Deutsche Sporthochschule Köln - Logo
Durch Bewegung Lebensqualität erarbeiten und erhalten – Deutsche Sporthochschule Köln
Bis ins hohe Alter gefordert sein, selbstbestimmt leben können, aktiv altern – so stellt sich Dr. Tim Fleiner das Altern vor. Das wünscht er sich persönlich und für die gesamte Gesellschaft.
„Jede*r sollte für sich selbst bestimmen, was erfolgreiches Altern heißt“, sagt der Wissenschaftler, der sich mit Sport und Bewegung im Alter an der Schnittstelle von Forschung und Praxis beschäftigt. Der 35-Jährige ist Physiotherapeut und Sportwissenschaftler und arbeitet zu gleichen Teilen am Institut für Bewegungs- und Sportgerontologie der Deutschen Sporthochschule Köln und in der Abteilung für Gerontopsychiatrie der LVR-Klinik Köln*.
Gemeinsam mit seinen Kolleg*innen verfolgt er das Ziel, bei über 65-jährigen Patient*innen mit psychischen Erkrankungen, insbesondere Depression, Demenz und akuten Verwirrtheitszuständen (Delir), mehr Wert auf die Bewegung in der Behandlung zu setzen.
Was Gesundheitsversorgung und Physiotherapie angeht, ist Tim Fleiner familiär vorbelastet. Teile seiner Familie arbeiten in einer eigenen Physiotherapiepraxis. Das Studium der Physiotherapie war für den heute 35-Jährigen somit vorgezeichnet. „Die Arbeit mit Älteren hat mich fasziniert. Denn: Da geht es wirklich um was!“. Was lag somit näher als eine akademische Vertiefung und Spezialisierung zu diesem Thema. Fleiner wechselte 2011 für den Master-Studiengang Sport- und Bewegungsgerontologie vom Bodensee an die Sporthochschule. „Als Physiotherapeut habe ich recht schnell erkannt, dass es mir wichtig ist, etwas bewirken zu können, und das ist mit Training im Alter definitiv der Fall.“ Mehrere Behandlungserfolge mit Älteren motivierten ihn für den eingeschlagenen Weg. Zum Beispiel erlebte er, dass strukturiertes Training Patient*innen hilft, ihren Tag-Nacht-Rhythmus zu verbessern, den so genannten zirkadianen Rhythmus. „Eine Patientin mit Demenzerkrankung hat nachts quasi gar nicht geschlafen, stand jede Stunde auf dem Flur, ist umhergewandert. Nach zwei Wochen intensivem Training in der Akutphase hat sie wieder zwei Nächte komplett durchgeschlafen – und zwar ohne zusätzliche Medikation. Das war für mich ein Aha-Erlebnis. Wir müssen Tagesstruktur durch Training vermitteln!“
Körperliches Training kann Klinikalltag strukturieren
Eine Erkenntnis, die nicht nur für die Patient*innen selbst von großer Bedeutung ist, sondern für die Krankenhausversorgung generell. Es geht um die Entlastung des Pflegepersonals, um die Flexibilisierung von Strukturen, um Krankenhauskosten, Kapazitäten, Nachsorge von Patient*innen. Körperliches Training könne dazu beitragen, den Klinikalltag zu strukturieren, ist Fleiner überzeugt. „Insbesondere ältere Menschen verbringen die Tage im Krankenhaus überwiegend sitzend und liegend. Körperliche Inaktivität ist sehr problematisch, denn der Verlust an Muskelkraft ist rasant. Weitere Krankenhausaufenthalte oder Erkrankungen sind oftmals die Folge – der so genannte Drehtüreneffekt oder das Posthospitalisierungssyndrom. Bei Patient*innen mit kognitiven Einschränkungen sehen wir darüber hinaus auch ein rastloses Umherwandern, worin wiederum eine besondere Herausforderung für das Klinikpersonal liegt“, skizziert Fleiner die Situation. Aufschlussreiches liefert dazu seine Promotion, im Rahmen derer Fleiner eine einjährige Interventionsstudie in der Abteilung Gerontopsychiatrie der LVR-Klinik Köln durchführte.
Patient*innen mit einer Demenzerkrankung sollten 150 Minuten pro Woche gezielt körperlich aktiv sein.
„Schnell war klar, dass wir über den Tag verteilt in Häppchen trainieren müssen. An drei Tagen die Woche haben wir also viermal täglich je 20 Minuten ein Ausdauertraining an Sitzergometern und ein Krafttraining mit Gewichtsmanschetten direkt auf der Station angeboten, zweimal vormittags, zweimal nachmittags. Der Großteil der Teilnehmer*innen hat dieses Pensum tatsächlich geschafft und wir konnten zeigen, dass diese Patient*innen ihre Symptome deutlich reduzieren konnten. Das heißt: Die Unruhezustände wurden weniger und in Einzelfällen wurde der Tag-Nacht-Rhythmus stabiler. Diese Effekte hatten wir bis dato in der Behandlung psychischer Erkrankungen im Alter so noch nicht gesehen“, erläutert Fleiner.
In Kliniken bzw. in der Gesundheitsversorgung herrschten häufig recht starre Strukturen. So sei etwa die Flexibilisierung des therapeutischen Alltags in seinen Augen entscheidend: „Häufig ballen sich Therapieangebote, Visite, Diagnostiken an den Vormittagen, nachmittags sind die Patient*innen sich selbst überlassen, abends und nachts ist der Personalschlüssel dann deutlich reduziert. Bei Patient*innen mit Demenzerkrankung etwa sehen wir, dass es gerade dann zu agitiertem Verhalten und auch Übergriffen kommt.“
„Das Setting in der Psychiatrie ist sehr echt“
Besonders wertvoll für Fleiners Forschungsarbeit ist die Kooperation zwischen dem Institut für Bewegungs- und Sportgerontologie und der LVR-Klinik Köln. Aus einem studentischen Nebenjob und einem Forschungspraktikum während seines eigenen Master-Studiums heraus entwickelte sich vor etwa zehn Jahren eine fruchtbare Zusammenarbeit. „Anfangs haben wir erste kleine Bewegungsangebote in den Tageskliniken etabliert, zum Beispiel den ‚bewegten Flur‘. Bilder an den Wänden sollen die Patient*innen anregen. Das gefiel der Klinik so gut, dass die Empfehlung ausgegeben wurde, in der Behandlung mehr auf körperliche Aktivität und gezieltes Training zu setzten.
Der Chefarzt der Gerontopsychiatrie, PD Dr. Peter Häussermann und der Leiter des Pflegedienstes, René Depiereux, unterstützen uns dabei sehr“, skizziert Fleiner die Anfänge der Kooperation. Mittlerweile setzt die heute sechsköpfige Forschungsgruppe „Gerontopsychiatrie in Bewegung“ auf Basis zweier Kooperationsverträge Forschungsprojekte und Lehrveranstaltungen um. Zu Beginn hätte Fleiner nicht gedacht, später mal in einer Psychiatrie zu arbeiten: „Das ist ein Setting, das sehr echt ist. Das reizt mich daran.“
Die Arbeit der Forschungsgruppe sei deutschlandweit einzigartig.
„In der täglichen Arbeit beider Institutionen macht uns aus, dass wir Ideen am Institut und Ideen in der Klinik haben und beides zusammenbringen, umsetzen und analysieren, was funktioniert und was nicht. Alle Berufsgruppen sind mit involviert.“ Diese Multiprofessionalität in der Klinik ist laut Fleiner „Herausforderung und Lohn zugleich“. Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Pflegende, Sozialarbeiter*innen, Physiotherapeut*innen, Ergotherapeut*innen, Logopäd*innen – alle ziehen an einem Strang. „Das ist unsere Herausforderung, aber am Ende ist es genau das, was zählt. Kommunikation ist hier das A und O!“, sagt Fleiner. Einer der Kernpunkte, den die Forschungsgruppe ihren Studierenden im Master-Studiengang Sport- und Bewegungsgerontologie vermittelt: Wie bringe ich in interdisziplinären Teams meine eigenen Ideen ein? Wie platziere ich meine Ideen so, dass etwas daraus entsteht?
Uni in der Klinik = Bewegung in der Klinik
In der Lehre ist es Fleiner wichtig, den Studierenden einen echten Praxiseinblick zu geben. Aus diesem Grund hat er die Lehrveranstaltung „Forschung in der klinischen Gesundheitsversorgung Älterer“ mitentwickelt. Ein ganzes Semester lang verbringen die Studierenden jeweils einen Tag pro Woche in der Klinik, werden dort Teil des Teams, nehmen an Besprechungen, Visite etc. teil. Zusätzlich lesen und diskutieren sie wissenschaftliche Studien, werden so „zu einem evidenzbasierten Denken und Handeln“ befähigt. Beim Expert*innengespräch mit Klinikbeschäftigten präsentieren die Studierenden eigens erarbeitete Konzepte für die Station.
„Viele unserer Absolvent*innen ergreifen einen Beruf im Gesundheitssystem.
Wir betreiben also quasi Werbung für das Berufsfeld. Die Lehrveranstaltung ist eine ideale Übung für den Berufsalltag. Die Studierenden sollen innovative Ideen entwickeln, Neues ausprobieren. Dabei sind schon tolle Sachen herausgekommen, die wir für den Klinikalltag übernehmen konnten“, sagt Fleiner.
Wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich aufbereiten und kommunizieren – darin sieht Fleiner eine Kernaufgabe für sich als Wissenschaftler. „Wissenschaftskommunikation ist ein ganz wesentlicher Teil meiner Arbeit, denn in meiner Funktion in der Klinik und an der Spoho kann ich gar nicht anders, als zu kommunizieren. In meinen Augen ist es unser Auftrag, Wissenschaft verständlich zu vermitteln und daher müssen wir diese Idee genauso unseren Studierenden vermitteln“, unterstreicht er. Daher hat Fleiner mit seinem Institutskollegen Dr. Tobias Morat eine hochschulinterne Forschungsförderung eingeworben, mit der eine Lehrveranstaltung zum Thema Wissenschaftskommunikation in den sozialen Medien finanziert wird. Unter dem Hashtag #FoL 2.0 wird forschendes Lernen mit Wissenschaftskommunikation kombiniert. Beim Nationalen Institut für Wissenschaftskommunikation (NaWik) lernen die Studierenden im ersten Semester die Grundlagen von Wissenschaftskommunikation kennen. Eine Interventionsstudie mit gesunden Älteren begleiten sie im zweiten Semester kommunikativ über die Social Media Kanäle. Im dritten Semester besteht die Aufgabe darin, einen sogenannten Graphical Abstract für Twitter zu erstellen, eine Grafik, welche die Inhalte eines Fachartikels verständlich darstellt. Auch Fleiner selbst postet regelmäßig auf seinem Twitter-Kanal und koordiniert innerhalb des Instituts Presseanfragen.
Das Interesse am Thema Bewegung im Klinikalltag wachse stetig, so der Wissenschaftler.
Den nächsten Schritt sieht er nun in der Personalisierung der Intervention: „Nicht nur Daten messen für unsere eigene wissenschaftliche Qualifikation, sondern für die Patient*innen, sie müssen konkret profitieren. Nur so können wir Forschung greifbar machen. Ich sehe unseren Auftrag darin, Älteren zu ermöglichen, möglichst lange zu Hause leben zu können. Bewegung auf Rezept? Ja! Aber wir müssen jetzt dahin kommen, Bewegung ganz gezielt anzuwenden. Denn man kann sich dadurch wirklich Lebensqualität erarbeiten und erhalten. Und das ist das, worum es uns gehen muss!“ Das wünscht sich der junge Wissenschaftler persönlich und für die gesamte Gesellschaft.
Die Bilder „LVR / Matthias Jung“ entstanden vor der Coronapandemie.
*Landschaftsverband Rheinland (LVR)
*Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) ist ein Kommunalverbund, d.h. ein Zusammenschluss von Kreisen und Städten in NRW. Er erfüllt Aufgaben in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und der Kultur. Dazu gehört auch ein Klinikverbund mit neun Fachkliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, eine davon in Köln. Der Hauptstandort ist in Köln-Merheim, Tageskliniken gibt es in Köln-Mülheim, Köln-Chorweiler und Köln-Bilderstöckchen.
Die LVR-Klinik Köln ist nach eigenen Angaben für die psychiatrische Versorgung von 600.000 Einwohner*innen Kölns zuständig. Mit 402 Betten, 140 Tagesklinik-Plätzen und Ambulanzen werden jährlich etwa 10.000 Patient*innen behandelt.
Quelle: Deutsche Sporthochschule Köln – Text: Julia Neuburg