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06
04
2010

Möglicherweise fällt es am heimischen Computer leichter, sich zu öffnen als in der Praxis eines Therapeuten.

Internet statt Praxis – Die Online-Therapie – Mit dem Notebook auf der Couch: Zum virtuellen Psychotherapeuten muss man nicht in die Praxis gehen – man kann ihm einfach online schreiben. Dr. Adelheid Müller-Lissner im Tagesspiegel

By GRR 0

Welches der von den Krankenkassen anerkannten psychotherapeutischen Verfahren wirkt am besten: Verhaltenstherapie, analytische Psychotherapie oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie? Oder doch systemische und Gesprächspsychotherapie, die inzwischen ebenfalls wissenschaftliche Anerkennung genießen?

Solche Fragen, über die Psychologische und Ärztliche Psychotherapeuten ebenso erbittert wie endlos streiten konnten, könnten bald Schnee von gestern sein, wenn der Londoner Psychologieprofessor Peter Fonagy recht hat. „Die Herausforderung des beginnenden 21. Jahrhunderts ist für die Psychotherapie nicht länger der Schulenstreit, sondern die internetbasierte Psychotherapie“, stellte er schon vor sieben Jahren fest.

Doch während Behandlungen, für die Psychotherapeut und Patient online kommunizieren, in den Niederlanden nach einer speziellen Weiterbildung mit den Kassen abgerechnet werden können und in Großbritannien das Nationale Gesundheitsinstitut Nice das netzbasierte Programm Beating the Blues in seinen Leitlinien zur Depression empfiehlt, sind hierzulande seriöse internetbasierte Hilfsangebote für die kranke Seele noch Mangelware. Und gelten streng genommen noch nicht als Therapie. Ausgerechnet die als technikfern verschrienen Senioren jedoch könnten in Deutschland Vorreiter sein.

Auf einer Tagung der Psychotherapeutenkammer Berlin berichtete Christine Knaevelsrud, Wissenschaftliche Leiterin des Behandlungszentrums für Folteropfer Berlin, über erste Ergebnisse einer laufenden Studie mit Menschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs als Kinder oder Jugendliche Schlimmes erlebt hatten. In die Studie eingeschlossen wurden sie, weil sie unter Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung wie Angst oder Depression litten.

Viele der Frauen sind vor mehr als 65 Jahren vergewaltigt worden, haben aber noch nie ausführlich und offen darüber gesprochen. „Hart wie Kruppstahl“, mit diesem Spruch sind viele Kriegskinder aufgewachsen. Jetzt, gegen Ende ihres Lebens, haben sie das Bedürfnis, die lebenslängliche Bedrückung loszuwerden. „Mein ganzes Leben lang ist der Geschlechtsakt für mich etwas Gewalttätiges geblieben“, sagte eine der Frauen.

Die Teilnehmer der Studie werden nach dem Zufallsprinzip auf zwei Gruppen verteilt: Die eine bekommt die Behandlung sofort, die andere nach einer kurzen Wartezeit, wenn die vergleichenden Tests abgeschlossen sind. Im nächsten Jahr sollen die Ergebnisse vorliegen. Bisher wurden 70 Personen behandelt. In sechs Behandlungswochen schreiben die Teilnehmer, zwischen 65 und 84 Jahre alt und mehrheitlich Frauen, insgesamt elf Texte und schicken sie per E-Mail an ihre persönliche Therapeutin, die ihnen jedes Mal auch eine schriftliche Rückmeldung gibt. Im Ausnahmefall geht das auch per Post, doch erstaunlich viele Senioren hätten entgegen landläufiger Meinung längst Zugang zum Internet, berichtet Knaevelsrud.

Die Teilnehmer nehmen sich zweimal in der Woche zu vorher festgelegten Zeitpunkten jeweils 45 Minuten Zeit für ihre Schreibaufgabe. Das Programm ist strukturiert, konkrete Aufgaben sind jedes Mal vorgegeben. Am Ende schreiben die Teilnehmer einen Brief an das Kind, das sie damals waren. Aus Erfahrung können sie ihm versichern, wie groß in Wirklichkeit die Ressourcen sind, aus denen es sein Leben lang wird schöpfen können. Einige lassen ihre Texte zum Abschluss schön binden, um sie Kindern und Enkeln zu schenken und damit das Gespräch in die Familie zu tragen.

Die neuartige Behandlungsform im Internet wurde unter dem Namen „Interapy“ an der Uni Amsterdam von dem Psychologen Alfred Lange und seinem Team entwickelt. Inzwischen haben Studien gezeigt, dass sie bei verschiedenen Störungen wirkt. Eine der Vergleichsstudien hat Knaevelsrud an der Uni Zürich, an der sie zuvor tätig war, zusammen mit Andreas Maercker durchgeführt. „Gegenüber den Teilnehmern auf der Warteliste zeigte sich ein sehr guter Effekt“, berichtete sie bei der Tagung.

Zusammen mit dem Kirkuk-Zentrum für Folteropfer wird die Therapie auch im Irak für Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung angeboten. Auf Arabisch und mit viel Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen. Solche Großzügigkeit gebe es für die deutschen Kriegskinder nicht, berichtete Knaevelsrud. Die haben meist auch deshalb ihr Leben lang über ihre traumatischen Erlebnisse geschwiegen, weil sie in dem Bewusstsein lebten, zum „Tätervolk“ zu gehören.

Möglicherweise fällt es am heimischen Computer leichter, sich zu öffnen als in der Praxis eines Therapeuten. Für manche Ältere wäre allein der Weg dahin eine Hürde. Online-Therapien könnten generell helfen, Wartezeiten zu verkürzen und die Behandlung mit Beruf und Familie zu vereinbaren. Sie kämen allerdings keinesfalls für alle Störungen infrage, warnte Knaevelsrud. Wenn akute Krisen oder gar eine Selbstgefährdung drohen, sollte erst gar nicht damit begonnen werden.

Als Einschränkung sah es die Psychologin auch an, dass es keine nonverbalen Wege des Kontakts gibt. Der Computer kann nicht lächeln, er hat keine Augenbrauen, die kaum merklich hochgezogen werden könnten. „Eine Schwäche der Schreibtherapie ist auch, dass Missverständnisse nicht gleich geklärt werden können. Was ich schreibe, steht unwiderruflich“, sagte Knaevelsrud. Auszüge davon hat sie schon in Internetforen wiedergefunden.

Viele Therapeuten halten schon heute zwischen den Sitzungen per E-Mail oder SMS mit ihren Patienten Kontakt, zur Stabilisierung, aber auch, um sie an „Hausaufgaben“ zu erinnern. Wie die vertraulichen Mitteilungen vor den indiskreten Blicken Dritter zu schützen sind, sei noch nicht geregelt, moniert Knaevelsrud. „Wie können wir das, was viele von uns schon als Werkzeug nutzen, gezielt einsetzen?“, fragte Michael Krenz, Präsident der Berliner Landespsychotherapeutenkammer. Er wünschte sich Qualitätsnormen für seriöse Angebote.

Einige Teilnehmer des „Lebenstagebuch“-Projekts wiederum äußerten zum Abschluss der Therapie einen ganz persönlichen Wunsch: Sie wollten den Menschen, der sie behandelt hat, wenigstens einmal auf einem Foto sehen.

Dr. Adelheid Müller-Lissner im Tagesspiegel, Dienstag, dem 6. April 2010

author: GRR

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