Thomas Röhler ©Victah Sailer
Interview der Woche – Boris Obergföll: „Diese Speerwurf-Generation ist außergewöhnlich“
Ein neuer deutscher Rekord. Zurzeit Platz eins, zwei, drei, sieben und acht der Welt. Und die aktuellen deutschen Top Fünf alle mit Bestleistungen in den Top Ten der ewigen deutschen Bestenliste.
Die deutschen Speerwerfer haben zu Saisonbeginn weltweit für Furore gesorgt! Im Interview spricht Boris Obergföll von einer besonderen Speerwurf-Generation, dem Team-Work hinter dem Erfolg, der Gefahr überzogener Erwartungen und seinen Rollen als Heim- und Bundestrainer sowie als Trainersprecher im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV).
Boris Obergföll, die starken DLV-Speerwerfer sind noch stärker geworden und sorgen zurzeit mit weiten Würfen für Staunen. Ein Facebook-Nutzer schreibt auf der leichtathletik.de-Seite von der besten deutschen Speerwurf-Generation aller Zeiten. Würden Sie das als Bundestrainer unterschreiben?
Boris Obergföll:
Nach meiner Generation mit Hecht, Blank und Henry [Anm. d. Red.: der ehemalige Deutsche Rekordler Raymond Hecht, 88-Meter-Werfer Peter Blank und 90-Meter-Werfer Boris Henry – heute Obergföll] ist das bisher wirklich mit Abstand die beste Speerwurf-Generation, die wir je hatten. Das kann ich nur unterstreichen. Es gibt alle zehn bis 15 Jahre vielleicht mal Jahrgänge, da sind auf einmal vier, fünf Athleten dazu in der Lage, 88 Meter zu werfen. Dass aber in Deutschland auf einmal so viele Athleten so weit werfen ist schon außergewöhnlich, und das erschreckt dann auch schon die anderen Nationen in der Welt.
Sie waren mit Athleten und Heimtrainern im Februar auf Lanzarote und zuletzt in Potchefstroom in Südafrika im Trainingslager. Haben sich die Weiten dort schon angedeutet?
Boris Obergföll:
Bei den Leistungen, die ich von den Jungs im Trainingslager gesehen habe, überrascht es mich nicht, dass sie auch im Wettkampf schon so weit werfen.
„Gemeinsam statt gegeneinander“ – könnte so das Motto der deutschen Speerwerfer lauten?
Boris Obergföll:
Mir ist es wichtig, ein Team zu formen. Natürlich sind alle Athleten in meinem Bundeskader zusammen mit ihren Trainern Individualisten, das sollen sie auch bleiben. Aber wir wollen in der Außendarstellung versuchen als ein Team aufzutreten. Wir haben in den letzten Jahren auch die Zusammenarbeit mit dem IAT [Institut für Angewandte Trainingswissenschaften in Leipzig] weiter intensiviert und ausgebaut. Die biomechanische und die medizinische Betreuung wurden optimiert. Zudem habe ich viel Zeit in den Vertrauensaufbau mit den Heimtrainern investiert. Alle verstehen sich gut und sind viel näher zusammengerückt als das noch vor einigen Jahren der Fall war. Auch das hat sicher mit dazu geführt, dass wir schon im letzten Jahr einen großen Satz nach vorne gemacht haben.
88-Meter-Werfer Julian Weber hat sich leider verletzt und fällt für die Saison aus. Aber mit Thomas Röhler, Johannes Vetter, Andreas Hofmann und Lars Hamann stehen dennoch vier deutsche Athleten in den Top Sieben der Welt – alles unterschiedliche Werfertypen. Was zeichnet sie jeweils aus?
Boris Obergföll:
Das ist ja das Interessante an unserem Job, dass man keine Schablone anlegen kann, dass unterschiedliche Wege und Techniken zum Erfolg führen können. Jojo [Johannes Vetter] ist mit Abstand der Stärkste und Geschmeidigste der vier Werfer. Aber auch Lars Hamann hat verdammt gute Kraftwerte und trifft den Speer besonders gut. Andreas Hofmann hingegen ist der Schnellkräftigste, seine Explosivwerte sind gigantisch, und er hat die längsten Hebel. Aber er ist technisch noch nicht so versiert wie Lars und Johannes. Thomas hat über Jahre hinweg eine sehr gute Technik akribisch weiterentwickelt und auf hohem Niveau stabilisiert. Er trifft den Speer von allen Werfern am besten und hat auch mit Abstand das beste Stemmbein. In den letzten Jahren hat er außerdem sein Training noch vermehrt in Richtung Schnellkraft ausgerichtet. Der Laie mag sagen: Die werfen doch alle schön. Aber es sind Nuancen die entscheidend sind, ob man weit wirft oder nicht! Das macht es so spannend, das macht den Reiz aus und das macht die Arbeit für mich und meine Trainerkollegen so reizvoll und abwechslungsreich.
Dass sie alle ihre Speere nun ständig Richtung 88 Meter und weiter schicken, wäre wünschenswert – ist aber vermutlich nicht realistisch. Was erwarten Sie von den kommenden Wettkämpfen?
Boris Obergföll:
Alle denken, dass die Athleten jetzt weiter in diesem extrem hohen Leistungsbereich werfen. Aber diese Erwartungen sollten sie bitte schnell wieder herunterschrauben – das wird nicht so sein. Dafür müssten die Bedingungen an jedem Wettkampftag immer perfekt passen. Wenn die vier Jungs über die Saison hinweg gesund bleiben und immer zwischen 83 bis 87 Meter werfen, wäre das eine schöne Geschichte. Von Thomas zu erwarten, dass er jetzt immer 94 Meter wirft, ist einfach quatsch. Letztlich zählt in diesem Jahr ohnehin nur die Platzierung bei der WM. Die Athleten, das Team und der DLV werden in ihrer Leistung danach beurteilt, wie wir dort abschneiden. Wenn die Top-Werfer im Vorfeld stark geworfen haben, aber dann in London keine Medaille erringen, wird die Kritik eh wieder groß sein. Deshalb Ball flach halten und abwarten.
Bei der WM in London dürfen nur drei Athleten starten. Für Sie bahnt sich eine schwierige Entscheidung an, auch weil Sie zugleich Bundestrainer und Heimtrainer von Johannes Vetter sind…
Boris Obergföll:
Mir ist es wichtig neutral zu bleiben. Klar trainiere ich als Heimtrainer einen 89-Meter-Werfer, aber ich darf nicht einfach hingehen und sagen: Den nehme ich auf jeden Fall mit. Entscheidend sind die Leistungen, wenn es in Richtung Saison-Höhepunkt geht. Wenn dann drei Athleten besser sein sollten, müsste mein Heim-Athlet zuhause bleiben, so hart das auch ist. Etwas anderes wird es unter meiner Führung nicht geben. Die Entscheidung wird offen und transparent fallen, damit jeder weiß, wie sie zustande gekommen ist. Julian Weber ist leider durch die Verletzung in diesem Jahr weggebrochen. Aber leichter macht das die Sache deshalb nicht.
Sie kennen in der Konstellation Athlet – Heimtrainer – Bundestrainer alle Rollen aus eigener Erfahrung. Welche Impulse bringen Sie aus Ihrer Aktivenzeit mit in das Amt als Bundestrainer, was ist Ihnen besonders wichtig?
Boris Obergföll:
Ich war damals von meinen zuständigen Bundestrainern nicht besonders begeistert. Deswegen wollte ich eigentlich auch nicht selbst Bundestrainer werden. Es gab kein Team, keine gegenseitige Unterstützung, alle waren Einzelkämpfer und Individualisten. Das wollte ich ändern. Ich kann niemanden zur Teamarbeit zwingen, aber ich will zeigen, dass es dem Team, den Trainern und den Athleten in einem großen Wettkampf nur Vorteile bringen kann, wenn man sich gegenseitig hilft. Dass dann im Haupt-Wettkampf des Jahres nur einer gewinnen kann, ist klar. Das wird immer so sein. Aber wie sich die Jungs im vergangenen Jahr bei den Olympischen Spielen in Rio gegenseitig unterstützt und durch die Qualifikation gebracht haben, war phänomenal. Das war das, was ich mir gewünscht habe.
Auch in der Zusammenarbeit mit anderen Bundestrainern haben Sie zuletzt große Wertschätzung erfahren: Sie wurden zum Sprecher der Trainer im DLV gewählt. Was bedeutet Ihnen diese Wahl?
Boris Obergföll:
Das ist eine besondere Auszeichnung für mich, die Wahl ehrt mich sehr. Ich hoffe, ich kann der Aufgabe und der Verantwortung, die damit einhergeht, gerecht werden und helfen Probleme zu lösen, wenn sie auftreten. Glücklicherweise unterstützt mich Pierre Ayadi in dieser Rolle, worüber ich sehr glücklich bin. Zu zweit kann man Probleme besser erfassen und die beste Lösung für beide Seiten finden.
Worin sehen Sie die Herausforderungen in dieser neuen Position?
Boris Obergföll:
Die Herausforderung liegt darin auch wirklich helfen zu können, wenn ein Problem im Trainerteam auftritt. Das Problem dann an die richtige Stelle zu tragen und dort gemeinsam eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden.
Lassen Sie uns zum Schluss des Interviews zurückkehren zur aktuellen Saison – und voraus blicken auf die WM in London. Auf was können sich diejenigen Fans freuen, die bereits für den 12. August Karten für das Olympiastadion haben und hautnah beim Speerwurf-Finale der Männer dabei sein werden?
Boris Obergföll:
Das ist noch lange hin (lacht). Mit Prognosen so früh in der Saison bin ich früher schon auf die Nase gefallen. Aber ich würde sagen, sie sollen sich darauf gefasst machen, dass drei deutsche Männer im Speerwurf-Finale stehen. Und wenn die Athleten ihr jetziges Leistungsniveau stabilisieren können, dann bin ich mir fast sicher, dass auch einer der Drei im Kampf um die Medaillen ein gewaltiges Wort mitsprechen kann. Ich würde mich über eine Medaille freuen, egal von wem. In jedem Fall wird es ein sehr spannender Wettkampf auf extrem hohem Niveau. Da werden ein wenig auch das Glück und die Tagesform entscheiden. Aber ich bin guter Dinge!
DLV – Silke Bernhart