Lässig, flippig, unkonventionell, so mögen sie sich in Vancouver, der Olympiastadt 2010. Doch kurz vor Beginn der Winterspiele am Freitag sorgen sich die Stadtoberen. „Stellen Sie sicher, dass Ihre Socken zu den Hosen passen“, schrieben sie ihren Bediensteten – und: Nicht zu viel lächeln.
Gastgeberstadt Vancouver: In bester Hanglage – Lars von Törne, Vancouver, im Tagesspiegel
Wochenlang ist das Feuer unterwegs, genau 106 Tage, auf dem längsten olympischen Fackellauf aller Zeiten, denn das ganze riesige Land, das zweitgrößte der Erde immerhin, sollte etwas davon mitbekommen. 45 000 Kilometer waren es, und der Fackelträger auf einer der letzteren Etappen, am Tag 89 in Kelowna, war Ross Rebagliati, 38.
Der hatte 1998 im japanischen Nagano die erste Goldmedaille im Snowboarden gewonnen und direkt – wenn auch nur vorübergehend – wieder abgeben müssen, weil in seinem Urin Spuren von Marihuana gefunden wurden.
In Toronto, 4000 Kilometer weiter Richtung Osten, spottete, als er davon erfuhr, ein Geschäftsmann: „In Vancouver leben sie eben in Lala-Land.“ Weil in Lala-Land viel möglich ist und wenig nicht verziehen wird.
Ein alternder kiffender Skaterboy also als Aushängeschild für die Winterspiele an der kanadischen Westküste, das wahrscheinlich größte Ereignis in der Geschichte der Stadt Vancouver – seit die Stadt 1886 vollständig niederbrannte?
Ross Rebagliati symbolisiert die junge Pazifikmetropole, hinter der praktisch nur noch Alaska kommt, und die mit den Spielen verbundenen Hoffnungen so gut, wie es wohl nur wenige andere Sportler getan hätten. Vancouver und der Rest Kanadas ticken unterschiedlich. Die einstige Goldgräber- und Holzfällersiedlung, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem der größten Umschlaghäfen des nordamerikanischen Kontinents heranwuchs, ist für viele die kanadische Version von Los Angeles und San Francisco in einem. Ein bisschen Hippie, ein bisschen Business, ein bisschen Show und ganz viel Sport, Strand, Berge, Spaß.
Und so hat sich der Goldmedaillengewinner von vor zwölf Jahren den Spaß gemacht, sich für die Olympischen Spiele in seinem Heimatland anzumelden. Und als er dann bei den Qualifizierungsrennen gegen 15-Jährige antreten musste und sich nicht durchsetzen konnte, hat er den Plan eben wieder aufgegeben. „In Kanada ist es nicht so einfach, aus der Rente zurückzukehren“, sagte er danach. Enttäuscht sei er aber nicht, „not at all“, er hätte es halt versuchen wollen. Und damit steht er für den Geist der Stadt.
Vancouver wird von seinen Bewohnern als zweierlei gepriesen: als reale Stadt – und als Idee. Hedonismus, Pragmatismus, kaum Konventionen, ein enges Verhältnis zur Natur, das mit einem manchmal rigoros wirkenden Hang zum Umweltschutz einhergeht, und eine große Leidenschaft für Outdoor-Aktivitäten. Von hier aus stachen 1971 die Umweltkämpfer einer neu gegründeten Organisation, die sich später Greenpeace nennen würde, auf dem Fischkutter „Phyllis Cormack“ gegen die Atombombentests auf den Aleuten-Inseln in See, hier errichtete Eckhart Tolle, der aus Deutschland stammende New-Age-Guru, die Zentrale seines Spiritualitätsimperiums. In kaum einer anderen Stadt in Kanada und den USA wird so viel Müll getrennt und so wenig Treibhausgas pro Kopf in die Atmosphäre gepustet. Und in vielleicht keiner anderen Stadt ist das so vielen noch lange nicht genug.
Dass Kanada der fünftgrößte CO2-Emittent unter den Kyoto-Ländern ist, hält Ross Rebagliati für „ziemlich peinlich“. Der smarte Ex-Sportler mit dem Jungencharme engagiert sich seit einiger Zeit in der Politik, bei den Liberalen, Umweltschutz ist eines seiner Themen – und zur Politik kam er natürlich ganz auf Vancouver-Art, nämlich quasi nebenbei. Die Partei habe ihn mal eingeladen, erzählt er, man saß zusammen im Café, und als man sich trennte, hatte er zugestimmt, für seinen Wohnbezirk bei den nächsten Parlamentswahlen als Kandidat anzutreten.
Die Gegner sind die Konservativen, die überlegen sind, aber das schockt Rebagliati nicht. Er werde seine politische Arbeit machen wie alles andere bisher auch in seinem Leben: Vollgas voraus, Bleifuß. „Was wäre ein Sieg, wenn die Gegner nicht die besten wären?“, fragt er selbstbewusst.
Dass der Stadt ihre ganze lässige Vollmundigkeit während der Spiele auf die Füße fallen könnte, befürchten sie unterdessen im Rathaus. Jetzt, kurz vor den Olympischen Spielen, die an diesem Freitag eröffnet werden, bangt die Stadtverwaltung, Vancouver könnte nicht ernst genommen werden. Deshalb veröffentlichte man vor ein paar Tagen einige Ratschläge für alle Mitarbeiter, die während der Winterspiele mit internationalen Gästen zu tun haben werden. Darin werden sie aufgefordert, sich nicht zu nachlässig zu kleiden („Stellen Sie sicher, dass Ihre Socken zur Hose passen“), nicht „zu plauderfreudig“ zu sein und nicht unangemessen viel oder lange zu lächeln.
Das Verhältnis von Vancouver zu Kanada ist ein bisschen wie das von Berlin zum Rest der Bundesrepublik, auch wenn in Berlin eher unangemessen wenig oder knapp gelächelt wird: Es fühlt sich etwas freier, entspannter an, hier zu leben, sagen viele Bewohner und sind darauf stolz, während man sie im Rest des Landes für ein wenig abgehoben hält – oder sich wünscht, man könnte zu ihnen ziehen, je nach Perspektive. Dazu kommt, dass Vancouver in der öffentlichen Wahrnehmung mindestens genauso sehr eine amerikanische wie eine kanadische Stadt ist, von „Vanhatten“ war in einem Kulturmagazin die Rede, während die „New York Times“ in Vancouver ein „Vansterdam“ erkannt haben will. Fest steht, dass die Stadt in den gerade mal 120 Jahren seit der ersten Besiedlung durch mehrheitlich britische Auswanderer wenig Zeit hatte, ein einheitliches Profil zu entwickeln.
Wer Karriere macht und Vancouver verlässt, zieht oft nach Süden weiter, die US-Grenze ist nur eine halbe Autostunde entfernt. Andererseits zieht es US-Amerikaner in Scharen in den Norden. Die linksliberale Stadt mit ihrem alternativ angehauchten Lebensstil lockt nicht nur als Urlaubsstadt, sondern dank attraktiver Steuervorteile auch als Amerika-Ersatz in Hollywoodfilmen. Etliche US-Blockbuster wurden und werden hier gedreht, auch wenn die Handlung in Seattle, Denver oder New Orleans spielt.
Der Umgang mit dem großen Geld ist umgekehrt aber nicht zurückgeschwappt nach Norden. Über seine gescheiterte Bewerbung für die jetzigen Winterspiele hat Ross Rebagliati auch geklagt, dass die Kosten immens gewesen seien. Und Sponsoren knapp. „Kanada ist in der Beziehung ein kleines Land“, sagt Rebagliati. Und durch die aktuelle Wirtschaftslage ist es noch kleiner geworden.
Der Investor der Sportstadt ging im Strudel der Finanzkrise unter. Er hinterließ der Stadt einen Schuldenberg von einer Milliarde US-Dollar, so die düsteren Schätzungen. Doch davon wollen sich die Olympiamanager ihre Laune nicht verderben lassen. Vancouver glaubt, sich die Spiele leisten zu können. Immerhin war es im vergangenen Jahr die Stadt mit dem größten Wirtschaftswachstum aller kanadischen Städte. Die Erfahrung lehrt: Irgendwie wird es schon klappen. So wie Vancouver es doch immer geschafft hat, sich in seiner kurzen Geschichte zu behaupten und zu entwickeln. „Wer hier lebt, ist Teil eines großen gesellschaftlichen Experiments“, sagt Gary Stephen Ross, Autor und Chefredakteur der Zeitschrift „Vancouver“: „Diese halbwüchsige Stadt ist ein unfertiges Projekt, und viele Bürger nehmen eifrig daran teil.“ Meistens geht es gut aus. Und wer bei den Olympiawerbern insistiert und auf die weniger rosigen Seiten der Stadt, auf soziale Brennpunkte hinweist, erntet Schulterzucken und hört, dass ein Teil des für die Spiele erbauten Athletendorfes in bester Innenstadtlage später an bedürftige Familien vergeben werden soll – die Olympischen Winterspiele als Beitrag zum Sozialsystem à la Vancouver.
Zu den dunklen, wenn auch selten bedrohlichen Seiten der Stadt gehören heruntergekommene Viertel wie die Drogen- und Obdachlosenmeile gleich hinter den schicken Ausgehstraßen von Gastown, wo hunderte, vielleicht tausende aus ganz Nordamerika gestrandete Junkies die Tage am Straßenrand verbringen und wo es den einzigen von medizinischem Fachpersonal betreuten Druckraum der USA und Kanadas gibt. Auch in anderen Vierteln sind soziale Not und die Folgen des dank des Hafens boomenden Drogenmarktes zu spüren: Immer wieder gibt es Razzien, für die schon mal ein ganzer Block von der Polizei abgesperrt wird.
Wer es sich leisten kann, wohnt in gläsernen Innenstadt-Hochhäusern und hat sein glänzend poliertes Motorboot direkt vor dem Haus vertäut. Wer außergewöhnliches Glück hatte, wohnt in einem der Hausboote, bunten Luxus-Holzhütten auf schwimmenden Docks. Besonders beliebt als Andockstelle ist die malerische Halbinsel Granville-Island, halb alternative Künstlerkolonie mit bunten Galerien, halb Luxusviertel mit angeschlossenem Jachthafen.
Jeder zweite Bewohner der Stadt hat eine andere Muttersprache als Englisch, rund ein Drittel hat chinesische Vorfahren. Von oben, aus den höchsten Etagen der Wolkenkratzer in der City, zu denen ständig neue hinzukommen, sieht sie aus wie eine Patchwork-Decke. Bei gutem Wetter erkennt man leicht, dass Vancouver einst aus verschiedenen Dörfchen langsam zusammengewachsen ist, von denen jedes ein paar Eigenheiten mit in die Fusion zur Großstadt mitgebracht hat, in deren Kern rund eine halbe Million Menschen leben, inklusive Außenbezirke sind es rund zwei Millionen. Aber es ist selten gutes Wetter, meist regnet es. Oder die Stadt ist in tiefen Nebel gehüllt.
Auch der Snowboarder Rebagliati verdient sein Geld inzwischen mit Immobilienvermittlung. Nicht direkt in Vancouver, sondern in einer kleinen Stadt mit Wald und See in der Nähe, wie fast alle Städte in Kanada Wald und See in der Nähe haben, er lebt dort mit Frau, Kind und Hund. Das Geschäft läuft. Aber manchmal fährt Rebagliati auch noch den Truck, mit dem ein Freund von ihm Hausboote ausliefert, und ein Buch hat er auch geschrieben, über die Geschichte des Snowboardens. Er wisse, sagt er, wie es sei, kein Geld zu haben, was das für Familien und kleine Kinder bedeute, und sein Sport damals sei ein Anker gewesen, aus den beengten Familienverhältnissen herauszufinden.
Auch das ist typisch für die Stadt. Dass Sport Freiheit und Alltag ist. Überall laufen, radeln, skaten athletische Menschen über die glatt betonierten Straßen, man sieht sie in den Ozean springen mit dem Wellenbrett oder mit den Skiern auf dem Autodach zu den nächsten Liften fahren. In den nationalen Übergewichtsstatistiken landet die Stadt regelmäßig auf den letzten Plätzen.
Proteste hat es natürlich auch gegeben gegen die Spiele. Dass die alles in der Stadt nur noch teurer machen würden, war der Vorwurf, dass das Leben in der Innenstadt nach dem Durchzug des Spektakels mit hunderttausenden erwarteten Besuchern unbezahlbar werde.
Ross Rebagliati hat keine Eintrittskarte für die Olympischen Spiele. Er wolle aber die Stimmung in der Stadt genießen und ein bisschen mit seiner Medaille von 1998 herumwedeln. Über seinen Marihuana-Konsum und seine Forderung, die Droge zu legalisieren, spricht er derzeit nicht gerne, er wolle nicht als Ein-Thema-Hansel in die Politik ziehen, sagt er. Aber einen Kampagnensong für den Wahlkampf habe er schon: Bob Marleys „Get Up, Stand Up“.
Lars von Törne im Tagesspiegel vom Mittwoch, dem 10. Februar 2010