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Eine Studie zur Nachwuchsförderung im DLV – Von Dr. Wolfgang Blödorn
Vorbemerkung
Seit 2016 und in den Folgejahren wurde über die Neustrukturierung des Spitzensports (PotAS) diskutiert. Die Ergebnisse dieser Diskussion wurden erstmalig 2018 in den olympischen Wintersportdisziplinen durchgeführt.
Die PotAS-Analyse für die olympischen Sommersportdisziplinen wurde im Juni 2019 gestartet und wird die Grundlage für den Förderzeitraum von 2021 bis 2024, den Olympischen Spielen in Paris sein. Das heißt, für den Deutschen Leichtathletik Verband (DLV) hat die Zukunft von PotAS bereits begonnen.
Das Konzept zur Neustrukturierung des Leistungssports und der Spitzenförderung sieht u.a. Schwerpunkte im Bereich Kaderstruktur, Nachwuchsförderung und Trainersituation vor. Die damit verbundene Leistungsausrichtung und Erfolgsorientierung setzt voraus, dass „Athleten mit entsprechender Perspektive künftig zielgerichteter in den Fokus zu nehmen“.
Die Durchführung der Studie
Wie hat sich der DLV diesen Herausforderungen bisher gestellt? Dies soll beispielhaft an der Berufung in den NK1-Bundeskader für 800 m und 1500 m untersucht werden. Die in diesen Kader berufenen Athleten stellen sozusagen die internationale Zukunft des DLVs auf den Mittelstrecken dar. Insofern ist deren Leistungsprognose für den DLV zentral und von besonderer Bedeutung. Nicht nur, um in Zukunft am Medaillenfördertopf beteiligt zu sein, sondern auch um internationale Reputation zurückzugewinnen.
Die Nichterfüllung der Norm ist die Norm
Ausgangspunkt für die Berufung in den DLV-Bundeskader ist die Erfüllung einer Norm. In Ausnahmefällen können Athleten, welche die Norm nicht geschafft haben, auch mit einer schriftlichen Begründung durch den Bundestrainer vom DLV-Bundesausschuss Leistungssport berufen werden.
Die Tabelle 1 lässt keinen Zweifel: Die Mehrzahl der in den NK1 berufenen Athleten haben die vom DLV selbst aufgestellten Normen nicht erreicht! Insgesamt gesehen sind in den betrachteten Jahren 60 Prozent der NK-Athleten in den Bundeskader berufen worden, ohne die Norm zu erfüllen. Wobei die männlichen Kader jeweils schlechter abschnitten wie die weiblichen. Das schlechteste aller Ergebnisse haben die männlichen 800 m-Läufer aufzuweisen. Dreiviertel der NK1-Athleten sind ohne das Erreichen der Norm nominiert worden.
Tab. 1: Normerfüllung der Kaderrichtlinien im Mittelstreckenlauf in absoluten Zahlen der Kaderjahrgänge 2018/19 bis 2020/21
*Normerfüllung auch, wenn Normleistung 2018 um 1/10-Sekunde nicht erreicht wurde
Schwacher Aufstieg
Nun ist Normerfüllung im Sport nicht alles. Das Bauchgefühl und die Erfahrung von Bundestrainern muss ja nicht unbedingt schlechter für eine Auswahl in einen Bundeskader sein. Grundsätzlich gilt aber, dass Erfahrung im Leistungssport durch trainingswissenschaftliche Erkenntnisse gedeckt sein sollte.
Die Trainingswissenschaft bringt als Wissenschaft im Kontakt mit der Trainingspraxis eine Trainingslehre hervor, die sowohl wissenschaftlich Bewährtes, aber auch nicht bewährtes Wissen enthält. Die Trainingslehre ist auf jeden Fall aber empirisch verortet. Dadurch können Entscheidungen in der Sportförderung auch empirisch – wie mit Tabelle 1 und 2 geschehen – überprüft werden.
So wird in einem zweiten Schritt die Entwicklung der NK1-Kaderathleten in der Folgezeit (Tab. 2) untersucht. Hierzu wird überprüft, ob sich die NK1-Athleten in der Altersklasse – U23 bei den Aktiven und U20 in der U23-Klasse – über ihnen in der DLV-Bestenliste 2021 platzieren konnten. Dabei wurde eine Platzierung nach den ersten Fünf und den ersten Zehn differenziert. Als Minimalanspruch für NK1-Athleten sollte eine Platzierung unter den ersten Zehn in der jeweils höheren Altersklasse gelten dürfen.
Tab. 2: Platzierung des NK1-Bundeskaders im Mittelstreckenlauf von 2018/19 bis 2020/21 in der DLV-Bestenliste 2021 (Stand 29.08.2021)
Aus dem NK1 23-1500 m-Kader männlich sind zwei Läufer in der 800 m-Bestenliste der Aktiven vertreten. Aus dem NK1 20-1500 m Kader weiblich sin zwei Läuferinnen in der 800 m-Bestenliste der U23 vertreten.
Insgesamt gesehen hat nur jeder Vierte – 17 von 68 Athleten (Mehrfachnennungen sind möglich) – den Sprung unter die ersten Zehn der jeweils höheren Altersklasse geschafft. Besonders schlecht schnitt die wU23 über 1500 m mit keinem „Aufstieg“ ab. Ihr nur wenig nach steht die w20-Klasse mit einem „Aufstieg“ über 800 m. Betrachtet man die 800 m- und die 1500 m-Strecke getrennt, so stellt man fest, über die 1500 m-Distanz haben es mit sechs von 31 Athleten (19 Prozent) deutlich weniger Athleten geschafft wie auf der 800 m-Strecke mit elf von 37 Athleten (30 Prozent). Was kann eine mögliche Begründung für dieses wenig überzeugende Abschneiden der Nachwuchskader?
Exkurs: Wo sind sie geblieben?
Tab. 3: Verteilung des Alters beim Erzielen der persönlichen Bestleistung von ehemals U-Jahresbesten (Stand 08/2021)
1 Die Jahre 2017 bis 2021 wurden in dieser Ausstellung wegen des Nichterreichen des Alters von 22 Jahren noch nicht berücksichtigt
2 Die Jahresbesten fanden mit ihrer persönlichen Bestleistung jeweils nur einmal Berücksichtigung, selbst wenn sie in aufeinanderfolgenden Jahren U-Jahresbeste waren
Die Tabelle 3 veranschaulicht, 80 Prozent der Jahresbesten im Mittelstreckenlauf der U-Klassen haben ihre persönliche Bestleistung bereits im Alter von 22 Jahren oder jünger erzielt. Anders gesprochen: Nur jeder Zweite von Zehn hat seine Karriere im Aktivenalter relativ erfolgreich fortsetzen können. Das weitaus höchste genannte Alter beim Erreichen der persönlichen Bestleistung liegt bei 19 Jahren. Diese Daten sprechen nicht für eine nachhaltig angelegte Trainingsplanung des hoffnungsvollen Mittelstreckennachwuchses! Es entsteht der Eindruck, als hätten die Jahresbesten bereits sehr speziell für die entsprechende Distanz trainiert. Diesem durch anscheinend falsch organisiertes Nachwuchstraining Drop Out muss sich negativ in den internationalen Erfolgen der Aktivenklasse bemerkbar machen!
Ursachenklärung schafft eine bessere Zukunft
Wie bereits angeführt, kann man im Nachwuchstraining mit einiger Wahrscheinlichkeit eine zu frühe Spezialisierung auf eine Wettkampfstrecke annehmen. Dies könnte in der Folge zu einer zu geringen breiten Leistungsgrundlagenausbildung führen. Wie weit das Trainingsalter und die Trainingsinhalte bei der Kaderberufung eine Rolle gespielt haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Eine Kaderberufung lediglich auf der Grundlage der Ergebnisse bei Deutschen Meisterschaften entspricht m.E. allerdings nicht wissenschaftlichem Standard.
Im Zusammenhang mit einer abschließenden Erklärung der Berufungssituation in den NK1-Kader fehlen externen Beobachtern entsprechende Unterlagen. So liegt z.B. die schriftlichen Begründungen der Bundestrainer, weswegen Athleten ohne Norm in den NK1-Kader berufen wurden, nicht offen. Eine Überprüfung der wissenschaftlichen Tragfähigkeit der Beurteilungen der Bundestrainer – ein Leistungssportverband sollte sich an trainingswissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren – ist nur durch die Offenlegung der schriftlichen Begründungen möglich. Diese sollten von den entsprechenden Gremien eingesehen und überprüft werden.
Es bleiben zur Erklärung der Fakten in dieser Studie somit nur Spekulationen und Vermutungen. Eine Vermutung könnte in die Richtung gehen, dass Landesverbände bevorzugt behandelt wurden, um deren Bundesstützpunkte mit Kaderathleten aufzufüllen. Träfe diese Vermutung zu, läge sie nicht unbedingt im leistungssportlichen Denken, sondern wäre wohl mehr an persönlichen Interessen – wie begründet sie auch immer sein mögen – orientiert.
Eine weitere Vermutung – neben anderen – könnte in die Richtung verlaufen, Athleten wurden vor dem Hintergrund der anstehenden internationalen U-Meisterschaften berufen, um dort erfolgreich abzuschneiden. Für diese Vermutung spricht, dass in den Jahren von 2001 bis 2016 (vgl. Tab. 3) von den jeweils DLV-Jahresbesten der Altersdurchschnitt der persönlichen Bestleistung unter 20 Jahren liegt. Träfe diese bittere Vermutung zu, wären die Nachwuchsathleten instrumentalisiert worden. An eine denkbare Behinderung der sportlichen Karriere der jungen Läufer durch keinen sachgerechten, sondern instrumentalisierten Leistungsaufbau mag man gar nicht denken.
Unabhängig von den vermuteten Ursachen der schlechten Entwicklung des NK1-Kaders Mittelstrecke bleibt die Forderung nach der Überprüfung dieser Entwicklung. Noch läuft der PotAS-Förderzeitraum, um gegenzusteuern. Medaillen im U-Bereich lassen sich zwar gut öffentlich vermarkten, entscheidend für einen Leistungssportverband und seiner Leistungsfähigkeit sind allerdings die Medaillen im Aktivenbereich. Hieran muss sich der DLV messen lassen!
Trainingswissenschaft und Erfahrung
Bleibt zum Schluss dieser kleinen Studie die Frage, ob es eine Alternative zum „Bauchgefühl“ und der Erfahrung der Bundestrainer gibt. Die Antwort lautet: JA!
2014 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel, welcher sich mit der Situation im 1500 m-Lauf in Deutschland befasste. Auf der Grundlage von Koeffizienten der speziellen Ausdauer (KsA), wurde in diesem Artikel behauptet, dass fünf namentlich genannte hoffungsvolle DLV-Läufer nicht die Leistungsvoraussetzungen für internationale Erfolge besitzen. Bis heute wurde diese Leistungsprognose nicht falsifiziert – im Gegenteil!
Auch in den darauffolgenden Jahren wurden die DLV-Kaderathleten Mittelstrecke vom Autor dieser kurzen Studie einer entsprechenden Prognose unterzogen. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass kaum einer der PK-Kaderathleten über die entsprechenden Leistungsgrundlagen – im Wesentlichen der „Eintrittskarte“ auf der unteren Nebenstrecke als auch für die Perspektive auf der oberen Nebenstrecke – für größere internationale Erfolge verfügte. Das dem leider so ist, zeigte sich nicht zuletzt bei den Olympischen Spielen in Tokio in aller Klarheit.
2016 wurde die DLV-Spitze direkt über die Möglichkeiten dieser Prognoseerstellung auf der Grundlage von KsA-Werten informiert. Schließlich ist die Erhöhung von Aussagesicherheit u.a. ein Ziel von Wissenschaft, auch von Trainingswissenschaft! Es hat den Anschein, als würde der DLV die Nutzbarmachung empirisch abgesicherter Prognosemöglichkeiten für die Bundeskader unterlassen und/oder unterschätzen. Für die Leichtathletik in Deutschland und deren Athleten wäre dies bedauerlich und nicht wirklich nachvollziehbar.
Was tun?
Ein Paradigmenwechsel bei der Berufung in den Bundeskader erscheint vor dem Hintergrund dieser Studie nicht nur sinnvoll, sondern auch unabdingbar, wenn der DLV in Zukunft auf den Mittelstrecken wieder mehr Erfolg haben möchte. Hierzu kann auch eine Verbesserung der Möglichkeit von Leistungsprognosen für die Läufer beitragen. Eine transparente sowie offene und öffentliche Diskussion – auch z.B. via Links auf den DLV-Internetseiten – könnte sich im Diskurs zur Verbesserung der Situation der Leichtathletik in Deutschland als hilfreich erweisen. Den auch außerhalb des DLVs vorhandenen Sachverstand könnte man so nutzen.
Für die Heim-Europameisterschaften in München 2022 und die Olympischen Spiele 2024 in Paris dürfte der notwendig erscheinende Umbruch in der Förderung des Mittelstreckenkaders im DLV allerdings wohl zu spät sein.
Dennoch: Der DLV hat keine Zeit mehr zu verlieren, um international wieder dort zu stehen, wo er einmal war.
Man muss es nur anpacken wollen!
Dr. Wolfgang Blödorn
Der Beitrag „Bilanz der deutschen Leichtathletik bei den Olympischen Spielen Tokio 2020 – Kommentare zum Abschneiden des DLV-Teams von Horst Milde (GRR) und Dr. Wolfgang Blödorn“ hatte eine überraschend große und positive Resonanz bei Fachleuten und Fans der Leichtathletik gefunden – mit vielen positiven und anerkennenden Zuschriften, die wir ausschnittsweise auch publiziert haben.
Fühlen Sie sich bitte wieder angesprochen – wie auch nach den Worten von Dr. Blödorn (s.oben): „Den auch außerhalb des DLVs vorhandenen Sachverstand könnte man so nutzen“ – und schreiben Sie uns bitte Ihre Meinung, um die deutsche Leichtathletik wieder voran zu bringen.
Danke für Ihre Mithilfe.
Horst Milde
info@germanroadraces.de
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Lesenswertes aus Australien:
Bereits am 24. Juli 2021 konnte man in „The Australian“ lesen, dass die Vorsitzende der Australian Sports Commission Josephine Sukkar mit einem Appell in die Öffentlichkeit ging, der so auch dem von Tokio enttäuschten Deutschland guttun würde:
„Brisbane 2032 – Ein Grund für unsere Kids vom Ruhm auf heimischem Boden zu träumen, damit die australischen Kinder 2032 ihre Nation erfolgreich auf großer Bühne der Welt präsentieren können. Ziel ist auch, das wieder möglichst viele Kinder, auch über „Little Athletics“ im Laufen, Springen, Werfen und Gehen – je nach Alter – regelmäßig trainieren, in Vereinen Sport treiben.
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