Eine Anmaßung in 9,69 Sekunden Von Usain Bolts Gold-Lauf bleibt nicht nur die Weltrekordzeit von 9,69 Sekunden in Erinnerung – sondern auch die überhebliche Art und Weise, mit der er ihn gewann. Thomas Hahn, Peking, in der Süddeutschen Zeitung
Dieses Rennen war zu schnell, zu schnell, um es Usain Bolt glauben zu können, und er hatte es auch noch abgebrochen. In 9,69 Sekunden brachte der 21-jährige Jamaikaner das 100-Meter-Finale der Olympischen Spiele in Peking hinter sich, und verbesserte damit seinen eigenen Weltrekord von 9,72 um drei Hundertstelsekunden – im Grunde wie es angekündigt war.
Er rannte nicht wie ein normaler Mensch, das tat er nur die ersten siebzig Meter, danach drehte er sich zur Seite, sah, dass ihm niemand folgte, und breitete die Arme aus. Trotzdem stand diese viel zu sagenhafte Zeit, die 91.000 Zuschauer im Pekinger Nationalstadion in helle, unüberlegte Begeisterung versetzte. Richard Thompson aus Trinidad & Tobago wurde Zweiter in 9,89, Walter Dix aus den USA Dritter in 9,91. Bolts schneller Landsmann Asafa Powell verpatzte dieses Finale und erreichte Rang fünf (9,95). Tyson Gay, der Dreifach-Weltmeister aus den USA, war im Halbfinale ausgeschieden.
Aber was zählte das schon? Usain Bolt hatte alle verhöhnt, die redlich versuchen, Leichtathletik zu betreiben. Sein Rennen war eine Anmaßung. Usain Bolt trug seine Lässigkeit von der ersten Runde an durch dieses olympische Sprintturnier. Nach dem Finale gab er zu Protokoll, dass er gar nicht auf den Weltrekord geachtet habe. "Ich wollte nur Olympiasieger werden." Konkurrent Dix nannte die Demonstration "beeindruckend".
Es war lange Zeit nicht klar gewesen, ob Bolt die kurze Sprintstrecke überhaupt in Angriff nehmen würde oder nur seine Lieblingsstrecke, die 200 Meter. Denn Glen Mills, Bolts Trainer, zögerte, und weil Bolt sein sportliches Schicksal ganz in die Hände des jamaikanischen Nationalcoachs gegeben hat, musste er warten, bis der alte Mann sein Okay gab.
50 schnelle Meter reichen
Mills sagte, er wolle Bolts Chancen auf 200-Meter-Gold nicht schmälern durch den zehrenden Doppeleinsatz, aber der Verdacht war nicht ganz unbegründet, dass er die Entscheidung nur deshalb so lange vor sich herschob, weil er sich und seinen Jünger im Gespräch halten wollte. Die internationalen Medien behandelten die Bolt-Frage jedenfalls wie ein ausgewachsenes Sportpolitikum. Erst kurz vor der olympischen Eröffnungsfeier löste Glen Mills das Rätsel auf.
Bolt wirkte nicht, als hätte er Schonung nötig. In der ersten Runde trabte er locker zu 10,20 Sekunden, in der zweiten Runde wirkte er schon ernsthafter bemüht, bremste aber auch rechtzeitig ab. Dennoch: 9,92 Sekunden, die sechstschnellste Zeit dieses Jahres. "Ich bin einfach die ersten 50 Meter gelaufen, dann habe ich mich umgeschaut, um sicher zu gehen, dass ich sicher bin und habe einen Gang runtergeschaltet", sagte er.
Powell und Gay hatten auch keine Mühe, aber Bolts Tempo konnten sie nicht aufbringen. Powell lief 10,02 im Viertelfinale, Gay 10,09. Wobei gerade der Amerikaner nicht die gewohnte Spritzigkeit aufzubieten schien nach der Muskelverletzung, die er sich im Juli während der US-Meisterschaften in Eugene zugezogen hatte. Gay sagte: "Ich habe mich ziemlich entspannt gefühlt."
Ein guter Verlierer
Aber das war wohl nur vorgeschoben, denn das Halbfinale überstand er nicht mehr. Bolt rannte 9,85 Sekunden, wieder mit Blicken auf die Nebenleute, wieder mit gebremstem Finish. Powell kam auf 9,91, aber dahinter kämpfte Gay vergeblich. 10,05, Platz fünf. Diese olympischen Leichtathletik-Wettbewerbe hatten ihren ersten großen Verlierer.
Tyson Gay reckten sich Kameras und Mikrofone entgegen, als er den Interviewraum betrat. Er war gefasst, er arbeitete geduldig alle Fragen ab. Nein, sein Oberschenkel habe ihn nicht mehr behindert. "Es ist mir einfach passiert", sagte er, er habe einen guten Start gehabt, dann verkrampft, versucht, sich zu entspannen, was auch in der zweiten Hälfte des Rennens gelang – "aber ich glaube, das war zu spät". Tyson Gay sagte, nach der Verletzung habe er nicht genügend Zeit zum Formaufbau gehabt, dennoch: "Es gibt keine Entschuldigungen."
Tyson Gay erwies sich als guter Verlierer.
Thomas Hahn, Peking, in der Süddeutschen Zeitung, Sonnabend, dem 16. August 2008