Blog
24
01
2009

Die IAAF braucht medial verwertbare Stars, ohne die sie gegenüber anderen Verbänden an Boden verliert. Die aber besitzt sie nicht mehr im Übermaß, nachdem Michael Johnson und Maurice Greene in Rente gingen, Marion Jones ins Gefängnis wanderte und Justin Gatlin zuviel Testosteron naschte

Die Spaltung der Königsdisziplin – Folgerungen aus den Leichtathletik-Wettbewerben in Peking – Michael Gernandt in „Olympisches Feuer“

By GRR 0

Seit der Wiedereinführung Olympischer Spiele vor 112 Jahren ist die Leichtathletik stets das Zentrum der Athletenwettkämpfe gewesen. Die Faszination, die von der Darbietung der menschlichen Bewegungsformen ausgeht, Laufen, Springen, Werfen, erwies sich früh von scheinbar unendlicher Haltbarkeit.

Und wird das Wiedererkennungsmerkmal der Spiele nicht vorwiegend von Namen aus der Leichtathletik bestimmt; von Spiridon Louis (1896), Jim Thorpe (1912), Paavo Nurmi (1924), Jesse Owens (1936), Fanny Blankers-Koen (1948), Emil Zatopek (1952), Wilma Rudolph (1960), Bob Beamon (1968), Carl Lewis (1984), Cathy Freeman (2000) und – leider auch – von Florence Griffith-Joyner und Ben Johnson (1988)?

Folglich hat das IOC das diesem Sport angeheftete Etikett nie, weil vielleicht ungebührlich, verworfen: Königin der Spiele oder auch Königsdisziplin. Warum auch – angesichts der zusätzlich ökonomischen Qualität? Nirgendwo bei Olympia werden schließlich größere Zuschauerzahlen registriert.

All dies hatte auch in Peking durchaus seine Gültigkeit. Und doch waren die neun Leichtathletiktage im "Vogelnest" von nicht unerheblicher Andersartigkeit. Sie erfüllten wohl eine Menge Wünsche, aber nur jenen, die vorwiegend dem Plakativen zugeneigt sind, die den schönen Schein als wichtiger erachten als das reale Sein.

Bei genauerer Draufsicht konnte man erkennen, dass ein Zustand, der in jüngster Vergangenheit bereits als gefährlich erkannt worden war, eine Reaktionsbeschleunigung erfahren hat: Die Spaltung der Leichtathletik in Gläubige, die gern betrogen werden möchten, und Ungläubige, die sich der olympischen Apokalypse nahe wähnen, in trotzdem Interessierte und endgültig Desinteressierte. Es geht um die Frage, welchen Weg dieser Sport einschlagen muss, um den von der Dopingseuche verursachten Vertrauensschwund zu stoppen. Es steht die olympische Vorrangstellung auf dem Spiel.

An nichts lässt sich die breiter gewordene Kluft zwischen den Meinungen besser deuten als an der Person des dreifachen Sprintsiegers aus Jamaika, Usain Bolt, und an den Versuchen, diesen Athleten in einem Spektrum des Wahrgenommenen einzubringen.

Die Bandbreite changierte von "Jahrhundertgenie wie Einstein, Newton, Beethoven" (Jamaika-Coach Steven Francis) bis "kein Mensch mehr, sondern Halluzination" (Süddeutsche Zeitung). Sie nannten ihn Blitz-Bolt, weil er Zeitschranken niederriss, und Witz-Bolt ob seiner Mätzchen vor, während und nach seinen Läufen.

Über die kam es zu einer Kontroverse zwischen IOC-Präsident Rogge und dem Chef des Leichtathletik-Weltverbands IAAF, Diack. Sie streift einen Teilbereich des Problems: Wie soll der Sportkonsument umworben werden, mit als Entertainment verbrämter Faxenschneiderei oder seriösem Siegesjubel? Rogge ermahnte Bolt, im Sinn des olympischen Ideals seinen Rivalen mehr Respekt zu erweisen – ein Novum in der olympischen Geschichte. Diack widersprach:
"Bolt ist gut und groß für unseren Sport, er kann ihn voranbringen."

Die IAAF braucht medial verwertbare Stars, ohne die sie gegenüber anderen Verbänden an Boden verliert. Die aber besitzt sie nicht mehr im Übermaß, nachdem Michael Johnson und Maurice Greene in Rente gingen, Marion Jones ins Gefängnis wanderte und Justin Gatlin zuviel Testosteron naschte. Und die verbliebenen Protagonisten?

Die Schwedin Klüft machte den besten Platz im Zirkus frei, die Russin Isinbajewa langweilt mit ihren Rekorden, Äthiopiens Dauerläufer und -sieger Bekele scheut grelles Rampenlicht, und der spröde US-Sprinter Wariner kann plötzlich nicht mehr siegen. Da kommt Diack das "infantile Laufgenie" (FAZ) Bolt wie gerufen: als Speerspitze gegen das zunehmende Interesse an den Schwimmern.

Die haben einen wie den von Medaillenzählern umschwärmten Mike Phelps und deshalb bei manchem Massenmedium die größere Aufmerksamkeit. Der US-Sender NBC, wichtigster Finanzier des IOC, ließ, damit die Amerikaner ihren Phelps zur Prime Time in den USA live bewundern konnten, die Schwimmfinals auf 10.00 Uhr Pekingzeit vorverlegen. So viel Dreistigkeit war dem TV-Giganten die Leichtathletik, die er einst bevorzugt bediente, nicht mehr wert.

Auch in Deutschland wurde die Leichtathletik schon mal in die zweite Reihe gerückt: Als die einzige deutsche Goldanwärterin, Speerwerferin Christina Obergföll, in ihr Finale einstieg, zeigte die ARD ein Hockey-Halbfinale mit deutscher Beteiligung.

Einspruch, Mister President, auch bei einem weiteren Beitrag zur Spaltung: Diacks Vergleich zwischen Bolt und Carl Lewis. Des Jamaikaners drei Weltrekordläufe von Peking seien höher einzustufen als Lewis` Vierfachsieg von 1984. Begründung: Lewis habe in Los Angeles nur einen Rekord gebrochen! Um die Bemühungen des Antidopingkampfes um Mäßigung bei der Leistungsaufbereitung zu stützen, war nach Athen 2004 der Rekord aus dem Fadenkreuz genommen worden.

Indem Diack jetzt populistisch doch wieder dem Götzen Weltrekord huldigt (in Peking gab es fünf, 2004 in Athen zwei), untergräbt er den Einsatz der Dopingjäger und den Glaubensrestbestand der Fraktion der Zweifler. Deren Argwohn, der vor allem die Jamaikaner mit ihren seltsamen Leistungssprüngen trifft, artikulierten zwei meinungsbildende deutsche Zeitungen so:
"Nur ein einziges Argument spricht dagegen, dass diese übermenschliche Leistung ohne pharmazeutische Nachhilfe zustande kam, nämlich die Tatsache, dass es keinen positiven Dopingtest von Bolt gibt" (FAZ). Und etwas flockiger die SZ: "Mogelfest im Vogelnest".

Ob Bolts Abflug ins Außerirdische ein Segen war für die Leichtathletik und nicht eher eine weitere Belastung für ihre Glaubwürdigkeit ist, ob der Beach-Boy aus der Karibik also wirklich taugt als Vorbild, wird sich zeigen, wenn wieder Alltag einkehrt, die Medien der Leichtathletik wieder die kalte Schulter zeigen und der Sportfreund den Stadien fern bleibt, weil er sich auch andernorts veralbern lassen kann. "Ich bin sicher, dass sich die Leute vom Spitzensport abwenden", fürchtet eine Augenzeugin der Spiele, die Bundestagsabgeordnete und Vizepräsidentin des Deutschen Leichtathletik- Verbands, Dagmar Freitag.

Die Athleten ihres Verbands irrlichterten wie Gefangene des Zwiespalts durch das Vogelnest. Verschreckt zogen sie die Köpfe ein, als die globale Konkurrenz, der sie bei der WM 2007 noch selbstbewusst begegnet waren, an ihnen vorbei rauschte. Total verunsichert landeten sie schließlich im historischen Medaillentief (nur einmal Bronze für Speerwerferin Obergföll, immerhin aber 16 Finalplätze), und ließen ihren Frust zuerst an anderen aus. "Durchaus begründet" sei der Verdacht, dass "die Konkurrenz dopt, das wissen wir", wusste Chefbundestrainer Jürgen Mallow zu berichten, das mache es schwer, "mit 100 Prozent Sauberkeit, 100 Prozent Erfolg zu haben".

Der zweite Pfeil des DLV sollte den Deutschen Olympischen Sportbund treffen. Der gängele und bevormunde, sei "arrogant und hochnäsig" und unterstütze den DLV finanziell nicht zufriedenstellend. Deshalb "sind wir nicht konkurrenzfähig".

Eine gute Ausgangsposition für 2009 und die Weltmeisterschaft im eigenen Lande sieht anders aus. Nur wenn sie möglichst schnell Fehler auch bei sich suchen, aufhören, sich ablenken zu lassen durch die Diskussion um Doping, den Wahnsinn nicht noch weiter heranlassen an die Vernunft des moralischen Handelns, und wenn sie sich den Mut zum nicht manipulierten Erfolg bewahren, dann können selbst die in Peking geprügelten deutschen Leichtathleten in der Berliner WM-Woche einen wertvollen Beitrag leisten:

Zur Begrenzung der Spaltung der Sportart Leichtathletik.

Michael Gernandt in "Olympisches Feuer"

author: GRR

Comment
0

Leave a reply