
Die deutschen Kanuten holten in Rio sieben Medaillen ©Horst Milde
Kanu-Sportdirektor Jens Kahl „Was soll denn Staatssport sein?“ Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat mit dem Bundesinnenministerium einen Reformplan für den Spitzensport in Deutschland vorgelegt. Er beschäftigt sich mit der Effektivität, nicht aber mit den Werten des Sports. Ist der Gewinn von Medaillen Selbstzweck?
Warum sollen wir Deutsche ausgerechnet im Sport nicht zielstrebig sein? Im Spitzensport geht es nicht um Friede, Freude und Eierkuchen, sondern darum, Grenzen auszuloten. In einer Zeit, in der alle Welt ihre Work-Life-Balance auslotet, sollte Sport zeigen, was man erreichen kann, wenn man sich anstrengt. Medaillen stehen für die Vorbildfunktion von Sportlerinnen und Sportlern.
Olympia muss seit den Sommerspielen in Rio mit dem Vorwurf leben, dass das IOC eine Mannschaft eingeladen hat, in deren Heimat systematisch gedopt wurde und Doping-Kontrollen manipuliert wurden. Kann man von Athleten verlangen, gegen Doper anzutreten und auch noch Medaillen zu gewinnen?
IOC-Präsident Thomas Bach hat schlau reagiert. Die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) hatte ihre Kontrollfunktion unzureichend ausgeführt, und viele Verbände haben in der Doping-Bekämpfung zu wenig unternommen. Bach hat den Ball zurückgespielt und die Wada und die Verbände aufgefordert, sich stärker im Anti-Doping-Kampf zu engagieren. Im Kanu hat es funktioniert. Sportler und ganze Disziplinen aus Rumänien, Weißrussland und Ungarn wurden gesperrt. In den Kanu-Wettbewerben sind zwar Russen gestartet, aber diejenigen, die im McLaren-Report (Bericht an die Wada über Doping in Russland/d.Red.) zu identifizieren waren, wurden ausgeschlossen. Das waren deren Stärkste.
Warum wird die Auswirkung von Doping auf die Chancen der Athleten, Medaillen zu gewinnen, in der Reform nicht berücksichtigt?
Unser Anspruch war und ist es, die Vorteile, die unsere Gegner durch die Einnahme unerlaubter Mittel erzielen, durch intelligenteres und effizienteres Training zu kompensieren. Durch die wissenschaftliche Unterstützung durch das Institut für Angewandte Trainingswissenschaften und schnelle Boote von der Forschungsstelle für die Entwicklung von Sportgeräten ist uns das bisher sehr gut gelungen.
Wenn Platz fünf in der Medaillenwertung mit siebzehn Goldmedaillen, das Abschneiden von Rio, nicht ausreichend ist, wann kann Deutschland mit dem Ergebnis seiner Olympiamannschaft zufrieden sein?
Deutschland kann zufrieden sein, wenn jeder, der zu Olympia fährt, dort seine Bestleistung bringt unter den Bedingungen, die das System hergibt.
Also doch kein Medaillenziel, der Innenminister sprach von einem Drittel mehr?
Wenn wir es schaffen, die Qualität unseres Leistungssportsystems anzuheben und jeder Bestleistung bringt, kommen bessere Leistungen und mehr Medaillen zustande. Ob das 25 oder 30 Goldmedaillen werden sollen, kann ich nicht beziffern.
Athleten Ihres Verbandes gewannen sieben Medaillen in Rio. Ist der Kanu-Verband ein Vorzeigemodell?
Das glaube ich nicht. Es gibt keinen Vorzeige-Verband, alle haben Reserven. Sie sind noch nicht gut genug aufgestellt, um den Erfolg zu verstetigen. Ich brauche in unserer Sportart zum Beispiel unbedingt die Verzahnung mit dem Nachwuchs, damit die Sportlerinnen und Sportler qualitätsgerechter oben ankommen. Wenn das ausbleibt, ist bei uns in zwölf Jahren Schluss. So sieht es in allen Verbänden aus.
Kern des Spitzensportkonzeptes ist es, Verbänden und Athleten ohne Medaillen-Perspektive die Förderung zu streichen. Führt das nicht automatisch zu einer Konzentration von Sportarten und Disziplinen?
Ich glaube nicht, dass Sportarten abgeschnitten werden. Wer geschickt genug ist, sein Potential darzustellen, wird gefördert werden.
Ein Gremium und ein Computer, der mit Bewertungsattributen gefüttert wird, sollen entscheiden, welche Sportarten und Disziplinen innerhalb der Sportarten gefördert werden…
Die Potentialanalyse-Kommission soll vorrangig prüfen, ob die Berechnung der Bewertungsattribute durch den Computer plausible Ergebnisse liefert. Der DOSB prüft zusätzlich aus sportfachlicher Sicht, ob die Konzepte der Spitzenverbände aufgehen können, ob funktioniert, was eingereicht wird. Er wird auch Zielvereinbarungen treffen und Meilensteingespräche führen. Über die Höhe der Mittel soll eine Förderkommission entscheiden, in der der DOSB, der Bund und auch die Länder sich mit der Bewertung durch die Potenzialanalyse-Kommission auseinandersetzen. Sie verteilt das Geld. Im Wesentlichen wird das nicht anders werden als bisher, aber mit mehr Qualität verbunden sein.
Was braucht der Sport, um die Reform umsetzen zu können?
Eine Vielzahl des Personals, über das er jetzt verfügt. Ich kann nur über den Kanu-Verband sprechen. Wir wollen Weltspitze sein. Dafür werden wir mehr Personal einstellen müssen.
Kann der DOSB, der Spitzensport-Personal verloren hat und verliert, seinem Führungsanspruch gerecht werden?
Momentan wahrscheinlich nicht. Die Frage ist nicht abschließend beantwortet, wer die Strukturgespräche führen wird. Sind diejenigen, die mit den Verbänden am Tisch sitzen, in der Lage zu bewerten, ob wirklich Potential in der Disziplin steckt oder nicht? Allein mit 32 Olympischen Spitzenverbänden zu reden, wird länger dauern als einen Monat. Das wirft die Frage auf: Wer wird dort sitzen und wie schnell können wir Ergebnisse erwarten?
Bund und Länder werden das zusätzliche Personal bezahlen müssen. Zielt die Reform auf die Schaffung von Staatssport?
Was soll Staatssport sein? Die Verbände können gewiss nicht die Mittel aufwenden, um ihr Personalproblem zu beheben. Das ist nur zu lösen, wenn mehr Geld vom Staat kommt. Das ist doch normal: Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing. Wenn ich Geld vom Staat will, und das finde ich gar nicht ungewöhnlich, muss ich auch dessen Interessen vertreten.
Reicht es, wenn der Staat mehr als die bisherigen 160 Millionen Euro gibt?
Wenn er mehr gibt, ist das die Grundlage, Personal einzustellen. Wir müssen feststellen, dass es in Deutschland keine einzige Institution gibt, die Personal für den Spitzensport ausbildet. Meinen Beruf, Sportdirektor, finden Sie an keiner Universität als Ausbildungsfach. Nicht einmal eine akademische Trainer-Ausbildung gibt es in Deutschland.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 14. Oktober 2016