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01
2022

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Die stille Katastrophe: Stellungnahme von Prof. Ulrich Hegerl zur Situation psychisch Erkrankter in der Pandemie – Stiftung Deutsche Depressionshilfe

By GRR 0

Corona-Maßnahmen führen bei hochgerechnet mehr als 2 Millionen depressiv Erkrankten zur Verschlechterung von Krankheitsverläufen – Psychiater Hegerl fordert eine systematischere Erfassung der Folgen der Corona-Maßnahmen

Leipzig, 12. Januar 2022 – Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hatte in der Sendung „hart aber fair“ am 10. Januar 2022 geäußert, dass nicht der Lockdown, sondern die Pandemie an sich verantwortlich für die Zunahme psychischer Störungen sei. So gebe es auch in Staaten mit weniger strengen Maßnahmen als in Deutschland mehr psychische Störungen. Der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Inhaber der Senckenberg-Professur an der Universität Frankfurt/M. Professor Dr. Ulrich Hegerl äußert sich dazu wie folgt:

„Aussagen zu psychischen Störungen allgemein sind schwierig, da wir es hier mit einem großen Bündel völlig unterschiedlicher Erkrankungen zu tun haben, die z. B. von Spinnenphobie, über Suchterkrankungen, Schizophrenie, Essstörungen bis zu Alzheimer-Demenz reichen. Bei einem Fokus auf die Erkrankung Depression, als häufigste und schwerste psychische Erkrankung, ist zu den Ausführungen Lauterbachs folgendes anzumerken:

Die Pandemie und die Gegen-Maßnahmen sind eine Quelle von Stress, Sorgen, gedrückter Stimmung und Ängsten. Dies sind jedoch zunächst nicht-krankhafte Reaktionen auf schwierige Lebenssituationen, die in der Regel auch nicht zu einer depressiven Erkrankung führen. Depressionen sind eigenständige Erkrankungen, die weniger von äußeren Belastungsfaktoren abhängig sind, als oftmals vermutet wird. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass die Pandemie und die Gegen-Maßnahmen zu einer drastischen Erhöhung der Depressionsraten führen. Von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe wurden vor und während der Pandemie im Rahmen einer Serie repräsentativer Bevölkerungsbefragungen jeweils mehr als 5.000 Erwachsene befragt. Die Ergebnisse bestätigen: der Anteil der Befragten, die angaben, dass bei ihnen bereits einmal eine Depression diagnostiziert worden sei, zeigte keine sehr deutliche Steigerung während der Pandemie (2017: 23 %, 2019: 21 %; 2020: 21 %, 2021: 23 %).

Ganz anders die Situation der über 5 Millionen Menschen, die jedes Jahr in Deutschland an einer behandlungsbedürftigen Depression leiden. Im September 2021 gaben im Deutschland-Barometer Depression von den sich in einer depressiven Krankheitsphase befindlichen Befragten 72 % an, dass sich in den letzten 6 Monaten ihre Erkrankung durch die Maßnahmen gegen Corona deutlich verschlechtert habe (Rückfall erlitten: 29 %, Suizidgedanken entwickelt: 20 %, Zunahme der Depressionsschwere: 35 %). Hochgerechnet betrifft dies mehr als 2 Millionen Menschen und in Anbetracht der Schwere dieser Erkrankung ist dies eine stille Katastrophe. Wie schwer die Erkrankung ist, zeigt sich daran, dass Menschen mit der Diagnose Depression im Schnitt knapp 10 Jahre weniger leben.

Zu der Frage, ob diese Verschlechterungen etwas mit den Maßnahmen gegen Corona zu tun haben, ist anzumerken, dass diese Verschlechterungen in einer signifikanten Beziehung zu folgenden Faktoren standen:

Qualitätsabnahme der medizinischen Versorgung, da stationäre Behandlungen abgesagt wurden, Ambulanzen das Angebot zurückfahren mussten, Facharzt- und Psychotherapietermine ausfielen oder Patienten aus Angst vor einer Ansteckung selbst Termine abgesagt haben (Quelle 1, 2, 3). So berichteten beispielsweise im September 2021 23 % der Betroffenen in einer depressiven Krankheitsphase von ausgefallenen Facharzt-Terminen, 17 % von ausgefallenen Terminen bei Psychotherapeuten und 18 % gaben an, gar keinen Termin zu bekommen. Insgesamt erlebten 48 % der Betroffenen in einer depressiven Phase eine Verschlechterung ihrer medizinischen Versorgung.

Der Rückzug in die eigenen vier Wände hat dazu geführt, dass die Mehrzahl der Menschen in einer depressiven Krankheitsphase sich weniger bewegten sich vermehrt ins Bett zurückzogen und Schwierigkeiten hatten, den Tag zu strukturieren, verbunden mit vermehrtem Grübeln.

Von diesen drei Faktoren ist gut bekannt, dass sie ganz spezifisch bei Depression den Krankheitsverlauf verschlechtern. Angemerkt sei nur, dass längerer Schlaf und längere Bettzeiten bei vielen Erkrankten depressionsverstärkend sind und Schlafentzug ein etabliertes, auf Depressionsstationen angebotenes Behandlungsverfahren ist. Sport ist eine unterstützende Maßnahme im Rahmen der Depressionsbehandlung. Hinsichtlich der Ansteckungsangst sind die Unterschiede zwischen der Allgemeinbevölkerung und depressiv Erkrankten dagegen nicht sehr groß (47 versus 53 %).

Fazit:

Diese Daten legen nahe, dass auch durch die Maßnahmen gegen Corona bei Depressionspatienten immenses Leid ausgelöst wurde. Dies wurde bisher nicht ausreichend berücksichtigt. Das systematische, prospektive und kontinuierliche Erfassen von Leid und Tod, die durch die Maßnahmen gegen Corona ausgelöst werden, ist Voraussetzung jeder Nutzen-Risiko-Bewertung derartiger Maßnahmen. Nur so kann die Sorge genommen werden, dass durch die Maßnahmen gegen Corona mehr Leid und Tod verursacht als verhindert werden und die Nutzen-Risiko-Relation optimiert werden. Die Daten zu depressiv Erkrankten sind in diesem Prozess nur ein Baustein. Die meist still leidenden Menschen mit Depressionen dürfen durch eine Blickverengung auf Covid-19 nicht unberücksichtigt bleiben.“
Quellen

Czaplicki, H. Reich, U. Hegerl (2021): Depression und COVID-19-Pandemie: Psychische Folgen und Auswirkung auf die Versorgungssituation. Psychotherapie im Dialog, 22:79-84
H. Reich, A. Czaplicki, C. Gravert, U. Hegerl (2021): Negative Effekte der COVID-19 Maßnahmen auf die Versorgung depressiv Erkrankter. Nervenarzt, doi.org/10.1007/s00115-021-01148-3
Deutschland-Barometer Depression 2021: www.deutsche-depressionshilfe.de/pressematerial-barometer-depression

Informations- und Hilfsangebote für Menschen mit Depression

Erste Ansprechpartner beim Verdacht auf Depression und Suizidgefährdung sind Hausärzte, Psychiater und Psychologische Psychotherapeuten (= Psychologen mit einer Spezialausbildung, die wie Ärzte über die Kasse abrechnen können) deutschlandweites Info-Telefon Depression 0800 33 44 5 33 (kostenfrei) Wissen, Selbsttest und Adressen rund um das Thema Depression unter www.deutsche-depressionshilfe.de fachlich moderiertes Online-Forum zum Erfahrungsaustausch www.diskussionsforum-depression.de für Angehörige: www.bapk.de und www.familiencoach-depression.de

Quelle: Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Heike Friedewald
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Goerdelerring 9, 04109 Leipzig
Tel: 0341/22 38 74 12
presse@deutsche-depressionshilfe.de
www.deutsche-depressionshilfe.de

Über die Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Ziel der 2008 gegründeten Stiftung Deutsche Depressionshilfe ist es, einen wesentlichen Beitrag zur besseren Versorgung depressiv erkrankter Menschen und zur Reduktion der Zahl der Suizide in Deutschland zu leisten. Vorstandsvorsitzender ist Prof. Dr. Ulrich Hegerl, der auch die Senckenberg-Professur an der Goethe Universität Frankfurt innehat. Die Schirmherrschaft hat der Entertainer und Schauspieler Harald Schmidt übernommen. Neben Forschungsaktivitäten bietet die Stiftung Betroffenen und Angehörigen vielfältige Informations- und Hilfsangebote wie das deutschlandweite Info-Telefon Depression (0800 33 44 5 33).

Unter dem Dach der Stiftung Deutsche Depressionshilfe koordiniert das Deutsche Bündnis gegen Depression zahlreiche lokale Maßnahmen: In über 87 Städten und Kommunen haben sich Bündnisse gebildet, die auf lokaler Ebene Aufklärung über die Erkrankung leisten.

author: GRR