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22
10
2015

Helmut Digel im Gespräch „Ich war zwei Jahrzehnte Teil einer Heuchelei“ - Zweiter Teil - Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©Uni Tübingen

Helmut Digel im Gespräch „Ich war zwei Jahrzehnte Teil einer Heuchelei“ – Zweiter Teil – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Helmut Digel räumt zum Ende der Karriere als Sportfunktionär Fehleinschätzungen ein. Im zweiten Teil des F.A.Z.-Interviews spricht er über seine gewachsenen Zweifel an der Unschuld des wegen Dopings gesperrten Olympiasiegers Baumann.

Sie waren Handballspieler, Sie haben sich in der Leichtathletik engagiert, kurz nach der deutschen Einheit acht Jahre als Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, zwanzig Jahre im Council des Internationalen Verbandes (IAAF), und nicht zuletzt haben Sie Ihr Engagement als Soziologe und Sportwissenschaftler dem Sport gewidmet. Sind Sie so bitter, wie Sie klingen?

In Bezug auf das Ausgangsproblem, das mich in die Leichtathletik geführt hat, ist die Bilanz negativ. Der damalige Leichtathletik-Präsident Eberhard Munzert fragte mich 1988, ob ich angesichts der Doping-Probleme in der deutschen Leichtathletik helfen könnte; ich war ja nicht vorbelastet. So bin ich in den DLV hineingeraten. Nach dem Fall Katrin Krabbe und weiteren Skandalen in der Leichtathletik hat mich das Präsidiumsmitglied Theo Rous gefragt, ob ich bereit wäre, das Präsidentenamt zu übernehmen. Zunächst hatte ich dabei durchaus Erfolgserlebnisse. Meine Mitstreiter und ich glaubten, wir würden etwas in der Doping-Bekämpfung erreichen und gleichzeitig der Nationalmannschaft noch größere Erfolge ermöglichen. Aber schon damals sind Verdacht und Zweifel mitgelaufen; der Verdacht, dass auch in unserer Nationalmannschaft Athleten ihre Gegner betrügen, und der Zweifel, dass unsere Maßnahmen ausreichend sind.

Hat sich die Perspektive mit Ihrem internationalen Engagement verändert?

Die Probleme zeigten sich noch deutlicher. Die einzelnen Disziplinen des Laufens, Springens und Werfens haben jeweils ihr eigenes Doping-Problem. Wir stehen dem ohnmächtig gegenüber und singen nach außen hin das Hohelied der Leichtathletik. Ich muss konstatieren, dass ich zwei Jahrzehnte lang Teil einer Heuchelei war.

Sie waren auf dem Weg, Präsident der Welt-Leichtathletik zu werden, als Dieter Baumann einen positiven Doping-Test hatte; der Olympiasieger und Anti-Doping-Kämpfer, mit dem Sie befreundet waren. Bis heute ist nicht klar, ob er gedopt hat oder wirklich mittels kontaminierter Zahnpasta Opfer eines Anschlags wurde. Wie ist Ihr Resümee?

Ich hätte nicht geglaubt, dass ein singuläres Ereignis eine solch weichenstellende Bedeutung haben könnte für das weitere Leben. Es hat meinen Lebensweg bestimmt und war nicht zu korrigieren. Da steht man einer bestimmten Entwicklung ohnmächtig gegenüber. In Sydney (während der Sommerspiele 2000, Anm. d. Red.) habe ich vor dem höchsten Schiedsgericht für den Start von Dieter Baumann gestritten und bin unterlegen. Damit waren der DLV und sein Präsident isoliert. Dies hat zu meinem Rücktritt in Deutschland geführt. Mir wurde damals deutlich, dass ich abhängig war von Juristen. Mit meinem Wollen und Können, mit meiner Rhetorik und meiner Ausbildung habe ich nichts ausrichten können. Es hat sich gegen mich gerichtet, dass wir die Möglichkeit der Unschuld von Dieter Baumann – in dubio pro reo – mitgedacht hatten.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Baumann?

Es ist schwierig, von Freundschaft zu sprechen. Wir hatten ein offenes und nettes Verhältnis, aber wir haben uns immer gesiezt. Dieses Verhältnis ist aus naheliegenden Gründen abgekühlt. Ich bin mit einigen Darstellungen von damals, die Herr Baumann der Öffentlichkeit gegeben hat, nicht einverstanden. Er musste seinen eigenen schweren Weg gehen und mit dem Makel der zweijährigen Sperre leben.

Glauben Sie an Schuld oder Unschuld in diesem Fall?

Mit meinem Wissen von heute würde ich den Darstellungen von damals größeren Zweifel entgegenbringen. Damals vertrat Professor Hans-Hermann Dickhuth (Freiburg, Anm. d. Red.) als DLV-Verbandsarzt die Meinung, dass Nandrolon (Spuren fanden sich in der Doping-Probe von Baumann, Anm. d. Red.) keine Wirkung auf Mittelstreckenläufer habe und diese Form des Dopings damit keinen Sinn mache. Diese Auffassung ist längst widerlegt. Man hat immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Athleten, die am Ende ihrer Karriere sind, mit Nandrolon zumindest die Trainingsbelastung mindern und ihre Laufbahn verlängern können. Was ich seitdem über die Wirkung von Substanzen gelernt habe, vergrößert eher die Zweifel, als dass es die Position von damals erhärten könnte.

Sie haben vor dem Umgang mit dem Freiburger Arzt Armin Klümper gewarnt und damit Athleten zu öffentlichen Bekenntnissen pro Freiburg provoziert. Sie haben ohne Erfolg Schlussstrich und Neubeginn bei den Rekorden vorgeschlagen, damit die Leichtathletik nicht mit kontaminierten Bestleistungen in dieses Jahrtausend geht. Haben diese Niederlagen es Ihnen erleichtert, Distanz zum Sport zu wahren?

Ich habe immer auch als Wissenschaftler agiert, nicht nur sportpolitisch. Das war schließlich mein Beruf. Der Mensch Klümper und das, was er als fachliche Kompetenz auswies, hat mich zum Beispiel so sehr interessiert, dass ich ihn zu einem Vortrag an meiner Universität eingeladen habe. Im gleichen Atemzug habe ich alles dafür getan, dass er aus den Mannschaften des DLV verbannt wird. Am stärksten hat mich der Fall Birgit Dressel betroffen gemacht; ein junger Mensch wird das Opfer, man muss fast schon sagen: ermordet, von einem der führenden Sportmediziner Deutschlands. Wissenschaftlich hat mich interessiert: Mit welcher Konzeption arbeitet dieser Mann?

Sie waren auf einem Feld aktiv, das Sie zugleich erforscht haben?

Ich musste in den fünfundzwanzig Jahren praktisch ein Doppelleben führen. Einerseits war ich Direktor eines Instituts für Sportwissenschaft und habe mit meinen Publikationen, glaube ich, gezeigt, dass ich trotz meines Ehrenamtes in Lehre und Forschung eine Rolle spiele. Andererseits konnte ich Dinge beschreiben, die anderen Soziologen vorenthalten geblieben sind. Ich konnte Interna authentisch beobachten und verfügte über Informationen, die man in Interviews und mit anderen wissenschaftlichen Methoden nicht erwerben kann. Insofern war ich in einer begünstigten Position und in einer gefährlichen zugleich. Je näher man dem Objekt ist, desto weniger sieht man. Ich habe Dinge übersehen, die andere von außen deutlich erkennen konnten. Im Fall Baumann war die Außensicht sehr viel bedeutsamer als die Innensicht.

Sind Sie den Verlockungen des Funktionärslebens erlegen?

Ich habe oft gedacht: Früher hast du in Mehrbettzimmern von Jugendherbergen übernachtet, heute regst du dich auf, wenn dein Zimmer im Fünf-Sterne-Hotel nicht groß genug ist. Du empfindest Essen, das nicht höchstes Niveau hat, plötzlich nicht als würdig. Es ist etwas Schönes, wenn man bei Olympischen Spielen dabei ist und überall Zutritt hat als Mitglied der sogenannten „Olympic family“. Es ist einmalig, wenn man immer auf den besten Plätzen sitzen darf. Der Besuch Olympischer Spiele hat einen ökonomischen Wert von rund 20.000 Euro; ich bekomme das als Funktionär geschenkt. Für diese Privilegien war ich dankbar. Ich bin in mehr als hundert Länder gereist; zu sportlichen Wettbewerben, zu Sitzungen, zu Vorträgen. So habe ich die ganze Welt kennengelernt.

Sie sind geprügelt worden für Ihren Einsatz für ein Anti-Doping-Gesetz. Bald wird Deutschland eines haben. Hamburg ist der deutsche Bewerber um Olympische Sommerspiele. Müssen wir uns nicht auch strategisch darum bemühen, unsere Werte in den internationalen Sportverbänden durchzusetzen?

Eine Qualifizierungsoffensive für Führungskräfte ist unverzichtbar. Deren Tätigkeiten sind von hoher Verantwortung geprägt; was dort gelingt oder scheitert, hat enorme Reichweite. Ich glaube, dass das, was Innenminister de Maizière vorgegeben hat, wichtig ist. Man muss wissen, welchen Hochleistungssport man will, welche Ziele man erreichen möchte. Gerade als große Industrienation kann und soll man sich hohe Ziele stecken und sie konsequent verfolgen.

De Maizière fordert ein Drittel mehr Medaillen.

Selbstverständlich treten da Widersprüche auf: der Anti-Doping-Kampf auf der einen Seite und der Anspruch, zu den erfolgreichsten Nationen bei den Olympischen Spielen zu gehören. Dieser Widerspruch existiert, seit es Hochleistungssport gibt. Aber im Hochleistungssport geht es nun einmal darum, Erfolg zu haben. Man muss Wege aufzeigen, die Bestleistungen ermöglichen. Dafür bedarf es einer sehr viel größeren Professionalität bei den Verantwortlichen. Der Steuerzahler macht es möglich, dass der Innenminister Millionen Fördermittel bereitstellen kann, damit wir uns in der internationalen Konkurrenz bewähren. Da gibt es keine Alternative dazu, dass man sich Rangplätze vorgibt. Wenn man sie nicht erreicht, muss man erklären, warum das nicht gelungen ist. Dies ist die Verantwortung derjenigen, die das Geld in Empfang nehmen.

Sie haben gerade ausgeführt, warum es so einfach nicht ist.

Wenn man sagt: Aufgrund der Doping-Verseuchung meiner Sportart kann ich international nicht die allerersten Plätze erreichen, ist das legitim. Man muss jede Disziplin und jede Sportart spezifisch bewerten.

Nehmen wir zum Beispiel die deutschen Sprinter und die deutschen Marathonläufer. Müssen sie sich an der internationalen Spitze mit phantastischen Leistungen von Usain Bolt und an den beinahe jährlich neuen Weltrekorden im Marathon messen lassen?

Wer die Meinung von internationalen Experten ernst nimmt und die Wirkung von Doping-Substanzen zu beurteilen weiß, kann diese Frage nur mit Nein beantworten. Die Frage lautet: Wie kann ich mir anspruchsvolle Ziele stecken ohne Gefahr, der Verführung des Dopings nicht standzuhalten? Mit ihrem Konzept eines sauberen Sports akzeptieren unsere Sprinter – für die es unmöglich ist, in Dimensionen eines Usain Bolt vorzudringen – die Zweitklassigkeit im internationalen Vergleich. Sie werden nie den Rang in den Medien erhalten und damit auch nicht den Platz an den Fleischtöpfen. Sie werden immer nur die Brosamen bekommen, die vom Tisch der Reichen fallen.

Die Frage stellt sich aktuell bei den Langläufern: Muss der Verband diese Situation auch noch verstärken?

Normen müssen klar sein, und sie müssen machbar sein. Ich halte die Olympia-Normen für den Marathon für nicht sinnvoll. Wir müssen uns freuen, wenn drei Läufer den deutschen Marathon in Rio vertreten können. Selbst wenn ihr Bester Vierzigster werden sollte: Angesichts der Situation im Marathon auf der Welt können wir stolz darauf sein. Wenn man sie mit der Norm ausgrenzt, stellen sich die Athleten in diesen belastenden Disziplinen schnell die Frage: Warum trainiere ich eigentlich jahraus, jahrein und erhalte nicht einmal eine Startgelegenheit?

Sie haben die Dominanz des Fußballs mal eine imperiale Monokultur genannt. Trägt die Politik, tragen die Politiker, die in den Rundfunkräten Deutschlands selbst Drittliga-Übertragungen im Fußball zustimmen, eine Verantwortung dafür, dass für alles, was nicht Fußball ist, die Anerkennung fehlt, dass es Randsport wird?

Dem DFB darf man nicht vorwerfen, dass er die Interessen des Fußballs vertritt. Der Vorwurf gilt denen, die die Massenmedien verantworten. Und wenn Steuergeld oder in diesem Fall Gebühren eingesetzt werden, sind es die Aufsichtsgremien. Wir haben in der Präsenz des Sports in den Medien eine Einseitigkeit erreicht, die kaum zu überbieten ist. Der Fußball ist zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden: Der Kunde will das, was er bekommt, und davon bekommt er immer mehr. In einem demokratisch verfassten Fernsehen ist das fatal.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Zweiter Teil Dienstag, dem 20. Oktober 2015

Helmut Digel im Gespräch – Teil I:

Helmut Digel im Gespräch – Teil I – „Blatter hat das nicht erfunden“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

 

Beiträge über/von Helmut Digel:

DLV-Ehrenpräsident Helmut Digel wird heute 70 Jahre alt

Neuer Sammelband von Helmut Digel zur modernen Sportentwicklung – Neuer Sammelband von Helmut Digel zur modernen Sportentwicklung Buchbesprechung von Prof. Dr. Detlef Kuhlmann

Zur Zukunft des IOC – Prof. Helmut Digel

Wettbewerb der Sportarten – Prof. Helmut Digel

Helmut Digel – "Idee des Wetteifers pflegen" – DLV-Kongress, am 9. und 10. März in Kienbaum

London 2012 – Everyone’s Games – DOSB-Autor Helmut Digel lässt die bemerkenswerten Olympischen und Paralympischen Spiele in London 2012 noch einmal Revue passieren.

FAIR PLAY – Verantwortung im Sport – Helmut Digel – Die Buchvorstellung aus dem hellblau-verlag

Die Wertegemeinschaft vorleben – Professor Helmut Digel skizziert beim FK-Herbstseminar in Bad Homburg pädagogische Herausforderungen des Wertewandels im Sport

„Wir verlieren das schönste Leichtathletik-Stadion der Welt“ – Prof. Helmut Digel in Leichtathletik – Gespräch mit Jörg Wenig

 

author: GRR

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