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20
10
2011

Amber Miller ©Daily Mail

„Kreiß-Lauf“ – Unglaubliches aus der Marathonszene – Helmut Winter berichtet

By GRR 0

Die Geschichten sind in der Tat unglaublich, aber wahr und haben sich erst in den letzten beiden Wochen ereignet. Berichtet wurde von den Ereignissen schon in diverser Form, dafür waren die Dinge einfach zu spektakulär, trotzdem ist es lohnend, den Dingen etwas tiefer auf den Grund gehen. Und auch dann bleiben die Ereignisse beim Chicago- und Toronto-Marathon am vorletzten und letzten Wochenende immer noch eines: Schlichtweg unglaublich!

Zunächst sorgte die 27 jährige Amber Miller für Schlagzeilen beim Chicago Marathon lange nachdem der Sieger Moses Mosop mit 2:05:37 den Streckenrekord von Samuel Wanjiru um 4 Sekunden steigerte und die Siegerin Liliya Shobukhova in tollen 2:18:20 zweitschnellste Frau im Marathon aller Zeiten wurde. Und auch lange nachdem leider ein 35 jähriger Feuerwehrmann kurz vor dem Ziel zusammenbrach und Stunden später in einer Klinik verstarb, die im Notfallplan der medizinischen Versorgung gar nicht vorgesehen war.

Amber Miller hatte sich bereits im Februar für den Lauf in Chicago angemeldet. Das war auch notwendig, denn schon kurz danach waren die 45000 Startplätze für den Oktober vergeben. Diesbezüglich macht Chicago bei den ganz großen Marathons der Szene keine Ausnahme: Die Teilnehmerzahlen boomen. Was Amber damals noch nicht wusste, war der Beginn einer zweiten Schwangerschaft, die am Tag des Marathons in die 39. Woche ging.

Und um die Story kurz zu machen: Amber war bestens trainiert und bekam sogar von ihrem Arzt eine Starterlaubnis. Der Rest der Geschichte könnte aus einem Märchen stammen.

Sie stand am 9.10.2011 um 7:30 Uhr mit etwa 40000 Teilnehmern an der Startlinie, die sie dann um 7:58:58 (da war die Spitze der Männer schon fast bei 10 km) überlief. Danach „lief" sie Sache zunächst sehr unauffällig, mit 5 km Abschnitten von 41:05, 43:46, 46:18, 48:24 ging es in 3:07:29 zur Halbmarathonmarke. Danach legte sie zunächst mit 43:02 und 45:55 wieder zu, um dann in der Schlussphase mit 52:43 und 17:55 für die letzten 2195 m langsamer zu werden. Aber sie schaffte die gesamte Strecke nach 6:25:50 oder sogar 6:07:55 netto und war um 14:23:48 Uhr im Ziel.

Das war der 34502. Platz. Dann ereignete sich die kaum zu glaubende Fortsetzung der Geschichte. Mittlerweile hatten bei der wackeren Sportlerin die Wehen eingesetzt und eine Einweisung in die Klinik war dringend angeraten. Die erfolgte auch und um 22:29 brachte sie die Tochter June Andra auf die Welt. Obwohl natürlich im Kreißsaal eine Chipzeitmessung nicht erfolgte, hatte es also noch 8:05 Stunden gebraucht, um nach dem Lauf niederzukommen.

Das ist sicherlich Weltrekord! Mutter und Tochter schienen dieses unfassbare Unternehmen bestens überstanden zu haben, was wieder einmal belegt, zu welchen „Höchstleistungen" die menschliche Spezies fähig ist …

Und der neue Erdenbürger hatte sich gerade einmal eine Woche eingelebt, da meldete der Toronto-Marathon schon den nächsten „Kracher": Fauja Singh, ein 100 jähriger seit längerer Zeit (1995) in England lebender Inder (übrigens wohnt der nur unweit vom neuen Olympiastadion in London) lief als erster Mensch dieser Altersklasse Weltrekord; d.h. er lief die 42195 Meter durch!

Mit einer Nettozeit von 8:11:05,9 war er nur unwesentlich langsamer, als die Mutter in Chicago nach dem Zieleinlauf zur Niederkunft benötigte. In Toronto nimmt man sehr genaue Zeiten (siehe unten), seine Bruttozeit: 8:25:16,3. Bei seinem Lauf wurde er von einer ganzen Karawane von Läufern – darunter sein Freund und Trainer Harmander Singh und andere Singhs – unterstützt, und ein Blick auf die Splits belegt, dass sich der tüchtige Greis am Ende ganz schön quälen musste. Für die ersten 10 km brauchte er 1:44:03 – also gute 10 Minuten pro km -, und er erreichte den Halbmarathon nach 3:43:39. Das Finale von 35 km ins Ziel lief er in 1:45:20, also fast so schnell (oder langsam) wie die ersten 10 km.

Am Ende war er jedenfalls überglücklich über seine wahrhaft historische Tat, zu der man ihm nur aufrichtig gratulieren kann, verbunden mit den Wünschen für ein langes Leben. Auch jenseits der 100 gibt es noch viele Altersklassen, ferner hatte er ja erst mit 89 Jahren mit dem Laufen begonnen.Singh wird sicher einen Eintrag in das Guinness-Buch bekommen, wobei aber eine Vertreterin der Brauerei andeutete, dass man das Alter des wackeren Recken einer sorgfältigen Prüfung unterziehen wolle. Damit wäre die Marke eines 98 Jahren Griechen ausgelöscht, der seit 1976 als ältester Marathonfinisher galt, dessen Leistung aber sehr umstritten war. Es war diese Leistung, die Singh im Schlußteil seines Laufs immer wieder angespornt haben soll, durchzuhalten.

Und auch mit der Anerkennung des „Weltrekords" durch die IAAF könnten Probleme auftreten, da Fauja seine Leistung ja in einem „Mixed-Race" mit jüngeren Teilnehmern als Schrittmacher erzielt hat. Wollen wir hoffen, dass der internationale Leichtathletikverband nicht darauf besteht, dass er seine Leistung in einem reinen Rennen für Hundertjährige erbringt. Spätestens dann sollten die Herren bei der IAAF merken, welchen Schwachsinn sie in Sachen Marathon aktuell verzapfen!

Weitgehend unbeachtet von der Neugeborenen in Chicago und dem Greis in Toronto muss allerdings unbedingt der Kanadier Ed Whitlock erwähnt werden, der in der Marathonszene nicht ganz unbekannt ist. In der 70er Altersklasse der Männer lief er seinerzeit mit 2:54:48 einen tollen Marathon-Weltrekord. In diesem Jahr wurde Ed 80 Jahre alt und verbesserte im Frühjahr den Marathonweltrekord der 80jährigen in Rotterdam um 15 Minuten auf 3:25:43.

Und diese tolle Zeit hat er am Sonntag in Toronto „pulverisiert". Auf schier unglaublichen 3:15:53,9 (brutto) steht nun der M80-Rekord, das ist fast so unfassbar wie auch die Taten von Amber und Fauja. Wie souverän der Altmeister diese Zeit erzielte, belegt ein Blick auf die Splits, die einen bewundernswerten Gleichlauf zeigen. Nach 46:17 für die ersten 10 km erreichte Ed die Halbmarathondistanz nach 1:37:38 und lief hochkonstant weiter. Verdoppelt man seinen Halbmarathonsplit kommt man fast genau auf seine Nettozeit von 3:15:50,4. Jeder, der sich in der Szene auskennt, kann dieser Leistung nur höchste Anerkennung zollen.

Und noch etwas ereignete sich in Toronto, was es so wohl nie gegeben hat. Trotz widriger Bedingungen legte die Frauenspitze wie die Feuerwehr los und passierte in außergewöhnlich schnellen 1:08:36 die Halbmarathonmarke. Dann wurde man allerdings langsamer und die Äthiopierin Koren Yal siegte in sehr guten 2:22:43 und stellte damit die Siegerzeit des letzten Jahres und den Streckenrekord von Sharon Cherop ein.

Einen Bonus von 25.000 Kanadischen $ gab es aber nur für eine Verbesserung des Streckenrekords. Im Gegensatz zu den IAAF-Statuten, nach denen Zeiten jeweils auf die folgende Sekunde aufzurunden sind, weisen die Veranstalter in Toronto auch die 1/10-Sekunden aus. Danach lief Yal 2:22:42,5, während Cherop 2010 2:22:42,8 brauchte. Knapper geht es nicht!

Auch das ist vermutlich ein Weltrekord. Aber zumindest eine Weltbestleistung. Oder? Auf jeden Fall erhielt die Äthiopierin die Prämie vom großzügigen Veranstalter ausgezahlt.

 

Helmut Winter

 

author: GRR

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