Noah Lyles - 2022 World Athletic Championships Eugene, Or July 15-24, 2022 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com www.photorun.NET #victahsailer
Irres 100-Meter-Finale: Diesem Wahnsinn soll ein Superheld entwachsen – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Noch nie war die Entscheidung im Olympia-Sprint so eng, noch nie waren die Finalisten so schnell: Noah Lyles, vor drei Jahren in eine Depression gefallen, gewinnt Gold. Sein Vorsprung: weniger als ein Wimpernschlag.
Das Rennen war schneller vorbei als die Entscheidung darüber, wer es gewonnen hatte. Schlagartig verstummten die Schreie der 70.000 Zuschauer im Stade de France, als sich die acht Teilnehmer des Endlaufs über 100 Meter am Sonntagabend ins Ziel geworfen hatten, alle innerhalb von zwölf Hundertstelsekunden. Unmöglich zu erkennen, wer der Erste war.
Kishane Thompson aus Jamaika, der in diesem Jahr schon 9,77 Sekunden gelaufen war, hatte deutlich geführt. Noah Lyles war am schlechtesten aus dem Startblock gekommen, doch er hatte, einmal aufgerichtet, mit Riesenschritten den Rückstand wettgemacht. Nun ging er, während die Stille anhielt im Stadion, hinüber zu Thompson, nahm ihn kurz an der Schulter und rief ihm etwas ins Ohr. „Ich glaube, du bist es“, verriet er später, sei es gewesen. Dass er den Slangausdruck „dawg“ für Kumpel anhängte, muss man als Glückwunsch verstehen.
Anders als Lyles erwartet hatte
Als fast dreißig Sekunden verstrichen waren, leuchtete das Ergebnis auf der Anzeigetafel auf. Es war anders, als Lyles erwartet hatte: Er war Olympiasieger. Eine Explosion von Lärm folgte, Schreie, Jubel, Musik. Der 27 Jahre alte Amerikaner sprang in die Luft, riss sich sein Namensschild von der Brust und hielt es der Kamera entgegen. „Amerika, ich hab’s euch gesagt!“, schrie er. Wie vor dem Start, als er herumsprang und rannte, hatte er auch jetzt Mühe, seine überschäumende Bewegungsenergie zu kanalisieren. Nach einigem Hin und Her landete Lyles bei seiner Mutter am Tribünenrand. Die Innigkeit der Umarmung machte deutlich, wie sehr sich Lyles diesen Sieg gewünscht hatte. Den wichtigsten seines Lebens.
Das Resultat, das unterdessen in die Nacht leuchtete, zeigte, wie knapp der Ausgang des Rennens war. 9,79 Sekunden standen für Lyles und Thompson. In Wirklichkeit ging ihr Duell 9,784 zu 9,789 aus, fünf Tausendstelsekunden Unterschied. Ein Wimpernschlag dauert deutlich länger. Der ehemalige Weltmeister Fred Kerley aus den Vereinigten Staaten wurde Dritter in 9,81 Sekunden, eine Hundertstelsekunde vor Akani Simbine aus Südafrika. Marcell Jacobs, der Olympiasieger von Tokio, kam in 9,85 Sekunden auf Platz fünf.
Noch nie war die Entscheidung im Olympia-Sprint so eng, noch nie waren die Finalisten so schnell: Die ersten vier erreichten das Ziel innerhalb von 0,03 Sekunden, alle acht innerhalb von 12 Hundertstel. Sieben von ihnen unterboten 9,90 Sekunden. Der Achte, Oblique Seville aus Jamaika, humpelte über die Ziellinie. Vier Läufer, die im Halbfinale 10,0 Sekunden unterboten hatten, waren nicht für den Endlauf qualifiziert.
Für das bloße Auge nicht erkennbar
Jahrelang hat Lyles mit seinem Coach Lance Brauman daran gearbeitet, nicht nur schnell, sondern auch explosiv zu werden. Der Sonntagabend von Paris zeigte, was die beiden erreicht haben und was Lyles immer noch fehlt. Seine Reaktionszeit auf den Startschuss war mit 0,178 Sekunden nur zwei Hundertstel schlechter als die von Thompson. Und doch hatte der Jamaikaner nach dreißig Metern gut einen Schritt Vorsprung. Lyles war Letzter.
Um die Schwäche auf den ersten Metern zu mindern, hatte er mehrere Kilogramm Muskeln antrainiert, sie ganz ablegen zu können, bildet er sich nicht ein. „Wenn ich nach dem Start dem vor mir die Hand in die Tasche stecken kann“, erklärte er einmal seine Einstellung, „dann kriege ich ihn.“ Darum ging es: Thompson die Goldmedaille abzujagen. So entschlossen wie Lyles seinen Träumen nachjagt, so entschieden greift er die Sprinter an, die vor ihm auf der Bahn laufen.
Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von eurosport.de zu laden.
Als schlechtester Starter von allen erwies sich Lyles des Titels „schnellster Mann der Welt“ als würdig, der mit dem Sieg im wichtigsten Rennen des Jahres kommt. Der Rückstand war bei der Hälfte des Rennens am größten: fünf Hundertstelsekunden. Zentimeter um Zentimeter holte Lyles im zweiten Teil auf. Bei 60 Metern lag er 0,04 Sekunden zurück, bei 70 Metern 0,03, bei 80 Metern 0,02 und bei 90 Metern 0,01. Auf der Ziellinie, für das bloße Augen nicht erkennbar, schob er sich vorbei. Man wird auch über 200 Meter einen Sieg des Doppel-Weltmeisters von Budapest erwarten dürfen.
Der junge Olympiasieger wird der Erste sein, der bestätigt, dass nicht seine eindrucksvolle Muskulatur das Rennen entschieden hat, sondern der Kopf. Im Reisegepäck hatte Lyles seine Bronzemedaille von den traurigen Olympischen Spielen von Tokio 2021, bei denen er mangels Publikum in eine Depression fiel und über 200 Meter, seine Distanz, Dritter wurde. Er wolle sich täglich daran erinnern, was er nicht noch einmal bekommen wolle, erzählte er. Bei jeder Runde der Vorläufe in Paris stecke die Medaille von Tokio in seinem Rucksack.
Zum Theater vor dem Start, mit dem Lyles alle seine Konkurrenten in den Schatten stellte, gehört die gestenreiche Aufforderung ans Publikum, ihre Gedanken auf ihn zu konzentrieren. In dem Manga „Dragon Ball“ funktioniert diese Übertragung von Energie, das Phänomen wird dort Genkidama oder Spirit Bomb genannt. Lyles liebt Comics, er will ein Superheld werden. Denn ein solcher muss sein, wer die phantastischen Weltrekorde des Jamaikaners Usain Bolt unterbieten will, wie es Lyles sich vorgenommen hat, die 9,58 Sekunden für 100 Meter und die 19,19 für 200, beide von der WM in Berlin 2009.
Im Halbfinale war er noch dem Jamaikaner Seville unterlegen. Daraufhin rief er die Therapeutin an, mit der er seit Tokio zusammenarbeitet. Sie soll gesagt haben: „Du klammerst dich an etwas. Du musst loslassen. Du musst es fließen lassen.“
Als Lyles davon erzählt, ist er Olympiasieger.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag dem 5. August 2024