Vor dem Eingang zur Bilanzpressekonferenz des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (ein Mal Bronze, Platz zehn in der Nationenwertung) hätte jemand ein Schild anbringen sollen: Vorsicht, bissige Verlierer!
Kalter Blick von oben herab – Oden an die Niederlage: Blanca Vlasic findet sich trotzdem gut, die Deutschen schimpfen rekordverdächtig und die US-Sprinter lernen den Staffelstab kennen – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung
Gewinner zu ehren ist einfach, sie haben immer gute Laune und Lust, zu erzählen, wie sie Gewinner wurden (bis die DopingFragen kommen, aber das ist eine andere Geschichte). Mit Verlierern ist das meist schwieriger, was die Verlierer aber nicht weniger interessant macht. Im Gegenteil. Die Leichtathletik-Wettbewerbe der Pekinger Spiele haben ein paar wunderbare Verlierer hervorgebracht. Eine Würdigung.
Die göttliche Verliererin
In den Statistikbüchern könnte man genau nachschlagen, wann Blanca Vlasic aus Kroatien zuletzt verloren hatte vor dem Hochsprungfinale in Peking. Aber grob geschätzt muss dieses Ereignis irgendwann Anfang des vorletzten Jahrhunderts stattgefunden haben, als Männer noch gepuderte Perücken trugen und ein gewisser Beethoven Musik machte. Jedenfalls ist es lange her, und deswegen war es eine ziemliche Überraschung, als auf einmal Tia Hellebaut aus Belgien ihr das Olympiagold abnahm, weil sie bei 2,05 Metern einen Fehlversuch weniger hatte.
"Wie konnte das passieren, Frau Vlasic", fragte danach eine Journalistin. Da schickte Frau Vlasic einen kalten Blick von ganz weit oben herab nach ganz tief unten zu dieser nichtswürdigen Fragerin und antwortete mit dem schneidenden Ton, wie ihn nur leibhaftige Diven hinbekommen: "Finden Sie, dass ich ein schlechtes Ergebnis gemacht habe?
Ich frage Sie." ? "N . . . nein", sagte die Journalistin. Na also. "Ich war gut heute", sagte Blanca Vlasic, und von da an hatte sie doch irgendwie gewonnen.
Die wehrhaften Verlierer
Vor dem Eingang zur Bilanzpressekonferenz des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (ein Mal Bronze, Platz zehn in der Nationenwertung) hätte jemand ein Schild anbringen sollen: Vorsicht, bissige Verlierer! Denn Chefbundestrainer Jürgen Mallow und Leistungssport-Vize Eike Emrich sind doch recht ungnädig gewesen mit ihren Geldgebern und Kritikern. Das Wort Dummschwätzer findet man seitdem bei Google 177 000 Mal. Olympischer Rekord!
Der nichtssagende Verlierer
Die Siege des amerikanischen 400-Meter-Läufers Jeremy Wariner waren immer ziemlich langweilig. Er lief los, lief weiter und war dann eben als Erster im Ziel. Danach wirkte er frisch wie ein Glas Alpenmilch. Experten dachten: Interessant wird Wariner erst, wenn er verliert. Mittlerweile sind die Experten schlauer. Bei seiner ersten Niederlage beim Istaf in Berlin gegen LaShawn Merritt verschwand er nachher wenigstens noch, ohne etwas zu sagen. Da konnte man sich genussvoll echauffieren. Aber jetzt? Einen Niederlagen-Routinier hatte man vor sich, der in einem Satz sagte, dass er enttäuscht sei, und im nächsten, dass er froh um Silber sei. Jeweils ohne mit Wimpern oder sonst irgendwas zu zucken. Wariner wusste nicht mal, warum er verloren hatte. Sein Antritt sei nicht mehr dagewesen.
Als habe er ihn auf dem Weg ins Stadion liegen lassen. Solche Verlierer braucht keiner. Nächstes Jahr kann Jeremy Wariner wieder gewinnen.
Der Volksverlierer
Die Charts der Tage mit der vollsten Interviewzone im Pekinger Nationalstadion: 1. Samstag, 100-Meter-Weltrekord von Usain Bolt (9,69 Sekunden). 2. Mittwoch, 200-Meter-Weltrekord von Usain Bolt (19,30), 3. Montag, verletzungsbedingtes Aus des chinesischen Volksidols Liu Xiang im Vorlauf des Hürdensprints. In gewisser Weise hat der Weltmeister aus Shanghai also doch etwas gewonnen. Wobei China Gold von ihm wollte, nicht Bronze. Aber dafür hätten ihn seine Achillessehnen-Schmerzen wohl nicht gegen Mittag zur Aufgabe zwingen dürfen, sondern zur Hauptsendezeit.
Grundsätzlich muss man sagen: So viel geweint wie an diesem Montag im Vogelnest wurde wohl nie um einen Olympia-Verlierer. Noch ein olympischer Rekord! Vielleicht tröstet er Liu Xiang ein bisschen.
Die Staffelstabverlierer
US-Runner und -Runnerinnen, alle mal herhören! Was ist das, was ich hier in der Hand habe. Genau. Ein Staffelstab. Was macht man mit einem Staffelstab? Dreifach-Weltmeister Tyson Gay? Na? Eben nicht fallen lassen! Sinn der Sprintstaffel ist es, den Stab so schnell wie möglich um die Bahn zu tragen. Tragen, versteht ihr? Nicht fallenlassen, wie ihr das gemacht habt in euren Vorläufen von Peking. Das war falsch, okay? Nicht schlimm, naja, ein bisschen schlimm. Aber vor allem falsch. Kein Stab im Ziel, keine Medaille. Klar? Kennt jeder den Unterschied zwischen weitergeben und fallen lassen? Torri Edwards? Lauryn Williams? Okay, aufgepasst: Weitergeben. Fallen lassen. Weitergeben. Fallen lassen. Merkt Ihr den Unterschied?
Das wiederholen wir täglich hundert Mal. Bis zur WM 2009 in Berlin.
Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Montag, dem 25. August 2008