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Essay -Sollen russische Athleten an den Olympischen Sommerspielen in Paris teilnehmen? sport-nachgedacht.de – Prof. Dr. Helmut Digel
In weniger als zwei Jahren werden in Paris die XXXIII. Olympischen Sommerspiele stattfinden. Die Vorbereitungen für dieses außergewöhnliche Sportereignis sind bereits in vollem Gange. Nicht nur in Frankreich, sondern nahezu in der gesamten Welt wird von diesen Spielen „Großes“ erwartet.
Nachdem in jüngster Zeit die Spiele mehrfach in Ländern mit autoritären oder gar totalitären politischen Systemen stattgefunden haben, werden nun die Olympischen Spiele in einem der wichtigsten Mutterländer der Demokratie ausgetragen: Im Land der Aufklärung, in einem Land, bei deren französischer Revolution vor mehr als 200 Jahren mit „egalité, fraternité, liberté“ eine Botschaft verkündet wurde, die uns gerade auch in diesen Tagen wichtiger denn je sein muss.
In diesen Tagen wurde nun mit Blick auf diese bedeutsamen Olympischen Spiele im Jahr 2024 eine Diskussion nicht nur in den deutschen Massenmedien eröffnet, die sich bereits bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking abgezeichnet hat. Ausgelöst wurde diese Diskussion durch das Kriegsverbrechen, das Russland vor einem Jahr mit dem Einmarsch in die Ukraine begonnen hatte, das bis heute andauert und dessen Ende nicht in Sicht ist. Es geht bei der Diskussion um die Frage, ob russische und belarussische Athletinnen und Athleten an den Olympischen Spielen in Paris unter klar definierten Bedingungen teilnehmen können oder ob Russland und Belarus in ihrer Gesamtheit, d.h. auch mit ihrer gesamten Athletenschaft von diesen Spielen ausgeschlossen sein muss.
Verständlich und nahe liegend sind dabei die Forderungen von einigen ukrainischen Politikern¹ und Sportfunktionären, die angesichts der Zerstörung ganzer Städte in ihrer Heimat und angesichts der vielen Todesopfer, die die Ukraine in diesem Krieg zu beklagen hat, Russland von den Spielen für unbegrenzte Zeit auszuschließen. Der Sympathie durch die massenmedial einseitig beeinflusste sog. öffentliche Meinung in Deutschland aber auch in einer Reihe weiterer europäischer Staaten können sich diese Forderungen sicher sein.
Die vom IOC, der großen Mehrheit seiner Mitglieder – den 206 NOKs – und nahezu von allen Internationalen Olympischen Fachverbänden vorgetragene und unterstützte Auffassung, möglichst alles zu tun, dass Athletinnen und Athleten aus aller Welt, ohne Diskriminierung und unabhängig von ihrem Pass an den Olympischen Spielen teilnehmen können, wenn sie strenge Kriterien erfüllen, die das IOC für diese Teilnahme vorgegeben hat, kann hingegen mit keiner Unterstützung durch die öffentliche Meinung rechnen. Gegen die Auffassung des IOC und seiner Mitglieder wird vielmehr eine aggressive und polemische Kritik in die Öffentlichkeit hineingetragen und immer mehr Politikern wird eine Bühne für ihre Kritik an dieser Auffassung bereitgestellt, obgleich die Frage, wer an Olympischen Spielen teilnehmen darf und wer von ihnen auszuschließen ist, ausschließlich eine Frage der autonomen Sportorganisationen sein muss.
Dass in Deutschland sich die Bundesinnenministerin Nancy Faeser sich zu dieser Frage zu Wort melden würde, kann wohl angesichts ihrer fragwürdigen Interventionen bei der Fußballweltmeisterschaft in Qatar und angesichts ihrer dabei gezeigten „Zeigefinger- Moral“ wohl kaum überraschen: „Dass das IOC russischen Sportlerinnen und Sportlern offenbar wieder die Tür öffnet und die Teilnahme an den Olympischen Spielen ermöglichen will, ist der völlig falsche Weg. Der Sport sollte in seiner Verurteilung des brutalen Krieges, den Putin gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führt, klar sein“. „Große Sportereignisse finden nicht im luftleeren Raum statt. Diesen furchtbaren Krieg inmitten Europas darf niemand ausklammern oder zwiespältige Signale senden… Die Internationalen Sportverbände bleiben in der Verantwortung, sich eindeutig zu positionieren… Das geht nur mit einem Ausschluss Russlands“.
Auch dass sich der von niemandem gewählte, aber mit öffentlichen Mitteln bezahlte „Experte für internationale Sportpolitik“ von Athleten Deutschland, sich zu Wort meldet, ohne dass öffentlich bekannt gemacht worden wäre, dass es hierzu eine repräsentative Meinungsbildung der deutschen Athletinnen und Athleten zur Frage der Teilnahme gegeben hat, war ebenso zu erwarten. Der IOC- Beschluss hat seiner Meinung nach „verheerende Signalwirkung“ und sei angesichts der russischen Intensivierung des Angriffskrieges „denkbar ungünstig“.
Eine äußerst polemische Kritik wurde, wie nicht anders zu erwarten, in diesen Tagen vom Präsidenten der Ukraine vorgetragen. Dieser lädt IOC-Präsident Bach in die vom Bombenkrieg zerstörte Stadt Bakhmut in der Region Donetsk ein, um Bach die Möglichkeit zu eröffnen, „dass er mit seinen eigenen Augen sehen kann, dass Neutralität nicht existiert“. Er wies dabei auch darauf hin, dass der ehemalige ukrainische Eiskunstläufer Dymtro Sharpar im Alter von 25 Jahren bei einem Gefecht in Bakhmut von russischen Truppen getötet wurde.
Der Beitrag, den die wichtigsten Tageszeitungen SZ und FAZ als Leitmedien der deutschen Presse zu dieser Problematik beisteuern, kann ebenfalls kaum als eine Überraschung wahrgenommen werden. In ihren Kommentaren sympathisieren sie mit der Bundesministerin des Innern, mit dem Athletenexperten, mit Präsident Zelensky und mit dem Sportminister der Ukraine. Was das IOC zu dieser Frage zu sagen hat, ist hingegen „IOC- und Bach- typisch vage“ (FAZ 27.1.23). Als eine“ Folgerichtigkeit“ kann man in diesem Zusammenhang das Schweigen der „sportjournalistischen Stars“ von FAZ und SZ bezeichnen, das während der problemlos ausgetragenen Australian Open in Melbourne mit russischer, belarusischer und ukrainischer Beteiligung und dem Sieg einer belarussischen Tennisspielerin zu beobachten war. Dieses Ereignis störte deren Voreingenommenheit und deren schon längst fest stehendes Weltbild ganz offensichtlich.
An dieser Stelle ist es angebracht, etwas genauer zu klären, um was es eigentlich bei der Frage der Teilnahme russischer und belarussischer Athleten bei den Olympischen Spielen in Paris geht und welche Probleme sich bei der Beantwortung dieser Frage aus einer etwas grundsätzlicheren Perspektive stellen und wie diese Probleme möglicherweise gelöst werden können.
Zunächst muss dabei klargestellt werden, dass unter politischen Gesichtspunkten zwei Sphären klar voneinander zu trennen sind. Es gibt die „Sphäre der staatlichen Politik“, der Politik der politischen Parteien, der Politik von demokratisch gewählten Parlamenten und Regierungen. Es gibt in dieser Sphäre aber auch die Politik von Diktaturen und von totalitären Herrschern. In dieser Sphäre müsste in diesen Tagen von den dafür Verantwortlichen alles getan werden, dass der Angriffskrieg Russlands möglichst schnell beendet wird um den weiteren Tod von vielen unschuldige Menschen in der Ukraine und in Russland zu verhindern.
Sprechen wir über die Durchführung von internationalen Sportveranstaltungen und vor allem über die Durchführung von Olympischen Spielen, so gibt es neben dieser Sphäre auch eine „Sphäre der Sportpolitik“, die eine Autonomie gegenüber der staatlichen Politik zu beanspruchen hat und für die es ein striktes Neutralitätsgebot geben muss. Die wichtigste Aufgabe für die Verantwortlichen für diese Sportpolitik muss es sein, sich gegen alle Bevormundungen und Eingriffe durch die staatliche Politik zu wehren, die eigene Autonomie zu schützen und das Neutralitätsgebot strengstens zu beachten. Das Neutralitätsgebot ist keineswegs eine Erfindung des deutschen IOC-Präsidenten, wie ihm dies in vielen Kommentaren in deutschen Medien und durch deren Kommentatoren unterstellt wird. Der in der Olympischen Charta nachzulesende §5 existiert schon seit Jahrzehnten vor Beginn der Amtszeit von IOC- Präsident Bach: „Recognizing that sport occurs within the framework of society, sports organisations within the Olympique Movement shall apply political neutrality“.
Wo, wann Olympische Spiele stattfinden, wer an diesen Spielen teilnehmen darf und nach welchen Regeln die Olympischen Wettkämpfe durchzuführen sind, sind Fragen, die in der Sphäre der Sportpolitik zu entscheiden sind. Dabei wäre es wünschenswert, dass die Repräsentanten der staatlichen Politik diese Entscheidungshoheit, aber auch den Anspruch der Sportorganisationen auf Autonomie und Neutralität respektieren.
Für die Möglichkeit auch in der weiteren Zukunft Olympische Spiele durchführen zu können, für den Erhalt der Werte und Ideen des modernen Olympismus sind die hier lediglich angedeuteten sportpolitischen Maximen unverzichtbar. Würde das IOC seine Regularien wie sie in der olympischen Charta definiert sind aufgeben, würde anstelle des Gebots zur Neutralität „Parteilichkeit“ treten, würde der Autonomieanspruch durch staatlich vorgegebene Entscheidungen außer Kraft gesetzt, so wäre dies das Ende der modernen Olympischen Spiele.
Den Olympischen Spielen der Neuzeit liegen die Ideen des Olympismus von Pierre de Coubertin zu Grunde. Sie haben eine mehr als 100-jährige Tradition und verweisen auf eine antike Vergangenheit. Der moderne Olympismus zeichnet sich durch ein eigenständiges Wertekonzept aus. Es geht bei diesen Spielen um Verständigung, Freundschaft, Fair Play und um Solidarität. Es geht aber auch und vor allem um herausragende und außergewöhnliche Leistungen von individuellen Athletinnen und Athleten, unabhängig von Herkunft, Rasse, Ethnie und Religion. Bei Olympischen Spielen wird individuelle menschliche Exzellenz zu einem besonderen Ausdruck gebracht.
Um den Schutz dieser Merkmale des modernen Olympismus hat es bei den nächsten Olympischen Spielen in Paris 2024 zu gehen und nimmt man die olympischen Maxime „citius, altius, fortius“, seit 2022 ergänzt durch das Adjektiv „communiter“(gemeinsam) ernst, so muss es, gerade angesichts des schlimmen Krieges in der Ukraine, die wohl wichtigste Aufgabe des IOC sein, alles dafür zu tun, dass 2024 während der Spiele in Paris das Gebot des Olympischen Friedens („Olympic Truce“), wie es seit der Antike besteht, zumindest für den begrenzten Zeitraum der Spiele beachtet und durchgesetzt wird. Bei Olympischen Spielen geht es nicht um einen Wettstreit von Staaten oder Nationen, auch wenn die Massenmedien und die staatliche Politik in den Herkunftsstaaten der Athletinnen und Athleten, durchaus auch unter Beteiligung des IOC selbst die Olympischen Spiele längst zu einem „nationalistischen Spektakel“ mit Nationenwertung haben verkommen lassen. Regel 57 der Olympischen Charta ist in dieser Frage ganz eindeutig:
An Olympischen Spielen nehmen nicht Staaten, sondern Teams von NOKs mit individuellen Athletinnen und Athleten teil. Gemäß der Charta sind die nationalen Olympischen Komitees Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die ihre Belange unabhängig von ihren Herkunftsstaaten zu regulieren haben. Olympische Spiele werden gemäß dieser Charta auch nicht an Staaten vergeben, sondern an NOKs, die sich mit einer oder mehreren Städten aus einem oder mehreren Ländern oder Regionen für die Ausrichtung der Spiele beworben haben. Die Charta kennt aus gutem Grund keine Nationenwertung. Sie ist und bleibt eine Erfindung der Medien und wird von diesen gepflegt. Eine Abschaffung der Nationenwertung diskutieren die deutschen Medien allenfalls dann, wenn Deutschland zu wenige Medaillen gewonnen hat.
Es ist auch nicht der Staat, in dem die Olympischen Spiele stattfinden oder das Organisationskomitee, das die Spiele ausrichtet, es ist vielmehr das IOC, das die mehr als 200 Nationale Olympische Komitees mit deren Athletinnen und Athleten zu den Spielen einlädt.
Vor dem Hintergrund des Auftrags, der durch die olympische Charta dem IOC und seinen Mitgliedsorganisation aufgetragen ist, müsste man es als ein Versäumnis und Versagen bezeichnen, wenn sich das IOC nicht um einen Weg bemühen würde, dass auch russische und belarussische Athleten bei den Spielen in Paris teilnehmen können, dass in diesen Tagen bei internationalen sportlichen Wettkämpfen Begegnungen zwischen russischen, belarussischen und ukrainischen Athleten ermöglicht werden, dass Gesten des Fair Play zwischen russischen und ukrainischen Athleten unterstützt werden und dass damit die Friedens- und Freundschaftsmission des IOC öffentlich dargestellt wird.
Das IOC ist derzeit auf der Suche nach einem tragfähigen Weg, um die Teilnahme jener russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten bei den Olympischen Spielen in Paris zu ermöglichen, die sich nicht nachweislich als Unterstützer von Putin und dessen Angriffskrieg ausgewiesen haben und die sich zu den Werten der Olympischen Charta bekennen. IOC- Entscheidungen gibt es in dieser Frage bislang nicht. Die Exekutive des IOC hat zunächst über Sanktionen gegen den russischen und belarussischen Staat und deren Regierungen entschieden. Es hat auch ein Unterstützungsprogramm der olympischen Bewegung für ukrainische Athleten und für die ukrainische olympische Sportfamilie beschlossen. Über eine mögliche Erlaubnis von individuellen Athleten mit russischen oder belarussischen Pässen zur Teilnahme bei Olympischen Wettkämpfen in Paris wurden vom Executive Board des IOC zunächst einmal lediglich erste Rahmenbedingungen formuliert.
Beschlossen wurde bereits im Februar 2022 als Teil der Sanktionen, dass in Russland und Belarus keine internationalen Sportveranstaltungen von den Internationalen Fachverbänden und von Nationalen Olympischen Komitees veranstaltet werden dürfen. Bei keinem Sportereignis dürfen russische oder belarussische Flaggen, deren Hymnen oder andere Formen der Identifikation zu Gunsten dieser Länder gezeigt werden. Zu internationalen Sportwettkämpfen dürfen russische und belarussische Repräsentanten der jeweiligen Regierungen und Staaten nicht eingeladen werden; sie dürfen auch keine Akkreditierung erhalten.
Beschlossen wurde auch die materielle und finanzielle Unterstützung der Ukraine, damit es für das Olympische Komitee der Ukraine möglich sein wird, eine starke Mannschaft des NOK der Ukraine zu den Olympischen Sommerspielen Paris 2024 und zu den Winterspielen in Milano Cortina 2026 zu entsenden. Den ukrainischen Athleten wird organisatorisch und finanziell geholfen, dass sie trotz des Krieges trainieren können und auch im Vorfeld von Paris an internationalen Sportveranstaltungen und Qualifikationsturnieren teilnehmen können.
Was die Teilnahme russischer und belarussischer Athleten anbelangt wurde vom Executive Board lediglich folgendes festgelegt: „A pathway for athletes participation in competition under strict conditions should be further explored“.
Als Bedingungen für die Teilnahme wurde empfohlen, dass die Athleten nur als „neutrale Athleten“ teilnehmen dürfen und auf keine Weise ihren Staat oder jegliche andere Organisation in ihrem Land repräsentieren dürfen; dass nur Athleten teilnehmen können, die die Olympische Charta respektieren, d.h. es können nur solche Athleten teilnehmen, die nicht gegen die Friedensmission des IOC verstoßen haben, und es können nur solche Athleten starten, die sich dem World Anti-Doping-Code unterworfen haben, alle wichtigen Doping- Regularien beachten und sich den Dopingkontrollen vor den Spielen in Paris unterwerfen.
In seinen Empfehlungen beruft sich die IOC- Exekutive auf den Bericht von zwei Sonderberichterstatterinnen des „United Nations Human Rights Council“, in dem u.a. große Bedenken geäußert werden, wenn russische und weißrussische Athletinnen und Athleten, Kampfrichter und ITOs von internationalen Wettkämpfen lediglich wegen ihrer Nationalität ausgeschlossen werden. Dies käme nach Auffassung der UN einer Diskriminierung und damit einer Menschenrechtsverletzung gleich. Ferner beruft sich die IOC-Exekutive auf eine Resolution der UN vom 1. Dezember 2022, in der die politische Neutralität der olympischen Bewegung unterstützt und die Unabhängigkeit und Autonomie des Sports wie auch die Erfüllung des Auftrages, als IOC die gesamte olympischen Bewegung zu führen, mit Nachdruck gefordert wird.
Beim „Olympic Summit“ (9. Dezember 2022) und bei der letzten Sitzung des IOC- Executive Boards waren sich die Beteiligten ganz offensichtlich bewusst, welche Probleme und Schwierigkeiten sich bei der Umsetzung der beschlossenen Empfehlungen ergeben werden. Als besonders schwierig wird sich dabei die Frage erweisen, mit welchem Verfahren jeder einzelne russische Athlet in Bezug auf die Einhaltung der erwünschten Friedensmission überprüft wird, wie sie durch die Olympische Charta vorgegeben ist. Eine „Gesinnungskontrolle“ muss sich meines Erachtens für das IOC-aus grundsätzlichen ethischen Erwägungen heraus-verbieten und die Olympische Charta bietet hierzu auch keine Rechtsgrundlage an. Auch bei früheren Olympischen Spielen haben Athletinnen und Athleten teilgenommen, deren politische Gesinnung keineswegs in Übereinstimmung mit der Olympischen Charta gewesen ist. Von den für die Olympischen Spiele in Paris Verantwortlichen muss vermutlich hingenommen werden, dass es trotz ihrer Vorgaben russische Athleten geben wird, die von ihrer inneren Überzeugung her Putin und seinen Angriffskrieg unterstützt haben und möglicherweise noch unterstützen. Dieses kleinere Übel muss wohl in Kauf genommen werden, wenn man das größere Übel verhindern möchte, nämlich sämtliche Athletinnen und Athleten aus Russland und Belarus, die den russischen Angriffskrieg nicht zu verantworten haben, von den Spielen auszuschließen.
Jene, die dies kritisieren, sollten sich dessen bewusst sein, dass auch in ihren eigenen Olympischen Delegationen bei den Spielen in Paris Personen dabei sein können, die mit – in westlichen Demokratien geächteten – politischen Ideologien, mit Rassismus, Ausländer- und Frauenfeindlichkeit und Homophobie sympathisieren. Auch diesbezüglich verbietet sich eine „Gesinnungsprüfung“ nicht nur für Angehörige von westlichen Demokratien. Meines Erachtens muss und darf vom IOC erwartet werden, dass es bei der Suche nach einer Lösung des Problems sich vor allem an den eigenen codifizierten Regeln orientiert. §4 der Olympischen Charta benennt die Grundprinzipien des Olympsmus: „The practice of sport is a human right. Every individual must have the possibility of practicing sport, without discrimination of any kind and in the Olympic spirit, which requires mutual understanding with a spirit of friendship, solidarity and fair play.”
Vor dem Hintergrund der für jedermann nachlesbaren Beschlüsse und Empfehlungen des „Olympic Summit“ und des Executive Board des IOC, können die massenmediale Kritik und die Angriffe aus dem Lager der staatlichen Politik, die hierzu geäußert wurden, nur Verwunderung hervorrufen.
> Seit 1945 gab es weltweit – folgt man einer Studie der Uppsala Universität – mehr als 250 Kriege. Allein 2021 waren es 37, die in Europa kaum zu Kenntnis genommen wurden: in Afrika 25, im Nahen Osten 9, in Europa 2, in Südamerika 1. Die Zahl der Kriegstoten wird vom „Department of Peace and Conflict Research der Uppsala University“ für 2021 mit 120.648 angegeben. Die „Top- Ten der kriegsführenden Staaten“ seit 1945 wird von Frankreich und dem Vereinigten Königreich (UK) angeführt. Der Koreakrieg 1950 bis 1953 hatte 4 Millionen geschätzte Opfer zur Folge, beim Vietnam- Krieg 1964-1975 waren 1,3-3.000.000 Opfer zu beklagen. Für den Afghanistan Krieg 2001 bis 2021 wurden 240.000 Opfer und für den Irakkrieg 1991 und 2003-2011 wurden 100.000-1.000.000 Opfer geschätzt.
In all diesen Kriegen war USA beteiligt. Frankreich hat den Indochinakrieg 1946 bis 1954 mit 500.000 Opfern und den Algerienkrieg 1954 bis 1962 mit 1,5 Millionen Opfer zu verantworten. In dieser Aufzählung darf Russland nicht vergessen werden, das allein im Afghanistankrieg 1979 bis 1989 2 Millionen Opfer zu verantworten hat. Israel führte gegen arabische Nachbarstaaten mehrfach bis heute auch Angriffskriege durch. Gleiches gilt für die Kriege Indiens gegen Pakistan, die zuletzt noch 1998/99 zu beklagen waren und 2008 führte Russland bereits einen Angriffskrieg gegen Georgien. Weitere Kriege müssten hier noch erwähnt werden. Keiner dieser kriegsführenden Staaten wurde trotz unglaublich vieler menschlicher Verluste jemals „olympisch“ sanktioniert.
Vergleichbare sportpolitische Interventionen, wie sie in diesen Tagen in Bezug auf den Angriffskrieg Russlands gegenüber der Ukraine zu beobachten sind, können bei den meisten der früheren Kriege nicht erkannt werden, so wie auch alle weiteren aktuellen Kriege, wie z.B. in Äthiopien, die in diesen Tagen in der Welt stattfinden, von der deutschen Politik nahezu unbeachtet bleiben.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass beim Russland/Afghanistan-Krieg Russland vom IOC nicht sanktioniert wurde und die Spiele 1980 in Moskau stattfanden. Sie wurden jedoch wegen des Krieges von mehreren Nationen des Westens unter anderem auch von Deutschland boykottiert. Aus Protest wegen der „Suezkanal Krise“ und der Bombardierung von mehreren Städten, die am Suezkanal gelegen waren, wurden die Olympischen Spiele in Melbourne 1956 von sechs Staaten boykottiert (Ägypten, Irak, Libanon, Niederlande, Schweiz, Spanien). Zu erwähnen ist auch der Ausschluss Deutschlands von den den Olympischen Spielen nach dem zweiten Weltkrieg und der Ausschluss Südafrikas wegen dessen Apartheid-Politik durch das IOC. In beiden Fällen gab es während der Zeit dieses Ausschlusses keine Diskussion über die Möglichkeit einer Teilnahme sog. neutraler Athleten durch das IOC, wenngleich dies zumindest aus heutiger Sicht und auf der Grundlage der damals gültigen Olympischen Charta und der dort postulierten Werte wünschenswert und notwendig gewesen wäre.
Wenn nun, wie es in diesen Tagen geschehen ist, Präsident Zelensky sich wiederholt in der für ihn typischen vorlauten und aggressiven Tonart zu Wort meldet und bekannt gibt, dass die Ukraine eine internationale Kampagne starten wird, um die Teilnahme von russischen Athletinnen und Athleten bei den bevorstehenden Olympischen Sommerspielen in Paris zu blockieren: „Today we will start a marathon for fair play aimed at clearing the management of international Olympics structures of hypocrisy as well as preventing any attempts to drag representatives of the terror state into the world sport“. Ergänzend hierzu verkündete der Sportminister der Ukraine, dass ein Boykott der Olympischen Sommerspiele 2024 nicht ausgeschlossen werden kann. Er behauptet entgegen den Darlegungen des IOC, dass eine Mehrheit der Mitglieder des IOC sich gegen eine Teilnahme von russischen Athleten bei den Spielen ausgesprochen habe und ähnlich wie bei den diskutierten Boykottmaßnahmen gegen die Fußballweltmeisterschaft in Qatar findet er dabei verbale Unterstützung in Dänemark und Großbritannien, die in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit jedoch auf einen besonderen Prüfstand gestellt werden müsste. In ihrer Haltlosigkeit und Unverschämtheit übertroffen wurden diese Äußerungen durch die jüngste dümmliche Stellungnahme von Podolyak, dem Berater des ukrainischen Präsidenten, der das IOC beschuldigte, „promoter of war and destruction“ zu sein. Diese Art von ukrainischer Impertinenz betrifft nicht nur den Sport. Sie hat längst den gesamten kulturellen Sektor erfasst.
So schreibt in diesen Tagen der ukrainische Kulturminister Tkatschenko an die deutsche Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth, dass die ukrainische Seite weder die Zusammenarbeit mit Personen tolerieren werde, die die russische Kultur repräsentierten noch überhaupt Veranstaltungen, in denen russische Kultur zur Darstellung käme. Sehr zurecht schreibt daraufhin das Wiesbadener Staatstheater zu dieser Forderung des ukrainischen Kulturministers: Die Forderung, „die russische Kultur aus unseren Spielplänen ganz zu entfernen, kann für uns in einem freien Land nicht hinnehmbar sein“… „Wenn wir von ukrainischen Staatsbeamten aufgefordert werden, dass wir uns zwischen zwei Kulturen entscheiden sollten“, werde eine „falsche Alternative“ aufgemacht. „Wir haben uns klar gegen den Angriffskrieg von Putin und auch gegen das gesamte Handeln des Putin Regimes gestellt. Das kann aber keine Verurteilung aller russischen Menschen und aller russischen Kultur bedeuten. Kultur lebt immer von menschlichen Werten, die über den Nationen stehen“ (SZ 2.2.2023). Für den deutschen Sport könnte diese Antwort ein Vorbild sein. Er müsste lediglich das Wort „Kultur“ mit dem Wort „Sport“ ersetzen.
Die von der Ukraine geplante Kampagne gegen das IOC und die darin zum Ausdruck gebrachte Anmaßung, selbst das Management innerhalb des IOC zu verändern, muss als einer der gefährlichsten Angriffe gegen den modernen Olympismus, gegen den Anspruch auf Autonomie der olympischen Bewegung, gegen das Neutralitätsgebot und gegen den gesamten Olympischen Sport bewertet werden. Das IOC muss sich gegen diesen Angriff mit aller Entschiedenheit wehren. Die Vereinten Nationen sind aufgerufen, diesen Angriff zurückzuweisen und auch von den deutschen Sportorganisationen muss eine klare Antwort auf diese unerlaubte Intervention erwartet werden.
Was die Boykottdrohungen betrifft, so muss das NOK der Ukraine daran erinnert werden, dass die IOC- Regelungen zur Teilnahme von „Independent Olympic Athletes“ und die entsprechenden Zulassungsregeln mit Unterstützung der Ukraine bereits 2016 geändert wurden. Sollte das ukrainische NOK in Paris nicht an den Start gehen, so könnten – gemäß dieser Regeln – einzelne unabhängige Athletinnen und Athleten aus der Ukraine nicht daran gehindert werden, als Individuen an diesen Spielen teilzunehmen.
Dies gilt auch für alle weiteren NOKs, die sich mit dem Boykott solidarisieren. Es kann in diesem Zusammenhang keineswegs von einer „Lex Russland“ gesprochen werden.
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
Letzte Bearbeitung: 7.2.2023
Prof. Dr. Helmut Digel
Eberhard Karls Universität Tübingen
Institut für Sportwissenschaft
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