
Murat Dogan, Trainer und Abteilungsleiter Türkiyemspor Berlin; Heike Awerkiew, Integrationsarbeiterin und Sprecherin einer Seniorensportgruppe beim DJK Wiking Köln; Mitku Seboka, Deutscher Meister über 10.000 m vom LAC Quelle Fürth, geboren in Äthiopien (v.l.n.r.), © Turkiyemspor, DOSB, Theo Kiefner
Heimat muss kein Land sein
„Heimat“ ist das Thema der Woche in ARD. Anlass, drei sportliche Menschen mit interkulturellen Biografien zu fragen, was sie mit dem Begriff verbinden.
Dokumentationen, Spielfilme, Talkrunden, ein breites digitales Angebot: Die ARD konzentriert sich in dieser Woche auf das Thema „Heimat“. Ein großes, ein omnipräsentes Thema: Eine Heimat hat jede und jeder. Wo sie aber liegt, diese Heimat, worin sie besteht, das unterscheidet sich genauso wie ein Lebenslauf vom anderen. Antworten auf die Frage nach „Heimat“ sind denkbar persönlich, individuell – und gehen gerade deshalb auch die Allgemeinheit an.
Denn die Perspektiven der einen erweitern die der anderen, fördern das Verständnis zwischen Menschen und Kulturen. Das offenbaren die folgenden drei Kurzgeschichten aus dem Spektrum von Integration durch Sport: drei Menschen, drei denkbar unterschiedliche Biografien – und Wahrnehmungen von „Heimat“.
Murat Dogan, Türkiyemspor Berlin: Der Weltbürger
„Meine Heimat ist, wo ich aufgewachsen bin und mich zuhause fühle“, sagt Murat Dogan und meint Kreuzberg und Berlin, in dieser Reihenfolge. Dogan, 39, lebt seit seiner Geburt in dem Hauptstadtbezirk, heute leitet er dort die Frauen- und Mädchenabteilung von Türkiyemspor Berlin, dem Inbegriff eines Migrantensportvereins in Deutschland und Stützpunkt des Programms „Integration durch Sport“. „Heimat“ im klassischen Sinn, definiert durch nationale oder kulturelle Grenzen, bedeutet ihm „ganz, ganz wenig“, er sei „gerne von vielen Kulturen beeinflusst“, hauptsächlich von Türkisch und Deutsch, aber auch von anderen. „Es klingt vielleicht esoterisch, aber ich sehe mich als Bürger dieser Welt. Das einzige, was ich als ,Heimat' bezeichne, ist deshalb mein Umfeld, der Ort, an dem meine Freunde und meine Familie leben.“ Die Menschen sind wichtig. Nicht das Land, seine Flagge oder Hymne, nicht die Türkei oder Deutschland.
Kann ein Sportverein ein Gefühl von „Heimat“ oder – ihm lieber – „Zuhause“ vermitteln? „Auf jeden Fall“, meint Dogan. Er kam in den 90ern als Spieler zu Türkiyemspor, nach dem Bruch seiner Karriere – Knieverletzung, mit 18, auf dem Sprung in die Zweite Liga –, wurde er unter anderem Fanbeauftragter, Vorsitzender des Fördervereins und Co-Gründer der sehr erfolgreichen weiblichen Vereinssparte, deren „Erste“ er auch trainiert. „Der Verein bietet mir einen Raum, in dem ich mich entfalten kann, in dem ich mich wohlfühle, den ich mit Menschen teile, mit denen ich gerne zusammen bin. Für mich und viele andere ist Türkiyemspor eine zweite Familie – oder eben eine ,Heimat' im erweiterten Sinn.“ An dieser Stelle hat er auch weniger Probleme mit Symbolen. „Wir tragen unser Emblem gerne.“ Menschen wollten sich zugehörig fühlen, und diese Form der Identifikation grenze niemanden aus. Sportvereine: potenziell eine Heimat für alle.
Heike Awerkiew, DJK Wiking Köln: Heimat – eine Sache der Haltung
Die Heimatfrage beschäftigt jeden Menschen, aber die wenigsten derart intensiv wie Heike Awerkiew. Die 68-jährige Philologin führt ein Leben in kultureller Vielfalt. Sie kennt Moskau, wo sie einst als Studentin ihren späteren Mann kennenlernte und in den 90ern am Goethe-Institut arbeitete, besser als ihren mecklenburgischen Geburtsort, sie kennt Rostow am Don, wo die beiden Töchter zweisprachig aufwuchsen, mindestens so gut wie Köln-Chorweiler, wo sie seit 2000 lebt und sich für Integration einsetzt, etwa als Mitarbeiterin des Nachbarschaftsvereins Parea und Sprecherin einer Seniorensportgruppe beim IdS-Stützpunkt DJK Wiking Köln. Heike Awerkiew kann aus Erfahrung sagen: „Heimat ist auch eine Frage der Haltung. Man kann sich seine Heimat machen.“ Es ist eine Erfahrung vom Blumenstand. Sie liebt Blumen – Kindheitserinnerung an den Sonntagskaffee mit Strauß bei Oma –, aber in Rostow verkniff sie sich zunächst den Kauf, weil sie die Rubel-Preise umrechnete. Zu teuer, dachte sie. „Irgendwann habe ich mir gesagt, das geht nicht, Du tust Deiner Seele weh. Du verdienst hier russisches Geld, also gibst Du auch russisches aus.“ Ab da gab es Blumen, etwa an den Feiertagen, den russischen wie den deutschen.
Heimat heißt für Awerkiew, „angekommen zu sein und sich sozial einzubringen“. In diesem Sinn gleicht der Begriff dem des „Zuhause“: Der Ort, an dem man lebt und sich wohlfühlt. Das setze voraus, sich aufs neue Umfeld einzulassen und von diesem Umfeld angenommen zu werden: „Die Stunde Vereinssport in der Woche, das Kaffeekränzchen können viel zum Ankommen beitragen“, sagt die Integrationsarbeiterin. Wohlgemerkt: Diese formbare Identität kann die kulturell geprägte Heimat nicht ersetzen. Awerkiew hat Russisch studiert, beste Noten, Praxis ohne Ende, sie spricht sozusagen perfekt – aber doch nicht wie eine Muttersprachlerin, sagt sie. Und die nun ein Jahr dauernde Leitung des Parea-Projekts im „Hochhausdorf“ (Awerkiew) von Chorweiler hat sie so viel über kulturelle „Heimat“ gelehrt, „dass es mich umhaut“. Ihre Gruppe türkischer Frauen etwa zauberte ihr für ein Fest mal ein Buffet vom Feinsten hin, sie bedankte sich dafür verbal und mit Sachgeschenken von Parea. Als ihr eine der Frauen später sagte, sie spüre ihre Dankbarkeit nicht, fiel Awerkiew aus allen Wolken, bis zur Erklärung: „Dankbarkeit zeigt sich auf Türkisch, indem man zusammen essen geht, sich den Bauch vollschlägt, lange zusammensitzt und über Gott und die Welt spricht.“
Mitku Seboka, LAC Quelle Fürth: laufend ankommen
„Heimat“, das ist für viele Menschen ein Land, meist das, in dem sie geboren wurden. Verstärkt gilt das für die, die dieses Land verlassen haben, womöglich noch vor relativ kurzer Zeit. Bei Mitku Seboka, 27, Langstreckenläufer, ist das so, und es überrascht nicht, wenn er sagt:. „Meine Heimat ist Äthopien“. Der Deutsche Meister 2015 über 10.000 Meter kam 2012 nach Deutschland, nach Fürth, wo er beim LAC Quelle trainiert und in einem Asylbewerberheim ein Zimmer mit einem Landsmann teilt. „Wir haben nicht die gleiche Muttersprache, ich spreche Amharisch und er Oromiffa (Sprache der Oromo, d. Red.). Aber ich spreche auch Oromiffa, deshalb können wir uns unterhalten“, sagt Seboka. Das sei ebenso ein Stück Heimat wie das gemeinsame Kochen und Essen. In Äthiopien kommen sie aus verschiedenen Volksgruppen und Regionen. In der Fremde sind beide Äthiopier.
Wobei sich das „Fremde“ im Fall von Seboka laufend relativiert. Seit September lernt er vormittags Deutsch in der Volkshochschule, mit lauter Nicht-Afrikanern. Und schon lange trainiert er abends und teilweise morgens bei der LAC Quelle. „Mitku ist einer, der auf andere zugeht, und der Sport erleichtert ihm das“, sagt sein Trainer Theo Kiefner. Seboka selbst sagt, der Sport sei „der wichtigste Teil“ seines Ankommens in Fürth. Wobei er weniger an den Verein als solchen denkt als an Menschen wie seinen Trainingspartner Joseph Katib (Deutscher Berglaufmeister 2015) und die Mitglieder seiner Laufgruppe, mit denen er auch mal feiert und essen geht; erst kürzlich hatten sie einen „richtig guten Abend“ bei Reinhard Leibold, Urgestein des LAC Quelle und Deutscher Meister von einst.
Der Sport, die Rennen und die Menschen, machen Mitku Seboka mit Fürth und bedingt mit Franken und Bayern bekannt. Ob Deutschland einmal seine (zweite) Heimat werden kann? „Ich weiß es nicht“.
Die Antwort weist auf sein einstweilen begrenztes Aufenthaltsrecht hin. Und darauf, dass er vorerst die Region als seinen Lebensraum begreift, nicht das Land im Ganzen.
DOSB – Autor: Nicolas Richter