2016 Olympic Games Rio De Janeiro, Brazil August 12-21, 2016 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET
Fantasma – die Olympia-Kolumne – Spirit an der Sprit-Station – Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Bei der Eröffnungsfeier entzündet Vanderlei de Lima das olympische Feuer – und feiert danach mit Dosenbier an der Tankstelle. Während Olympia abhebt, zeigt der frühere Marathonläufer, wie man mit beiden Beinen auf dem Boden bleibt.
Der olympische Spirit ist flüchtig. Wer glaubt, ihn greifen zu können, hat ihn meist schon verpasst. Vanderlei de Lima war auf dem Weg ins Olympiastadion, um seine erste Eröffnungsfeier zu erleben. Als er noch Marathonläufer war, hatte er stets darauf verzichtet und war erst zu seinem Wettkampf, traditionell am letzten Sonntag der Spiele, angereist.
De Lima wurde zu einer Berühmtheit des Sports nicht durch einen großen Sieg, sondern dadurch, dass ihm dieser geraubt wurde, vermutlich. Beim Marathon der Spiele von Athen 2004 rannte er deutlich vorneweg, als ihn vier Kilometer vor dem Ziel ein Verrückter angriff und von der Strecke drängte.
Damit war die Goldmedaille praktisch verloren. De Lima gewann die Bronzemedaille, und er feierte sie. Seitdem gehört ihm ein Kapitel im großen Geschichtenbuch der Spiele, und die Coubertin-Medaille für hervorragenden Sportsgeist bekam er obendrein.
Das Telefon klingelt in der Tasche
Zwölf Jahre nach Athen wollte de Lima nun in Rio nachholen, was ihm an olympischer Erfahrung noch fehlte, als einer von 78.000 Zuschauern. Da klingelte das Telefon in seiner Tasche. Einer der Veranstalter bat Vanderlei de Lima, das olympische Feuer die letzten Meter durchs Stadion zu tragen und die Flamme zu entzünden.
Was für eine Auszeichnung: stellvertretend für das ganze Land den olympischen Geist fassbar zu machen und ihm für neunzehn Tage einen Ort zu geben.
In letzter Minute sei er für Pelé eingesprungen, erzählte de Lima hinterher beseelt, ein schlanker Mann von 47 Jahren mit schütterem Haar, immer noch überwältigt von der Überraschung. Das Erlebnis sei eindrucksvoller gewesen als sein Medaillengewinn, schwärmte er, diese sei nun seine Goldmedaille.
Und dennoch: Er hob nicht ab auf der langen Treppe zur Feuerschale, er blieb mit beiden Beinen am Boden, als Olympia abhob.
Man hätte nichts von ihm gehört, wären ihm nicht gegen Mitternacht nach der Eröffnungsfeier brasilianische Sportreporter zufällig an einer Tankstelle begegneten. Gerade noch hatte de Lima praktisch den Geist der Spiele in Händen gehalten. Man hätte ihn bei einem feierlichen Buffet oder an einer internationalen olympischen Bar erwartet.
Doch der Läufer versuchte seine Gefühle mit Hilfe von ein paar Dosen Bier zu sortieren. Der Spirit war mit ihm an der Sprit-Station.
Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 8. August 2016
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