foyer, rechnet man den Frauen-Wettbewerb mit der vier Kilo schweren Kugel ein, den Christina Schwanitz (19,06 Meter) vor Nadine Kleinert (18,96) gewann, sowie die Jugendvergleiche, flog an diesem Abend gut und gern eine Tonne Eisen durch die Luft: Heavy Metal in Nordhausen.
Breit wie eine Fleischtheke: Christian Cantwell
Seit elf Jahren bereitet der Nordhäuser Schulrat Werner Hütcher den Kugelstoßern in der städtischen Sporthalle eine Bühne. Längst ist ein gesellschaftliches Ereignis daraus geworden, wie die dichte Besetzung der Ehrentribüne mit Herren in Anzug und Krawatte und Damen in Cocktailkleidern zeigte. Tout Nordhausen gibt sich die Kugel. Unter den Athleten ist die Stadt so etwas wie das Mekka der Hallensaison geworden. „Eine tolle Veranstaltung. Das bringt einen in Schwung“, sagte Reese Hoffa, der Zweiter wurde mit 21,14 Meter. „So etwas wird mir im Sommer fehlen; das macht echt süchtig.“
„Körperlich noch unterlegen“
Storl traute dem Effekt nicht recht. „Ich bin schon mit ein bisschen Schiss hier angereist, weil ich nicht wusste, was die anderen drauf haben“, sagte der 21 Jahre alte Weltmeister. „Aber das ist den anderen wohl genauso gegangen. Hier wird zum ersten Mal abgesteckt, wer was draufhat.“ Zwar ließ er wilde Musik von den Böhsen Onkelz bei seinen Versuchen auflegen. Doch ganz ruhig gewann er sein Heimspiel mit Stößen von 21,24 und zwei Mal 21,14 Meter Weite. Bei seiner ersten Teilnahme als Neunzehnjähriger war Storl so aufgeregt gewesen, dass er sich eine halbe Stunde zu früh warm machte. „Da bin ich richtig in ein Loch gefallen“, sagt er.
Physisch sieht sich der Champion immer noch als Leichtgewicht mit seinen 121 Kilo: „Man sieht ja, dass ich den anderen körperlich noch unterlegen bin.“ Doch technisch ist er ganz vorn. Elegant kombinierte er am besten von allen die enorme Kraft und Explosivität eines Kraftprotzes mit der Fußarbeit einer Balletteuse. Er machte buchstäblich deutlich, wie Kugelstoßen auf die Spitze getrieben wird:
In genau bemessenen Schritten tritt er in seinen weichen, glatten Schuhen vom Balken weg durch den Ring von nur 2,13 Meter Durchmesser, setzt den rechten Fuß millimetergenau an den Rand und sucht dann in kurzer Versenkung athletisches Äußeres und wankendes Inneres ins Gleichgewicht zu bringen. „Wenn man das Gefühl hat, dass der Stoß sich von unten aufbaut“, sagte er, „dann steht man ganz sicher im Ring.“
Cantwell mit seiner Drehstoßtechnik dagegen riss es im Kugelhagel von Nordhausen von den Füßen. „Ich habe ziemlich gut gestoßen im Training. Und dann komme ich her und erlebe diese Atmosphäre!“, resümierte er. Vier Fehlversuche hatte er, sein bester Stoß ging auf 21,01 Meter. „Die Aufregung hat mir den Wettkampf verdorben. Man bewegt sich anders, ich habe ein paar Impulse bekommen, die mir nicht gutgetan haben. Es ist Mist, weil ich besser hätte sein können. Aber es ist auch toll, weil es endlich wieder ein Wettkampf ist nach drei Monaten ohne.“
Veteran Ralf Bartels mit der Erfahrung von elf Starts in Nordhausen war nicht überrascht: „Das kann einen schon überrollen hier.“
Michael Reinsch, Nordhausen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 23. Janaur 2012