2015 London Marathon London, England April 26, 2015 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET
Hoffnung auf Weltrekord: Laufende Uhren beim Marathon in Berlin. Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
„Siegen ist keine Option“, sagt Eliud Kipchoge. „Siegen ist eine Notwendigkeit.“ Der Kenianer, der die Marathon-Distanz von 42,195 Kilometer im Mai so schnell hinter sich gebracht hat wie kein Mensch vor ihm und so bald auch keiner nach ihm, will am Sonntag den Weltrekord brechen.
Fünfundzwanzig Sekunden blieb er über der Zielzeit, als er in einer Art Laborversuch auf der Autorennstrecke von Monza mit einer Armada von Tempomachern, bei Windstille und im Windschatten eines Elektroautos versuchte, die Strecke in zwei Stunden zu laufen.
„In Monza habe ich das Unmögliche gejagt“, sagt er nun in Berlin, wo am Sonntag (Start 9.15 Uhr) der Marathon mit mehr als 40.000 Teilnehmern stattfinden wird. „Hier geht es um eine Zeit für den Weltverband. Das ist ein großer Unterschied. In Monza wollte ich beweisen, dass nichts unmöglich ist, dass es für Menschen keine Grenzen gibt. Hier will ich eine normale Zeit laufen, eine Zeit, die der Weltverband und die Sportwelt als Weltrekord anerkennen.“
Seit seinem Sieg in London 2016, vier Monate vor seinem Olympiasieg von Rio de Janeiro, stehen für ihn 2:03:05 Stunden in den offiziellen Bestenlisten, die drittbeste Zeit der Welt, acht Sekunden über dem Weltrekord. Seit Monza weiß er, dass er sehr viel schneller laufen kann.
Wilson Kipsang hat dasselbe Ziel: „Ich kann es schaffen. Der Weltrekord ist möglich.“ Vor vier Jahren hat er in Berlin den Weltrekord auf 2:03:23 Stunden verbessert, im vergangenen Jahr war er sogar zehn Sekunden schneller. Doch da stand zum einen der Weltrekord bereits bei 2:02:57 Stunden, der Zeit, in der Dennis Kimetto 2014 in Berlin siegte.
Zum anderen hatte sich der Äthiopier Kenenisa Bekele praktisch während des gesamten Rennens an Kipsangs Fersen geheftet, spurtete ihm auf den letzten Metern davon und siegte in 2:03:03 Stunden – noch dichter am Weltrekord als Kipchoge, sechs Sekunden.
Allein dieser Bekele, drei Mal Olympiasieger auf der Bahn, fünf Mal Weltmeister auf der Bahn und elf Mal im Cross, spricht von den drei Top-Läufern des Berlin-Marathons nicht vom Rekord. Er wolle das Rennen auf sich zukommen lassen, behauptet er, in sich hinein horchen und dann entscheiden, wie schnell er laufe. Kipchoge spricht dagegen bereitwillig darüber, dass die Tempomacher ihn in 60:45 Minuten zur Halbmarathon-Marke führen sollen – ein mörderisches Tempo, das durchzustehen ihn offenbar das Zwei-Stunden-Experiment von Monza zuversichtlich gemacht hat. „Ich bin überzeugt, dass ich nicht gescheitert bin“, sagt er über das Resultat von 2:00:25 Stunden.
„Das war ein Riesenerfolg. Ein Professor der Sportwissenschaft hatte vorher gesagt, dass es mindestens noch fünf Jahre dauern würde, bis jemand die zwei Stunden brechen kann. Ich habe bewiesen, dass er falsch lag. Was das Laufen betrifft, ist die Welt nicht mehr 2:57 Minuten, sondern nur noch 25 Sekunden von den zwei Stunden entfernt.“
Hält er das am Sonntag angestrebte Tempo auch auf der zweiten Hälfte durch, wird er theoretisch nach 2:01:30 Stunden im Ziel sein, etwa anderthalb Minuten unter dem Rekord. „Wenn man läuft als Beruf, muss man versuchen, etwas zu hinterlassen: große Siege und Rekorde. Ich bin überzeugt, dass ich für die nächste Generation laufe.“
Das gemeinsame Interesse der beiden Kenianer dürfte darin liegen, Bekele nach dem Ausscheiden der Tempomacher bei Kilometer dreißig so bald wie möglich abzuschütteln und es nicht auf einen Spurt vor dem Brandenburger Tor ankommen zu lassen. Kipsang will sich nicht noch einmal von dem Äthiopier als Tempomacher missbrauchen lassen: „Ich werde eine andere Taktik wählen als vergangenes Jahr.“
Doch werden die beiden Kenianer gemeinsame Sache machen, gar, wie es im Radsport unter Verbündeten üblich wäre, abwechselnd den Konkurrenten angreifen? „Ich erwarte ein gewisses Maß an Zusammenarbeit“, sagt Kipchoge. „Aber ich werde mein eigenes Rennen laufen. Ich laufe gegen die Uhr, nicht gegen einen Konkurrenten.“
„Wir werden sehen, wie weit wir gemeinsam kommen“, sagt auch Kipsang. „Am Ende wird jeder für sich versuchen, so schnell wie möglich zu sein.“ Die Vorstellung, dass es ein gemeinsames nationales Interesse gebe, den Weltrekord in Kenia zu halten, tut er leichthin ab: „So stellen sich das die Leute vor.“ Zwischen den beiden Kenianern besteht im Marathon eine gesunde Rivalität. Kipchoge macht sich lustig darüber, dass Kipsang angeblich keinen Trainer hat und allein nach Gefühl trainiert. „Ich würde diejenigen, die sich selbst trainieren, gern mal fragen, wie sie das machen“, sagt er. „Sie müssen Genies sein
Kipsang dagegen will nichts von der phänomenalen Wirkung des Zwei-Stunden-Experiments wissen, auf das sich sein Landsmann einließ. Er nennt es praktisch eine Zeitverschwendung. „Wenn das Resultat nicht offiziell anerkannt wird“, sagt er, „ist es nichts wert.“
Im Übrigen: „Wenn ich mitgelaufen wäre auf dieser Strecke, hinter all den Tempomachern und dem Elektro-Fahrzeug, wäre ich schneller gewesen.“
Am Sonntag wird er wie die beiden anderen beweisen müssen, dass er nicht nur schnell, sondern auch klug laufen kann.
Michael Reinsch, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 23. September 2017