Dritte im Speerwerfen – „Was geht denn hier ab?“ Von Michael Reinsch, Peking, im der Fran kfurter Allgemeien zeitung
Diesen Abend hatte sich Christina Obergföll anders vorgestellt: als ein Fest mit dem Olympiasieg des Chinesen Liu Xiang im Hürdensprint und 91.000 Besuchern im Vogelnest, mit mildem Wetter und natürlich mit dem ganz großen Wurf. Es wurde nichts daraus. Liu Xiang kam wegen seiner in ganz China betrauerten Verletzung nicht zur Verabredung.
Zudem regnete es. Und Christina Obergföll brachte den Speer nicht so zum Fliegen, wie sie es wollte. Nicht einmal Silber, wie bei den Weltmeisterschaften von Helsinki 2005 und Osaka 2007, konnte sie mit der Weite von 66,13 Meter gewinnen. Sie bekam die Bronzemedaille – und sie verlor auch den Europarekord (70,20 Meter). Aber um Mitternacht begann trotz allem ihr Geburtstag.
Das erste große Fest feierte Weltmeisterin Barbora Spotakova – und Christina Obergföll feierte mit. „Ich freue mich, dass sie im letzten Versuch noch 71 Meter geworfen hat“, sagte sie. „Ich hatte ihr noch einen treuen Blick zugeworfen, der sagen sollte: Mach du es, ich schaffe es heute nicht! Wir sehen uns seit ein, zwei Jahren bei Wettbewerben, wir gönnen uns den Erfolg.“
Die 26 Jahre alte Tschechin erreichte tatsächlich mit ihrem letzten Wurf 71,42 Meter, verdrängte die Russin Maria Abakumowa, die lange mit 70,78 Metern geführt hatte, und entriss ihr auch noch den kurz zuvor aufgestellten Europarekord. Zum Weltrekord der Kubanerin Osleidys Menendez (71,70) fehlten Barbora Spotakova, die mit 69,15 Metern auch die Jahresbestleistung bis Donnerstag hielt, nur 28 Zentimeter.
Für Steffi Nerius stimmt Platz fünf
„Ich kann froh sein, hier Bronze gewonnen zu haben“, sagte Christina Obergföll. „Ein Wettbewerb mit zwei Siebzig-Meter-Würfen ist der Wahnsinn.“ Bisher war der einzige solche Wettkampf das Finale der Weltmeisterschaften von Helsinki gewesen, als Christina Obergföll sich mit einem Siebzig-Meter-Wurf in der Weltspitze bekannt machte.
Damals wurde Osleidys Menendez vor der Newcomerin Christina Obergföll Weltmeisterin. Die Kubanerin kam diesmal mit nur einem gültigen Wurf von 63,35 Meter auf Platz sechs hinter Steffi Nerius (65,29 Meter). Die Leverkusenerin war mit sich und Olympia zufrieden: „Die Plazierung stimmt, die Weite stimmt.“ Katharina Molitor, die dritte deutsche Teilnehmerin im Finale, kam mit 59,64 Meter auf Platz acht.
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„Ich brauche das Publikum“
„Ich habe mich technisch wieder festgefahren“, klagte Christina Obergföll über den Donnerstag. „Da war der Stecker gezogen. Nach den siebzig Metern der Russin habe ich mich gefragt: Was geht hier ab?“ Im ersten Versuch war die 26 Jahre alte Offenburgerin auf 66,13 Meter gekommen. Besser wurde es für sie nicht. Das lag auch daran, dass die 91.000 Zuschauer nicht so mitmachten, wie die Europameisterin sich das vorgestellt hatte. „Ich bin ein emotionaler Typ, ich brauche das Publikum“, sagte sie. „Aber die Zuschauer hier sind unerfahren. Wenn ich sie aufgefordert hatte, mitzuklatschen, haben sie schon wieder aufgehört, bevor ich mit dem Anlauf fertig war.“
Nicht nur Christina Obergföll, praktisch alle Speerwerferinnen freuten sich mit Barbora Spotakova über deren Olympiasieg – oder vielmehr darüber, dass nicht die Aufsteigerin der Saison ihnen die Goldmedaille wegschnappte. Die Frage, ob das etwas mit den ständigen Steigerungen ihrer Bestleistung in dieser Saison zu tun habe, antwortete Christina Obergföll: „Ich weiß nicht, ob ich darauf antworten kann.“ Sie wies darauf hin, dass sie sich in Helsinki von 64 auf 70 Meter gesteigert habe. „Da wurde auch gemunkelt“, sagte sie. „Das tu ich nicht.“
Studentin mit technischen Schwierigkeiten
Das Misstrauen und die Erleichterung der gesamten Konkurrenz waren um so deutlicher. Die athletische, auffällig muskulöse Russin ist erst in diesem Jahr in die Weltspitze vorgestoßen. Sie steigerte ihre Bestleistung mehrmals, zuletzt im August auf 67,25 Meter, russischen Rekord, in Irkutsk – und warf nun in Peking mehr als drei Meter weiter.
Christina Obergföll erreichte im ersten Wurf 66,13 Meter. Zweimal warf sie den Speer danach aus der Zone, zwei Würfe machte sie ungültig, indem sie übertrat. Ihr zweiter gültiger Versuch ging auf 63,34 Meter. Schon im ganzen Jahr kämpft die Studentin mit technischen Schwierigkeiten. Trainer Werner Daniels schimpfte auf der Tribüne.
Von wegen: „Das Stadion wird vibrieren vor Spannung“
Während des Wettkampfes setzte starker Regen ein, Helfer versuchten, den Anlauf trocken zu bekommen. Die Olympiasiegerin aus Russland behinderte das nicht. Sie warf den Speer im Regen am weitesten.
Im Juli hatte sich Christina Obergföll den Vorabend ihres Geburtstags noch so vorgestellt: „Das Stadion wird vibrieren vor Spannung. Und wenn Liu Xiang startet, bin ich entweder immer noch auf der Ehrenrunde oder sitze irgendwo mit einer Decke über dem Kopf und heule.“ Nichts davon traf am Donnerstag ein.
Speerwerfen, Frauen
Gold: Barbora Spotakova (Tschechien) 71,42 m (ER / WJB)
Silber: Maria Abakumowa (Russland) 70,78
Bronze: Christina Obergföll (Offenburg) 66,13
4. Goldie Sayers (Großbritannien) 65,75; 5. Steffi Nerius (Leverkusen) 65,29; 6. Osleidys Menendez (Kuba) 63,35; 7. Barbara Madejczyk (Polen) 62,02; 8. Katharina Molitor (Leverkusen) 59,64
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 22. August 2008