Dr. Dr. med. Lutz Aderhold - Essstörungen und Laufsport ©privat
Essstörungen und Laufsport – Dr. Dr. med. Lutz Aderhold
In unserer heutigen Gesellschaft steht Schlankheit für Erfolg und Attraktivität. So finden wir zwar auf der einen Seite durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel mehr Übergewichtige, auf der anderen Seite aber Essstörungen als Folge des Schlankheitsideals. Ein Zusammenhang zwischen Krankheitssymptomen und gesellschaftlichen Normen ist offensichtlich.
Bei den Betroffenen handelt es sich in erster Linie um Jugendliche und junge Erwachsene, die auf der Suche nach der eigenen Identität und Stellung in der Gesellschaft Probleme auf den Körper projizieren (Aderhold und Weigelt 2012). Essstörungen gehören zu den häufigsten psychosomatischen Erkrankungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Herzog et al. 2004).
Es besteht eine Tendenz zur Chronifizierung und die Gefahr von Komplikationen bis hin zu tödlichen Verläufen.
Kennzeichen ist eine starke Beschäftigung mit Nahrungsaufnahme und Gewicht. Das Streben nach einem körperlichen Idealbild nimmt einen herausragenden Stellenwert ein. Um das Essverhalten entstehen meist ausgeprägte familiäre Konflikte, die mit einem hohen Leidensdruck der Familie verbunden sein können. In 90 Prozent sind Frauen betroffen und Sport spielt eine wichtige Rolle. Die Kombination mit Menstruationsstörungen und Osteoporose bezeichnet man auch als die „Triade der sporttreibenden Frau" (Platen 2000, Wanke et al. 2007).
Im Vordergrund der Anorexia nervosa (Magersucht – AN) steht der starke Gewichtsverlust, der durch eine verminderte Nahrungsaufnahme, Erbrechen, Gebrauch von Abführmitteln, Diuretika, Appetitzügler oder auch eine vermehrte körperliche Aktivität hervorgerufen wird. Trotz hochgradigen Untergewichts (BMI = Body Mass Index von 17,5 oder weniger) besteht die Idee zu dick zu sein (Störung der eigenen Körperwahrnehmung). Oft ist ein wählerisches und ritualisiertes Essverhalten zu beobachten. Hormonelle Störungen (Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse) äußern sich in einer Pubertätsverzögerung, Ausbleiben der Regelblutung und bei Männern in Libido- und Potenzverlust. Auch können erhöhte Wachstumshormon- und Kortisolspiegel sowie Störungen bei den Schilddrüsenhormonen und der Insulinsekretion vorliegen.
Es kommt zunehmend zu körperlicher Auszehrung mit Schwächegefühl, Appetitlosigkeit, kardiovaskulären Störungen (niedriger Blutdruck, Herzrhythmusstörung, bläuliche Finger und Lippen, Frieren), Osteoporose, Anämie, Schwächung des Immunsystems, Ödeme, Hautveränderungen, Elektrolyt- und Hormonstörungen (Amenorrhoe), Libidomangel sowie begleitenden psychischen Problemen wie niedrigem Selbstwertgefühl, Depressionen, Ängsten und Zwängen (Herpertz-Dahlmann und Bühren 2011).
Bei magersüchtigen Frauen haben wir oft ein monate- oder jahrelanges Ausbleiben der Periode, was quasi einen Schutzmechanismus des geschwächten Körpers darstellt. Die organischen Veränderungen beeinflussen ganz wesentlich die Prognose. Bei der AN wird dies an einer Mortalitätsrate (Sterblichkeit) von über 5% deutlich. Im Alter von 14 – 20 Jahren sind bis zu 0,8 % der jungen Frauen betroffen (Herpertz et al. 2011). Eine vollständige Genesung tritt nur bei 40% der Patientinnen ein.
Bei der Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht – BN) folgen Heißhungerattacken Maßnahmen, die einer Gewichtszunahme entgegenwirken. Es besteht eine mentale Fixierung auf die Themen Körpergewicht, Nahrungsaufnahme und körperliche Aktivität (Müller und de Zwaan 2011). Die BN kann im Zusammenhang mit einer Magersucht, normalem Körpergewicht und Übergewicht auftreten. Durch regelmäßiges Erbrechen und abführende Maßnahmen kommt es zu Mangelerscheinungen, Wechsel von Durchfall und Verstopfung, Elektrolytstörungen, Krämpfen, Zahnschmelzerosionen, Heiserkeit, Speiseröhrenentzündung, Herzrhythmusstörungen, Stoffwechsel- und Hormonveränderungen.
Zeitweilig werden Hungerperioden eingehalten oder Appetitzügler, Schilddrüsenhormone und Diuretika verwendet. Es besteht eine krankhafte Furcht davor, dick zu werden. In der Vorgeschichte lassen sich häufig Episoden einer AN nachweisen. Die BN ist häufig mit schwerwiegenden psychischen Störungen wie Depressionen, Ängsten und Persönlichkeitsstörungen begleitet. Die BN tritt ungefähr doppelt so häufig auf wie die AN (Herpertz et al. 2011). Die Heilungsquote liegt mit 50% höher.
Die dritte Form der Essstörung, die bisher noch relativ wenig erforscht ist, stellt die so genannte Binge-Eating-Störung („Essstörung mit Essanfällen" – BES) dar. Diese Form zeichnet sich durch wiederholte Episoden von „Fressanfällen" mit Kontrollverlust (an mindestens 2 Tagen in der Woche für 6 Monate) aus. Nach dem übermäßigen Essen leiden die Betroffenen unter Schuldgefühlen. Da im Unterschied zur BN keine kompensatorischen Verhaltensweisen (Erbrechen, Fasten, Sport, Abführmittel u.a.) vorliegen, sind die Personen mit einer BES meist deutlich bis stark übergewichtig. Adipositas muss also nicht zwangsläufig eine Folge von Überernährung und Bewegungsmangel sein, es kann auch eine Essstörung dahinter stecken. Die Prognose der BES stellt sich mit bis zu 80% Remissionsraten günstiger dar.
Die Anorexia athletica ist primär keine psychosomatische Erkrankung. Die Gewichtsreduktion geschieht zu Beginn kontrolliert, um die sportliche Leistung durch ein günstiges Kraft-Last-Verhältnis zu verbessern. Bei Missachtung eines gesunden Verhältnisses von Körpergewicht und sportlicher Leistung kann es aber in der Folge zur Leistungsminderung, Verletzungen und gesundheitlichen Problemen kommen. Häufig besteht ein zwanghafter Drang zu körperlicher Betätigung und die Verwendung abführender Maßnahmen. Ein fließender Übergang in eine definierte Essstörung ist möglich.
Männliche Sportler zeigen eine geringere Gefährdung als Sportlerinnen. Essstörungen und die Anorexia athletica kommen vor allem bei den Sportarten Turnen, Eiskunstlauf, Tanzen, Sportgymnastik, Ringen, Boxen, Rudern, Pferderennsport, Gewichtheben, Laufen, Biathlon, Radrennen, Triathlon und Skispringen vor (Wanke et al. 2004).
Magersüchtige bewegen sich aber auch gerne in der Welt des Sports, weil sie hier weniger auffallen und wegen ihrer Leistung akzeptiert werden. Die BMI-Werte der besten Marathonläuferinnen liegen häufig unter der kritischen Marke von 17,5. Bei den Männern liegen die Werte meist 10% höher, was aber auch durch die stärker ausgebildete Muskulatur bedingt ist.
Die Ursachen für die Entstehung einer Essstörung sind vielschichtig. Als begünstigende Faktoren gelten: weibliches Geschlecht, veränderte Appetitregulation (serotoninerge und dopaminerge Neurotransmittersysteme), genetische Veranlagung, Leistungsdruck, soziokulturelle Faktoren (Schlankheitsideal), gestörtes Selbstwertgefühl, Introvertiertheit, Perfektionismus, gestörte Körperwahrnehmung, Konflikt- und Stressbewältigung. Als auslösende Faktoren sind familiendynamische Aspekte bedeutsam: die Auseinandersetzung mit der Reifung als Frau, die Lösung von familiären Bindungen und die Entwicklung eines eigenen erwachsenen Selbst (Herzog et al. 2004).
Pubertierende Mädchen durchleben einschneidende äußere und innere Veränderungen. Mit der Reduktion des Körpergewichts können die hormonell bedingten körperlichen Veränderungsprozesse gehemmt werden, feminine Körperproportionen bilden sich weniger aus und der Menstruationszyklus wird unterbrochen.
Neue Untersuchungen haben gezeigt, dass auch ein aus dem Gleichgewicht geratenes Immunsystem mitbeteiligt ist. Eine Gruppe von Gehirn-Botenstoffen, die Neuropeptide, ist in geringerer Konzentration vorhanden. Eines dieser Neuropeptide, das Alpha-MSH, besitzt offenbar eine Schlüsselrolle bei der Regulierung des Hungergefühls und des Körpergewichts. Anorexie- und Bulimie-Patienten besitzen Antikörper gegen diese Neuropeptide.
Bei Essgestörten sind auch Gehirnareale unterentwickelt, die für die visuelle Wahrnehmung des menschlichen Körpers zuständig sind. Neurobiologische Untersuchungen zeigten funktionelle Veränderungen im limbischen, fronto-striatalen Netzwerk von Anorexie-Patientinnen (Friederich und Ingenerf 2011). Magersüchtige haben mit einem fehlgesteuerten Gehirn zu kämpfen, das ihnen vorgaukelt, einen zu fetten Körper zu haben. Bei der Anorexia nervosa und der Bulimia nervosa handelt e sich um ernste und teilweise auch lebensbedrohliche Erkrankungen, die therapeutische Hilfe erforderlich machen.
Oft steht einer Therapie aber trotz ernster körperlicher Symptome eine fehlende Krankheitseinsicht der Betroffenen entgegen. Da bei hinzukommender Depression Suizidgefahr besteht, ist meist zu Beginn insbesondere bei extremem Untergewicht eine stationäre Behandlung erforderlich. Die Therapie muss auf den Einzelfall abgestimmt werden und umfasst körperliche Rehabilitation und Ernährungstherapie, psychotherapeutische Behandlung und Einbeziehung der Familie. Bei den psychotherapeutischen Behandlungsverfahren besitzt die kognitive Verhaltentherapie die größte nachgewiesene Wirksamkeit (Herpertz et al. 2011, Fairburn 2012).
Eine medikamentöse Therapie kann bei psychischer Komorbidität (Depression, Zwangssymptome) angezeigt sein. Antidepressiva stellen für viele bulimische Patientinnen eine wirksame Komponente des Behandlungsprogramms dar. Die Behandlung einer Essstörung ist ein langwieriger Prozess, der über Monate und auch Jahre gehen kann. Die Ziele sind eine Normalisierung des Körpergewichts und des Essverhaltens sowie die Bewältigung der psychischen Probleme.
Eine gezielte Prävention von Essstörungen ist sehr schwierig. Aufklärung und der offene Umgang mit dem Thema können das Problembewusstsein stärken und langfristig dazu beitragen, das Auftreten von Essstörungen zu reduzieren.
Auch dieser Beitrag soll für die Problematik sensibilisieren, nach dem Motto: „Hinschauen und nicht wegschauen".
Dr. Dr. med. Lutz Aderhold
Literatur:
Aderhold L, Weigelt S. Laufen! … durchstarten und dabeibleiben – vom Einsteiger bis zum Ultraläufer. Stuttgart: Schattauer 2012.
Fairburn CG. Kognitive Verhaltenstherapie und Essstörungen. Stuttgart: Schattauer 2012.
Friederich HC, Ingenerf K. Zur Rolle neurobiologischer Faktoren in der Pathogenese der Magersucht. Persönlichkeitsstörungen 2011: 15: 239-45.
Herpertz S, Hagenah U, Vocks S, von Wietersheim J, Cuntz U, Zeeck A. Diagnostik und Therapie der Essstörungen. Dtsch Arztebl 2011; 108: 678-85.
Herpertz-Dahlmann B, Bühren K. Anorexia nervosa in Adoleszenz und Erwachsenenalter. Persönlichkeitsstörungen 2011; 15: 247-54.
Herzog W, Munz D, Kächele H. Essstörungen. Therapieführer und psychodynamische Behandlungskonzepte. Stuttgart: Schattauer 2004.
Müller A, de Zwaan M. Impulskontrollstörungen und Essstörungen. Persönlichkeitsstörungen 2011; 15: 263-8.
Platten P. Störungen des Essverhaltens bei Sportlerinnen. Dtsch Z Sportmed 2000; 51: 105-6.
Wanke E, Petruschke A, Korsten-Reck U. Ess-Störungen und Sport – eine Bestandsaufnahme. Dtsch Z Sportmed 2004; 55: 286-94.
Wanke E, Petruschke A, Korsten-Reck U. Ess-Störungen und Sport. Dtsch Z Sportmed 2007; 58: 374-5.
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Das Buch von Aderhold/Weigelt:
Aderhold/Weigelt: Laufen! Die Buchvorstellung aus dem Schattauer Verlag