Neben den Stärken, die wir in Barcelona gesehen haben, haben wir auch Schwächen, die bei der Team-EM in Bergen deutlich wurden. Wir haben im Lauf Nachholbedarf, dort müssen wir uns am Riemen reißen. Ich habe aber ein gutes Gefühl. Cheick-Idriss Gonschinska bringt als neuer Cheftrainer mit seiner Erfahrung wirkungsvolle sportfachliche Impulse.
Guenther Lohre – „Blicken schon nach London“
Für Guenther Lohre, DLV-Vizepräsident Leistungssport, ist die EM-Saison 2010 Vergangenheit. Der frühere Stabhochsprungrekordler blickt bereits den nächsten Aufgaben entgegen. Dass dabei die Olympischen Spiele 2012 in London (Großbritannien) schon jetzt einen sehr hohen Stellenwert einnehmen, verrät er im Interview mit leichtathletik.de.
Guenther Lohre, wie würden Sie das erste Jahr ihrer Amtszeit als DLV-Vizepräsident für den Bereich Leistungssport zusammenfassen?
Guenther Lohre:
Ich habe eine Menge über Zusammenhänge und Möglichkeiten gelernt. Ein Verband ist kein Wirtschaftsunternehmen und hat daher ungewohnte Entscheidungsprozesse. Wir sind aber auf einem guten Weg. Wir haben unsere Trainer wieder stärker in die Verantwortung für ihre Disziplin genommen, mit ihnen klarere Ziele abgesteckt und ich bin mit dem zufrieden, was wir bei der EM in Barcelona erreicht haben.
Jetzt hat das WM-Jahr 2011 begonnen. Ein Neues Jahr bringt neue Ziele und Vorsätze. Mit welchen gehen Sie die kommenden Monate an?
Guenther Lohre:
Wir wollen unsere angefangenen Reformen, Verbesserungen und Veränderungen abschließen und dann zur Sommersaison schon für die Olympischen Spiele 2012 in London planen können.
Was bedeutet das konkret?
Guenther Lohre:
Wir haben beschlossen, dass wir zukünftig im Zwei-Jahres-Rhythmus planen. Schon in diesem Jahr schauen wir, was die Periodisierung und die Wettkampfplanung betrifft, mit einem Auge in Richtung London. Das wollen wir so weiterführen und nicht mehr von Jahr zu Jahr planen. Alles, was wir in diesem Jahr umsetzen, wollen wir im kommenden Jahr nicht mehr groß verändern. Wir machen uns schon frühzeitig Gedanken, wie man zum Beispiel 2012 eine EM vor Olympia angeht und welche Athleten man wohin entsenden will. Alles was wir 2012 vorhaben, wollen wir schon in diesem Jahr ausprobieren, so dass wir im nächsten Jahr keine Überraschungen erleben. Unser Motto ist „Über die WM in Daegu nach London“.
Die letzten Olympischen Spiele liefen für die deutsche Leichtathletik nicht besonders erfolgreich. Ist diese veränderte Planung auch eine Antwort darauf?
Guenther Lohre:
Wir sind eine starke Leichtathletik-Nation und haben deshalb natürlich auch jetzt bei der WM 2011 eine vordere Platzierung in der Nationenwertung im Auge. Dieses Jahr können wir noch üben, für 2012 muss es sitzen. Man darf in der Vorbereitung keine Fehler machen, wenn man welche macht, muss man wissen, was zu tun ist. 2012 muss es passen. Bei dem hohen Wettbewerbsdruck, dem unsere Athleten ausgesetzt sind, müssen wir alles tun, um sie gesund und in Top-Form bei den internationalen Meisterschaften an den Start zu bringen. Wenn man die WM 2009 in Berlin betrachtet, dann erreichten dort zu viele Athleten ihre Bestleistungen nicht. Jetzt in Barcelona war das schon besser. Das wollen wir weiter optimieren.
Welche Perspektiven sollen sich dadurch eröffnen? Ein Platz unter den ersten Vier in der Nationenwertung ist das bereits beim Verbandstag 2009 erklärte Ziel für Olympia 2012…
Guenther Lohre:
Wenn wir uns sportfachlich weiter verbessern, werden wir unser Ziel erreichen. Mit diesem Ziel bin ich auch angetreten.
Was wurde konkret schon verbessert?
Guenther Lohre:
Wir haben für die Athleten neue Angebote wie in den Bereichen Ernährung und Psychologie geschaffen. Ich erhoffe mir auch Impulse durch die Neubesetzung des medizinischen Teams. Wir schaffen in der Nationalmannschaft eine positive, leistungsfördernde Atmosphäre. Das Wohlfühlen im Team und die gegenseitige Ermutigung sind ganz wichtige Punkte. Die Athleten sollen mit Mut und Risikobereitschaft in die Wettkämpfe gehen und keine Versagensangst haben.
Wo und woran muss besonders gearbeitet werden?
Guenther Lohre:
Neben den Stärken, die wir in Barcelona gesehen haben, haben wir auch Schwächen, die bei der Team-EM in Bergen deutlich wurden. Wir haben im Lauf Nachholbedarf, dort müssen wir uns am Riemen reißen. Ich habe aber ein gutes Gefühl. Cheick-Idriss Gonschinska bringt als neuer Cheftrainer mit seiner Erfahrung wirkungsvolle sportfachliche Impulse. Er sagt, wo es langgeht. Er schafft es, die Leute zusammenzubringen und den Athleten ihre Chancen zu verdeutlichen. Wir haben aber auch Disziplinen mit nur einem Top-Athleten oder einer Top-Athletin. Bei einem Ausfall wie jetzt bei Ariane Friedrich im Hochsprung ist die zweite Reihe noch etwas zu weit weg. Wir wollen in mehr Disziplinen als heute einen schärferen Wettbewerb um die internationalen Startplätze haben. Aber nur gesunde Athleten können ein langfristiges Hochleistungstraining absolvieren. Deshalb müssen wir ihnen die Zeit für lange, saubere Aufbauphasen geben. Auch da hilft ein zweijähriger Planungszyklus.
2010 lernten wir, dass die Normhatz vieler Athleten dazu führt, dass das große Saisonziel aus dem Fokus rückt. Deshalb wollen wir spätestens 2012 in Stufen nominieren. Die Norm wird in diesem Jahr nur noch einmal verlangt werden.
Wie bewerten Sie die momentane Nachwuchssituation in der deutschen Leichtathletik?
Guenther Lohre:
Unser Talentreservoir ist riesengroß. Es kommen hochtalentierte Athleten nach, von denen viele heute für sich noch keine Chance für eine Olympiaqualifikation sehen. Wir wollen diese jungen Athleten ermutigen, es zu versuchen. Und selbst wenn es 2012 nicht klappen sollte, so gewinnen sie wichtige Erfahrungen, die ihrer Karriere förderlich sind.
Die EM 2012 ist ein Zwischenstopp vor London. Welche Bedeutung wird diese Veranstaltung einnehmen? Ein Bekenntnis der großen Nationen pro Helsinki gab es schon…
Guenther Lohre:
Wir wollen dort unser stärkstes Team antreten lassen. Es wird aber keine besondere Vorbereitung geben. Sportlich ist diese EM wichtig. Es ist nicht schlecht, sich vor Olympia unter extremen Wettkampfbedingungen hochkarätiger Konkurrenz zu stellen. Im Mittel- und Langstreckenlauf wird für uns der europäische Maßstab interessant sein. Wir werden auf diese Disziplinen besonders schauen, weil wir bei der EM eine Chance sehen, die ersten Erfolge unserer Arbeit im Laufbereich zu realisieren.
Kurzfristig ruft auch eine Europameisterschaft, die Hallen-EM im März in Paris. Wie sehen Sie die Vorzeichen?
Guenther Lohre:
Wir freuen uns darauf. Viele Athleten wollen antreten, das war im letzten Jahr zur Hallen-WM noch ganz anders. Jetzt wollen sie nach Paris. Ich finde das klasse.
Wie bewerten Sie die TV-Situation, gerade was die WM in Daegu und die fragliche Live-Übertragung in Deutschland betrifft?
Guenther Lohre:
Es ist natürlich schwierig eine Situation zu beurteilen, wenn die Details von Angebot und Gegenangebot nicht bekannt sind. Internationale Leichtathletik ist aber ein gefragtes TV-Programm. Das zeigen die Umfragen nach Sportinteresse und die Quoten von Barcelona. Die Fußball-Monokultur im deutschen Fernsehen und die Überdosis Wintersport in der fußballlosen Zeit zeigen nur einen bescheidenen Ausschnitt der Sportkultur in unserem Land. Nur in der Leichtathletik treten die weltweit besten Athleten gegeneinander an. Nur in der Leichtathletik begegnen sich so viele verschiedene Sportler auf Augenhöhe.
Im Zeitalter der Globalisierung ist die Leichtathletik-WM ein wichtiges Ereignis, weil gemeinsame Wertvorstellungen und Zusammengehörigkeit in einem politikfreien Umfeld gezeigt werden. Leider wird das bei den Entscheidern von ARD/ZDF nicht gesehen. Ich habe den Eindruck, dass Leichtathletik, auch die nationale, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht gewollt wird. Darüber zu klagen hilft nicht weiter. Deshalb sind wir der DLP dankbar, dass sie auch in diesem Jahr für unsere Fans bei verschiedenen Veranstaltungen einen Internet-Live Stream anbietet.
DLV