Thomas Röhler - Foto: ©Victah Sailer
Interview der Woche: Thomas Röhler: „Bei 100 Metern ist der Kameramann sicher – eine Zeit lang“ – Jan-Henner Reitze
Mit seinem deutschen Rekord von 93,90 Metern hat Olympiasieger Thomas Röhler (LC Jena) zu Saisonbeginn einen Raketenstart hingelegt. Der Speerwerfer steigerte die Bestmarke von Raymond Hecht aus dem Jahr 1995 um 1,30 Meter und zeigte den weltweit besten Wurf seit 20 Jahren.
Mit dem neuen Speer warf allein Weltrekordler Jan Zelezny weiter. Im Interview mit leichtathletik.de spricht der 25-Jährige über seinen historischen Wurf, sichere Standorte für Kameras und die Idee hinter dem freizügigen Video mit seinen Kollegen.
Thomas Röhler, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem historischen Wurf. Nehmen Sie uns noch einmal mit nach Doha. Wie haben Sie den Wettkampf erlebt?
Thomas Röhler:
Wir haben uns alle riesig gefreut, dass es endlich wieder losgeht. Lange Monate des Trainings erfahren wieder einen Sinn. Mit einem solchen Ergebnis war aber natürlich nicht zu rechnen. Der Wettkampf hat sich gut entwickelt. Alle sind durchschnittlich eingestiegen und haben sich herangetastet. Dann wurden auch die Bedingungen etwas besser. Und der Wurf von Johannes war mitentscheidend und hat dazu beigetragen, dass es so bei mir so weit ging.
Sie sprechen die 89,68 Meter an, die Johannes Vetter (LG Offenburg) im dritten Versuch vorgelegt hat. Sie haben sich kurz danach auf 88,12 Meter verbessert, für die Führung nicht genug. Waren Sie zusätzlich motiviert, Ihre Weite noch einmal zu steigern?
Thomas Röhler:
Der 88er ist gefühlt im Kreis geflogen. Das war kein sauberer Treffer. Hinterher auf dem Video habe ich deutlich gesehen, dass der Speer fast senkrecht runtergefallen ist. Wenn das so ist, gibt es noch Potenzial. Ich war zuversichtlich, dass noch etwas möglich ist. Außerdem bin ich noch etwas schneller angelaufen. Da hält man sich am Anfang einer Saison immer eher etwas zurück. Man muss entscheiden, ob man das Risiko eingeht: Kann ich mit höherer Geschwindigkeit technisch umgehen? Das Timing ist dadurch ein anderes. Bei mir hat es funktioniert.
Sie haben sich sicherlich das Video des Wurfes schon angeschaut. Was gefällt Ihnen an dem Wurf? Was hat gestimmt?
Thomas Röhler:
Wirklich gut war der Rhythmus. Der Wurf war flüssig. Es war kein Trippeln an der Zwischenmarke. Die habe ich getroffen, aber ohne Rhythmusbruch überlaufen. Danach suchen wir im Speerwerfen. Dann haben die Beine das gemacht, was sie müssen. Mit dem Oberkörper und den Armen habe ich in den ersten Versuchen die richtige Abwurfhöhe und den richtigen Winkel gesucht. Der Wind war schwer abschätzbar. Nach dem zweiten Versuch habe ich mich auf eine Variante festgelegt. Der bin ich dann treu geblieben.
Der Sektor war "nur" 95 Meter lang, dahinter stand direkt eine Kamera, die Sie fast getroffen hätten. Sollte die Diamond League die Einflugschneise erweitern, wenn Sie demnächst wieder in der Startliste stehen?
Thomas Röhler:
Wenn man einen Speer kauft, steht auf der Packung immer ein Sicherheitshinweis: Gehen Sie sicher, dass der Sektor frei ist! Das muss beherzigt werden. Andererseits ist es auch verständlich, dass zum Anfang der Saison niemand mit einer solchen Weite gerechnet hat. Dass wir fast über die gesamte Rasenfläche im Stadion werfen, macht das Speerwerfen mit spektakulär. Anderseits möchte ich keinesfalls eines Tages einen Kameramann treffen. Deshalb sollten sie fünf Meter weiter nach hinten platziert werden. Dann sind alle Kameramänner erst einmal wieder sicher – eine Zeit lang.
Sie sagen, ein Kameramann ist an der 100-Meter-Marke "erstmal eine Zeit lang" in Sicherheit. Das heißt also, es könnte eines Tages noch weiter gehen?
Thomas Röhler:
Für den Tag in Doha und mein Gefühl vor Ort war es nah am perfekten Wurf. Aber der Kopf sagt im Nachhinein sofort: Da war schon jemand, der weiter geworfen hat. Also kann es nicht perfekt gewesen sein. In mir schwebt noch mehr. Das Video des Versuchs zeigt zwar, dass der Wurf technisch ziemlich gut war. Anderseits gibt es hunderte Sichten aufs Speerwerfen und jede Menge Ideen, was man noch ändern könnte. Was immer eine Stellschraube bleibt, ist die Geschwindigkeit. Diese zu optimieren, ist unbegrenzt. Ich kann immer weiter lernen, mit höheren Geschwindigkeiten zu arbeiten und trotzdem technisch sauber zu werfen. Das ist das Risikospiel für diese Saison und die nächsten Jahre.
Sie haben sich seit dem Jahr 2010 kontinuierlich um zwei bis drei Meter pro Jahr gesteigert. Man sollte meinen, mit den Jahren und zunehmender Leistung wird es schwieriger, diese Reihe fortzusetzen. Aber Sie und ihr Trainer Harro Schwuchow haben Ihre Grenzen offenbar noch immer nicht erreicht. Wie ist das zu erklären?
Thomas Röhler:
Das Geheimrezept gibt es nicht. Wir lernen immer dazu, tauschen uns mit anderen Athleten und Trainern aus. Wir probieren Neues aus, lassen Dinge wieder sein. Wir arbeiten mit einem flexiblen und spontanen Trainingsplan ohne strenge Muster. Ich glaube, das unterscheidet uns von vielen Athleten, die strikt nach Plan trainieren. Es erlaubt uns, an jedem Tag das Optimum rauszukitzeln. Dies bringt auch Lockerheit und Optimismus. Du kannst sagen: Ich habe jeden Tag optimal trainiert und ich fühle mich entsprechend. Dazu kommt mittlerweile meine Wettkampferfahrung. Ich kann sehr sicher an meine Aufgaben rangehen.
Im vergangenen Jahr folgte Ihren ersten 90-Meter-Würfen in Turku eine Verletzung bei der EM in Amsterdam. Ein Wurf auf 93,90 Meter ist sicherlich eine Grenzbelastung für den Körper. Wie haben Sie diese verkraftet?
Thomas Röhler:
Inwiefern meine Probleme in Amsterdam mit dem Wettkampf in Turku zusammenhingen, wissen mein Trainer und ich selbst nicht sicher. Aktuell fühle ich vor allem, dass ich vor einer Woche ein gutes Trainingslager absolviert habe. Wir haben natürlich in Richtung Saison trainiert und nicht für den einen Wettkampf in Doha, also entsprechend hart. Es gab den einen oder anderen Muskelkater. Nichtsdestotrotz: Der Wurf von Doha hat keine Spuren hinterlassen. Dass ich die Schuhe danach gleich ausgezogen und auf weitere Versuche verzichtet habe, ist vielleicht eine Lehre aus Turku. Man sollte sein Glück nicht überreizen in so einem Moment. Die Saison ist super lang und ich hatte mir für Doha vorgenommen, dass ich aufhöre, sollte mir ein Spitzenwurf gelingen.
Und vom Kopf her? Ihr Olympiasieg hat offensichtlich nicht dazu geführt, dass Sie sich zurücklehnen. Haben Sie auch eine Strategie, wie Sie jetzt nach diesem Raketenwurf schnell wieder in den Alltag zurückfinden? Wie Sie schon gesagt haben, sind wir ganz am Anfang der Saison…
Thomas Röhler:
Ich werde den Wurf und die Weite nicht lange analysieren und vergöttern. Wir gehen den Weg weiter, wie geplant. Ich mache heute das gleiche Training, wie es vor dem Rekordwurf angedacht war. Auch die Wettkampfserie wird wie plant angegangen. Ich habe meinen Olympiasieg jetzt um diese historische Weite ergänzt. Es ist noch ein zusätzlicher Rucksack, der mir von außen in Sachen Erwartungshaltung aufgesetzt wird. Anderseits gebe ich persönlich nie viel auf Zahlen und Bestleistungen vor einem Wettkampf. Es geht jedes Mal aufs Neue um den einen Tag, an dem alle gewinnen wollen. Es gilt, etwas aus seiner Vorleistung zu machen.
Wie sieht die weitere Wettkampfplanung aus? Wo können wir den Olympiasieger und Deutschen Rekordhalter als nächstes in Aktion erleben?
Thomas Röhler:
Ich werfe am Samstag in Offenburg. Das ist das Heim-Meeting von Johannes Vetter, mitorganisiert von seinem Trainer Boris Obergföll. Im Gegenzug kommen sie auch zu unserem Spezialmeeting nach Jena. Auch wegen der neuen Struktur der Diamond League sind diese kleinen Meetings immer wichtiger. Wir versuchen Wettkämpfe in Deutschland zu etablieren. Deshalb ist es mir wichtig, dort zu starten. Dann geht es für mich nach Japan, zur World Challenge nach Kawasaki. Es geht mit Blick auf Olympia 2020 darum, japanische Luft zu schnuppern und sich an die Kultur zu gewöhnen. Ich war noch nie in Japan. Das Ergebnis ist dort nicht ganz so wichtig. Vor allem sollte die lange Reise keine Spuren für den Rest der Saison hinterlassen.
Die WM in London ist der Saisonhöhepunkt. Dort wollen Sie vermutlich nicht wieder Vierter werden wie 2015 in Peking?
Thomas Röhler:
Ich habe eine Rechnung mit der WM offen. Ich werde nicht in jedem Wettkampf 90 Meter werfen können dieses Jahr. Aber es geht – wie immer – ums Gewinnen an diesem Tag. Sollte dafür eine solche Weite nötig sein, werde ich mich bemühen, sie abzurufen.
Die Diamond League hat ihren Modus geändert, das finale Meeting entscheidet jetzt über den Gesamtsieg. Ist das Finale in Zürich auch ein Ziel für Sie?
Thomas Röhler:
Definitiv. Es hat einen hohen Stellenwert. Mit Zürich habe ich eine Hate-Love-Beziehung. Dem Stadion bin ich noch einen weiten Wurf schuldig. Deswegen freue ich mich schon heute auf diesen Wettkampf. Anderseits ist es noch viel Zeit bis dorthin.
Sie haben im Trainingslager in Südafrika nicht nur mit Johannes Vetter, Lars Hamann (Dresdner SC 1898) und Andreas Hofmann (MTG Mannheim) trainiert, sondern auch in einem Video ihre Muskeln spielen lassen. Wie kam es dazu?
Thomas Röhler:
Wir sind ein Speerwurf-Team, wir verstehen uns super und haben gemeinsam kreative Ideen. Als Leichtathleten buhlen wir stets um Aufmerksamkeit. Mit dem Video wollten wir neue Fans und bewusst Medien ansprechen, die sonst nicht über unsere Leistungen berichten. Deshalb das kurze, knackige Video, das auch auf Instagram noch ganz gesehen werden kann. Schön ist es auch, dass die Diskus-Crew unsere Idee aufgegriffen hat. Das bringt nochmal mehr Reichweite und neue Fans. Johannes und ich haben der Sache jetzt den sportlichen Stempel aufgedrückt. Denn das ist es, was uns eigentlich am Herzen liegt. Aber vor der Saison war das Video ein Weg, um auf uns aufmerksam zu machen.
DLV – Jan-Henner Reitze