2016 Olympic Games Rio De Janeiro, Brazil August 12-21, 2016 Photo: Jiro Mochizuki@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET
Gesa Krause im Interview „Das Schöne und Hässliche liegen dicht beieinander“ – Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Wer sich Ihren Antritt bei der Weltmeisterschaft 2015 in Peking auf Youtube anschaut, Ihren Lauf auf Platz drei, erfährt, dass der Fernsehkommentator Ihren Trainer als Sklaventreiber anspricht. Hat er recht?
Herr Heinig sagt, von nichts kommt nichts.
Grundsätzlich fordert er viel. Aber er ist kein Sklaventreiber; das ist ein Scherz zwischen den beiden. Ich erlebe meinen Trainer als fürsorglichen Menschen. Wenn ich kann, renne ich richtig. Wenn ich mich unwohl fühle, würde er mich niemals in eine harte Trainingseinheit oder einen Wettkampf schicken.
Sie haben sich in fünf Höhentrainingslagern auf Rio vorbereitet, was Sie nur unterbrochen haben, um die deutsche Meisterschaft und die Europameisterschaft zu gewinnen. Wo steckt Ihr Talent: in den Beinen oder im Kopf?
Eher im Kopf. Ich war ein talentiertes Mädel, das meist 800 Meter gelaufen ist. Ich konnte nicht stillsitzen. Aber ich habe über die Jahre gemerkt, dass ich mir mein Niveau erarbeiten muss. Mir ist nie etwas zugefallen. Ich war immer bereit, wenn ich etwas erreichen wollte, ein bisschen mehr zu tun, Fehler zu erkennen, noch einen draufzusetzen.
In den Beinen steckt doch auch Talent!
Ja, natürlich. Aber ich war nie das Wunderkind, das mit wenig Training richtig gut ist. Ich habe gelernt, hart zu arbeiten.
Wann haben Sie gemerkt, dass Laufen wehtut?
Bei meinem ersten Wettkampf. Ich war acht Jahre alt, seit zwei, drei Monaten im Leichtathletikverein, als sie mich fragten, ob ich bei der Kreismeisterschaft im Crosslauf mitmachen wollte. Ich bin als Dritte ins Ziel gekommen, als Zweite meiner Altersklasse. Ich habe extrem angefangen zu heulen, vor Schmerzen. Mein Körper war diese Überbelastung nicht gewohnt. Ich habe meine Mutter angeschrien, meine Eltern. Aber das hat gezeigt, dass ich mich quälen kann. Andere Kinder gehen nicht an diesen Punkt.
Warum sind Sie dabeigeblieben?
Erst habe ich wirklich gesagt: Ich mache das nie wieder. Dann kam das Glücksgefühl über das, was ich geleistet hatte. Ich habe mich bei meiner Mama entschuldigt. Meine Eltern nehmen meine Wettkämpfe bis heute zum Anlass für Reisen.
Ist es bei den Schmerzen und beim Glück geblieben?
Man erhöht mit dem Training seine Belastungsfähigkeit. Das Schöne und das Hässliche liegen ganz dicht beieinander. Es ist schwer zu beschreiben, wie gut es sich anfühlt, wenn man ins Ziel kommt und dieses Erfolgserlebnis hat. Das löst so starke Emotionen aus, dass alle negativen Gedanken vergessen sind. Heute ist es so, dass vor dem Wettkampf die innere Anspannung manchmal so groß ist, dass mir übel wird. Man bekommt das Gefühl, dass man vielleicht doch nicht bereit ist für den Wettkampf. Dass man sich fragt: Warum tue ich mir das an? Dann kommt man mit einer guten Leistung ins Ziel, und dieses Gefühl ist wesentlich schöner.
Ist das der Triumph des Kopfes über die Beine?
Auf jeden Fall. Ich sage mir: Es kann dir doch nichts passieren. Niemand reißt dir den Kopf ab. Wenn man in dieser Situation kneift, verschlimmert man die Situation. Man wächst mit jeder Aufgabe, die man löst. Viele sind gut im Training, aber nicht jeder ist gut im Wettkampf, da ist die psychische Belastung ganz anders.
Bei Ihrem Titelgewinn in Amsterdam haben Sie dem Feld Ihren Willen aufgezwungen, indem Sie an der Spitze Tempo gemacht haben. Bei der WM in Peking sind Sie nach dem letzten Wassergraben auf die Innenbahn geschlüpft und haben auf der Geraden attackiert. War das Ihre Taktik?
Der EM-Lauf war so geplant. Die Situation bei der WM kann man nicht planen. Das war, wie wenn man beim Fußball eine Super-Flanke bekommt und aufs Tor schießt. Die Lücke ging auf, und ich habe sie intuitiv genutzt.
Sie scheinen Spaß daran zu haben. Ihr Trainingspartner Homiyu Tesfaye würde am liebsten Einzelrennen mit Zeitnahme bestreiten, ohne jedes taktische Geplänkel …
Das ist der Unterschied zwischen uns. Bei der deutschen Meisterschaft ist Homiyu in einem typischen Meisterschaftsrennen Zweiter geworden, obwohl er eigentlich der bessere Läufer ist. Ich kann mich gut auf Rennen einlassen, aber ich habe auch schon Lehrgeld gezahlt. In Helsinki habe ich viel um Positionen gekämpft . . .
… bei der Europameisterschaft 2012.
Da musste ich viele Körner lassen. Wenn es nur um die Zeit ginge, hätte ich eher das Nachsehen. Das mag ich an Meisterschaften und Olympischen Spielen: An diesem Tag zählt’s, da gibt es keine Pacemaker, die fürs Tempo sorgen. Das ist Wettkampf, wie er sein muss.
Verschärfen Hindernisse den Wettkampf?
Die technische Komponente ist etwas, das mir zugutekommt. An einem Hindernis und am Wassergraben kann man vielleicht einen halben Meter gutmachen. Hürden sind Bestandteil meines Sprint-Trainings, aber das mache ich nur einmal die Woche. Den Wassergraben haben wir bis zur EM praktisch gar nicht trainiert, weil das die Gelenke so belastet. Hürden zu überlaufen ist wie Fahrradfahren. Man verlernt es nicht.
Es war eine strategische Entscheidung, auf Hindernis zu setzen?
Ich habe sie jahrelang nebenbei gemacht. Ich bin 800 Meter gelaufen und 1500 und ein, zwei Mal im Jahr Hindernisrennen. Dann war es 2011 Glückssache, dass ich mit achtzehn die WM-Norm für die Erwachsenen gelaufen bin. Irgendwann habe ich zugegeben: Das ist wohl doch meine Strecke.
Sie sind ziemlich aktiv in der digitalen Welt. Auf welchen Kanälen?
Facebook, Instagram, Twitter. Ich schreibe Berichte über Trainingslager, ich teile Berichte und Bilder. Ich versuche, präsent zu sein. Wir Leichtathleten sind ja keine Fußballer, die jede Woche im Fernsehen kommen. Ein bisschen Selbstvermarktung ist notwendig.
Ist das die Zukunft: eine eigene Plattform für sich und seine Sponsoren?
Man muss gucken, was die Sponsoren erwarten. Wir haben Leute in der Leichtathletik, die jeder kennt, weil sie sich super vermarkten. Aber am Ende kommt keine sportliche Leistung rum. Mich sollen die Leute durch meine sportliche Leistung kennen. Es hat keinen Sinn, wenn Sponsoren kommen und einem zusätzliche Aufgaben aufbrummen.
Was sagen Sie zum Zustand der Leichtathletik, zum Ausschluss der Russen wegen Dopings, zur Razzia bei Barcelona, wo der Trainer von Genzebe Dibaba mit Doping-Mitteln erwischt wird?
Wir sprechen viel darüber, mein Vater und ich, mein Trainer und ich. Grundsätzlich habe ich die Haltung, dass Athleten, die nicht positiv getestet wurden, sauber sind. Wenn man immer misstrauisch ist, das hemmt einen. Man darf nicht zu viel darüber nachdenken. Aber wenn jemand phantastische Zeiten läuft . . .
. . . wie zum Auftakt der Leichtathletik-Wettbewerbe Almaz Ayana über 10 000 Meter, die einen Doping-Weltrekord um vierzehn Sekunden unterboten hat.
… schüttelt man schon mal den Kopf. Ich hoffe, dass so viele Sportlerinnen und Sportler wie möglich getestet werden und, wenn die Proben positiv sind, auch schnell aus dem Verkehr gezogen werden. Und dass nicht die Bürokratie den Prozess behindert.
Sie wissen, wie es ist, nachträglich Dritte zu werden.
Das ist richtig bescheuert.
Sie haben die Bronzemedaille von Helsinki bekommen, weil die Ukrainerin Svitlana Shmidt des Dopings überführt wurde.
Ich habe sie noch nicht bekommen. Ich fühle mich als Bronzemedaillengewinnerin von Peking, aber nicht als Bronzemedaillengewinnerin von Helsinki, auch wenn ich auf dem Papier aufgerückt bin. Ich kam als Vierte ins Ziel und war enttäuscht. Ich sage auch immer: Ich bin Olympia-Achte. Dabei könnte ich inzwischen auch sagen, dass ich Siebte bin.
Die russische Siegerin Julija Sapirowa war gedopt.
In den Büchern ist das nun falsch, im Internet steht es mal so, mal so.
Sie waren, so oder so, im Finale. War das ein Erfolg an sich?
Das war das Größte, was ich bis dahin erlebt hatte. Ich war sehr, sehr glücklich und stolz. Hinterher bin ich in ein emotionales Loch gefallen. Auch daraus habe ich gelernt.
Sie wollen Rio doch nicht locker angehen?
Der Medaillentraum ist präsent. Wenn man so was erlebt hat wie ich im vergangenen Jahr, dann träumt man davon.
Waren Sie in London überwältigt oder am Ende Ihrer Kraft?
Beides. Ich war so entkräftet, so leer, dass ich mich gar nicht richtig freuen konnte. Ich habe mir gesagt: Du hast so viel investiert, wie sollst du das je toppen? Ich konnte gar nicht loslassen. Dabei kann man ruhig eine Pause machen. Der Körper signalisiert, wann er erholt ist und wieder loslegen will.
Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 15. August 2016