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2006

Der Weltrekord-Sammler Haile Gebrselassie über seine Ambitionen im Marathon und seine Haltung zum Doping

„Ich kann die ganze Welt betrügen – aber mich nicht“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) am Freitag, dem 22. September 2006

By GRR 0

Haile Gebrselassie ist schon 21 Mal so schnell gelaufen wie noch niemand vor ihm, zuletzt über 20 und 25 Kilometer (55,48 Minuten und 1:11,37 Stunden) sowie auf der Halbmarathon-Distanz (58,55 Minuten). Unter den Läufern ist er der Weltmeister der Weltmeister. Unvergessen ist der 33 Jahre alte Äthiopier als Olympiasieger über 10 000 Meter von Atlanta 1996 und Sydney 2000; viermal wurde er Weltmeister.

Sie haben die Strecke von Berlin dem höheren Startgeld vorgezogen, das Sie bei einem anderen Marathon bekommen könnten. Investieren Sie in eine gute Zeit?

So kann man das sagen. Der Grund, daß ich hier laufe, ist, eine sehr gute Zeit zu erreichen. Viele meiner Freunde sind hier in Berlin sehr schnell gelaufen.

Nach drei Marathons – London, Amsterdam und wieder London – steht Ihre Bestzeit immer noch bei den 2:06,20 Stunden von 2002. Sollen nun die 2:04,55 unterboten werden, der Weltrekord?

Ja, das wäre schön. Das wäre etwas ganz Besonderes, wenn es passierte. Im Moment ist meine Vorbereitung wunderbar. Wenn alles perfekt ist, könnte ich den Rekord brechen.

Wäre unter 2:05 für Sie eine sehr gute Zeit?

Auch unter 2:06 wäre sehr gut.

Was würde es bedeuten, wenn Sie so schnell liefen wie noch nie: persönliche Befriedigung oder die Wertsteigerung des Athleten Haile Gebrselassie?

Beides. Ich habe auf der Bahn viel erreicht. Was noch zu tun bleibt auf der Straße, nachdem ich die Rekorde über 10 Kilometer, 10 Meilen, 20 Kilometer, Halbmarathon gebrochen habe, ist eines: der Marathon-Rekord. Er ist sehr wichtig. Vielleicht erreiche ich ihn eines Tages.

Was ist der Unterschied zwischen einem Rekord und einem Titel?

Ein Olympiasieg ist etwas ganz Besonderes. Der Marathon-Weltrekord, das ist der, den ich noch nicht habe. Wenn ich ihn hätte, wäre das großartig, ganz phantastisch für meine Sammlung.

Wäre er mehr als die Nummer 22?

Keine Frage: Das ist die Königsstrecke. Ich will das nicht überbewerten, aber für einen Marathon braucht man eine harte Vorbereitung, da muß man hart arbeiten. Ich habe das Gefühl, daß ich den Weltrekord eines Tages brechen kann. Das wäre wie der Gewinn einer olympischen Medaille oder einer Weltmeisterschaft. Er wird kommen.

Weltrekord zu laufen – heißt das, Gegner in der Vergangenheit und in der Zukunft zu besiegen?

Die nach mir zu besiegen, das ist schwierig. Wer weiß, was es in zehn Jahren für Athleten geben wird. Die vor mir zu besiegen, darum geht es wirklich. Aber jeder Athlet hat seine eigenen Fähigkeiten. Die Läufer vor vierzig Jahren haben ihren Job ja nicht schlecht gemacht. Man kann nicht Haile Gebrselassie mit denen von damals vergleichen. Für mich ist Abebe Bikila immer noch der Stärkste: der Mann, der den Marathon ohne Schuhe laufen konnte. Ich könnte vielleicht zwei Kilometer ohne Schuhe rennen, aber keine Rede von 42 Kilometern! Er war bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom der Schnellste von allen. Ohne Schuhe. Unglaublich!

1964 in Tokio war Ihr Landsmann noch einmal Olympiasieger.

Mit Schuhen.

Schuhe wird man nicht neu erfinden können. Was wird in vierzig Jahren sein?

Ich erwarte, daß man dann an den zwei Stunden sein wird, vielleicht sogar darunter. Leute wachsen mit der technischen Entwicklung: Schuhe, Kleidung, Ernährung. Für Sprint und Langstrecke werden inzwischen unterschiedliche Bahnen gebaut. Technologie macht die Läufer immer schneller. Ich glaube nicht, daß es eine Grenze gibt.

Hier in Berlin den Weltrekord anzugreifen, das heißt, Ihren alten, ewigen Rivalen Paul Tergat aus Kenia anzugreifen.

Ich glaube, er macht sich keine Sorgen. Er ist erfahren, er weiß alles über Marathon. Wie alt ist er? 36? Er kann seine Zeit selbst verbessern.

Was bedeutet es, daß es der Weltrekord von Paul Tergat ist, mit dem Sie sich so oft auf der Bahn gemessen haben?

Für mich ist es schwierig. Früher waren wir Freunde. Jetzt ist unser Verhältnis wie innerhalb einer Familie. Wenn ich ihn in Kenia besuche, behandelt er mich wie ein Familienmitglied, und wenn er zu mir nach Äthiopien kommt, gehört er zu meiner Familie. Aber das hier ist Sport. Wenn du gegen deinen eigenen Bruder läufst, läufst du auch nicht langsamer.

Weltrekorde wecken Verdacht. Spüren Sie am eigenen Leib, daß das Publikum genug hat von Rekorden?

Die Leute wollen Rekorde sehen. Athleten wollen etwas Besonderes leisten. Nicht viele können Rekorde laufen. Wenn wir an Rekorde denken, müssen wir darüber sprechen, wer wir sind. Ich kann jedem sagen, wie ich mich vorbereitet habe: perfekt. Man fängt nicht am Tag vorher mit einem Weltrekord an.

Justin Gatlin hat zuviel getan für seine Leistung: Er hat gedopt. Viele andere, allen voran Marion Jones, stehen unter Verdacht. Bei den Leichtathletik-Europameisterschaften waren alle froh, daß es keinen Weltrekord gab; er hätte die Zweifel nur vergrößert.

Wenn jemand Weltrekord läuft, sagen die Leute: Er hat bestimmt etwas genommen.

Bekommen Sie das zu spüren?

Ja, im Moment. Für den Sport ist es nicht schlecht herauszufinden, wer unschuldig ist.

Wie kann man das?

Ich kann tausend Leute betrügen. Ich kann die ganze Welt betrügen. Aber ich kann nicht mich selbst betrügen. Athleten müssen das bedenken. Es geht nicht nur darum, daß der Leichtathletik-Verband herausfindet, wer schuldig ist und wer nicht. Vergiß es! Ob sie Sperren von drei oder vier Jahren verhängen, ist ganz egal. Es geht um den Athleten, der sich selbst für immer sperrt. Wenn er sich klar wird, daß er betrügt, ist das das Schlimmste, was ihm passieren kann. Er ist von sich selbst gesperrt, aus seinem eigenen Leben ausgesperrt.

Enntschuldigung, wenn man in einem schönen Haus sitzt mit einem großen Auto in der Garage – soll da das Gewissen den Unterschied machen?

Er ist verbrannt. Er weiß, was er getan hat. Eines Tages kommt es zu ihm zurück.

Justin Gatlin und eine Menge anderer Doper konnten mit der Lüge leben.

Ich wüßte zu gern, wie sie es genommen haben, was sie genommen haben. Über Marion Jones habe ich in der Zeitung gelesen, es sei Epo gewesen. Das ist das Zeug, das Ausdauersportler nehmen. Warum sollte eine Sprinterin es genommen haben?

Um die Sauerstoffaufnahme zu verbessern, härter zu trainieren und drei Rennen an einem Tag machen zu können. Aber die B-Probe war negativ und damit der gesamte Test.

Wer weiß, wer der nächste ist. Was kann man machen?

Spüren Sie im Rennen, ob Ihr Gegner sauber ist oder gedopt?

Darüber denke ich nie nach. Ich gehe immer davon aus, daß mein Konkurrent genauso trainiert hat wie ich. Selbst wenn ich glauben würde, daß sie etwas nehmen – mir ist das egal. Wenn ich gewinne, bin ich noch froher, daß ich sie besiegt habe.

Sie haben keine Lösung?

Wenn Doping erlaubt wäre, würden alle nehmen, was sie für wirkungsvoll hielten. Und kein Athlet würde siegen, sondern der Arzt. Vielleicht würde eine Freigabe dazu führen, daß sich alle mit hohen Dosierungen selbst umbringen.

Manager sollen heute Doping-Netzwerke aufbauen und nutzen. Im Prozeß gegen den Leichtathletik-Trainer Thomas Springstein, der zu 16 Monaten Haft verurteilt wurde, wurden E-Mails bekannt, in denen ein gewisser Jos und ein gewisser Hermans erwähnt wurden. Könnte das etwas mit Ihrem Manager Jos Hermens zu tun haben?

Mein Manager wählt Rennen für mich aus und verhandelt mit Veranstaltern. Wenn ich gesundheitliche Probleme hätte, würde er mir einen guten Arzt empfehlen. Aber er empfiehlt mir keine Medikamente. Ich brauche Jos, damit er mir gute Rennen sucht. Es gibt Trainer, die ihren Athleten Medikamente geben. Das ist ein Problem, und man muß fragen: Wer dopt, der Athlet oder der Trainer?

Hat Jos Hermens Sie je an Ärzte in Madrid empfohlen?

Ich hatte zwei Operationen. Eine in Finnland, eine in der Schweiz. Andere Ärzte hat mir Jos nicht empfohlen. Was war in Madrid?

In den E-Mails zeigte sich eine Verbindung zwischen Springstein und einem Arzt in Madrid, der Doping-Substanzen lieferte und ihn in Dopingfragen beriet. Vor der Tour de France gab es eine Razzia in dem Labor eines Dr. Fuentes, und es ergaben sich Verbindungen zu ebenjenem Dr. Peraita und einem Dr. Batres …

Ich kenne keinen von ihnen.

Wenn Sie am 24. September erfolgreich sind, wird das Ihrer Karriere einen Schub geben?

Ich fühle mich wie vor einem Neubeginn. Wenn ich den Rekord brechen kann, fange ich wirklich an, über noch mehr nachzudenken.

Sie laufen also nicht kopfüber in den Verdacht?

Come on!

Das Gespräch führte Michael Reinsch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Freitag, dem 22. September 2006

PS: HAILE lief am 24. September in Berlin mit 2:05:56 zwar keinen Weltrekord, aber dafür seine bisherige Bestzeit.
Am 3. Dezember 2006 wird er beim 60. Fukuoka International Marathon in Japan erneut am Start sein.

author: GRR

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